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Neuausrichtung der SPD
Juso-Chef Kühnert: Müssen Hartz IV überwinden

In der SPD werde derzeit über eine Überwindung von Hartz IV diskutiert, sagte Juso-Chef Kevin Kühnert im Dlf. Was stattdessen kommen sollte, wolle die SPD spätestens im Januar sagen. Das werde dann auch das Thema im nächsten Wahlkampf sein. Er sei skeptisch, ob die Große Koalition noch das nächste Jahr überstehe.

Kevin Kühnert im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Kevin Kühnert, Juso-Vorsitzender, bei seiner Rede während des Ausserordentlichen SPD - Bundesparteitags im World Conference Center in Bonn, 21.01.2018.
    Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert glaubt nicht, dass die GroKo das nächste Jahr übersteht (imago)
    Tobias Armbrüster: Kevin Kühnert ist der Vorsitzende der Jusos und er war der entschiedenste Gegner einer Großen Koalition. Schönen guten Morgen, Herr Kühnert!
    Kevin Kühnert: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Wird jetzt alles besser bei der SPD?
    Kühnert: Na ja, das wäre jetzt vielleicht ein bisschen zu einfach. Aber das war schon ein Fingerzeig am Wochenende, wie Erneuerung aussehen kann und was eigentlich an Möglichkeiten in diesem Laden drinsteckt. Die SPD hat sich von einer Seite gezeigt am Wochenende, die ich aus dem Alltag des Parteilebens durchaus kenne, die aber durch die Niederungen des Regierungsgeschäfts viele Menschen nie mitbekommen von ihr. Insofern ist das, glaube ich, vor allem ein Hinweis an uns selbst gewesen, dass wir viel mehr können, als wir uns das manchmal einreden.
    "Hartz IV hinter uns lassen"
    Armbrüster: Man könnte auch sagen, das waren alles Forderungen, die wir seit Jahren aus bestimmten Zirkeln in der SPD immer wieder hören.
    Kühnert: Ja, Forderungen hört man natürlich in die Richtung regelmäßig. Dass das aber quasi einhellig so gesehen wird, das ist schon noch mal neu. Dass die Parteivorsitzende eine SPD-Veranstaltung eröffnet mit einer Rede, in der klipp und klar gesagt wird, nicht nur, dass wir Hartz IV hinter uns lassen, sondern dass eine Mindestsicherung nicht relativierbar sein kann in der Gesellschaft, dass Kinder bedingungslos unterstützt gehören und dass es nicht sein kann, dass wir 148 kindbezogene Leistungen haben und trotzdem zwei Millionen Kinder in Armut leben, und dass daraus dann auch Folgen abgeleitet werden müssen.
    Das, fand ich, waren deutliche Worte, und das führt mich an einen Punkt zu sagen, da brauche ich jetzt keine 23 Diskussionsrunden mehr, sondern daraus leite ich relativ einfach ab, was denn die Antwort auf das Überwinden von Hartz IV eigentlich sein soll.
    Armbrüster: Haben Sie den Eindruck, da hat Andrea Nahles etwas gelernt?
    Kühnert: Ja, aber nicht nur Andrea Nahles, sondern größere Teile der Partei haben was gelernt. Ich weiß natürlich, dass ich wie viele andere auch seit über einem halben Jahr angesprochen werde, was ist denn mit dem Erneuerungsprozess, passiert da noch was, und das war lange Zeit nach außen noch nicht genug sichtbar. Aber das heißt ja nicht, dass wir nicht gearbeitet haben. Ich habe mit meiner Lenkungsgruppe aus dem Erneuerungsprozess der SPD jetzt gerade am Samstagvormittag wieder zusammengesessen, wo wir drei Stunden einzig und allein über diese Hartz-IV-Frage diskutiert haben und was danach kommt.
    Da sitzen wir mit dem Chef der Bundesagentur für Arbeit genauso wie mit Betroffenenorganisationen zusammen und quälen uns durch die Materie durch. Natürlich sind das Erkenntnisse, die fließen auch in den politischen Prozess im Moment ein, und deswegen gehe ich auch davon aus, dass wir allerspätestens im Januar präsentieren können, wie wir uns das in Zukunft vorstellen, und das wird nicht mehr nach Hartz IV klingen und es wird auch nicht mehr Hartz IV sein.
    "Hartz IV hat diversen Menschen nicht gut getan hat"
    Armbrüster: Dieses Ende von Hartz IV, oder dass Hartz IV nicht besonders gut war für die SPD in den vergangenen Jahren, das haben wir tatsächlich schon häufiger gehört, auch in vielen Interviews und auch auf vielen offiziellen Parteitagen. Aber das müssen Sie uns jetzt erklären. Wie soll das dann tatsächlich gehen, Hartz IV hinter der SPD lassen?
    Kühnert: Der entscheidende Punkt ist nicht, dass es der SPD geschadet hat, sondern der entscheidende Punkt, wenn man das ernst meint mit einer Reform davon, oder einer Überwindung, der entscheidende Punkt ist, sich klarzumachen, dass es diversen Menschen nicht gut getan hat. Wir haben sechs Millionen Menschen im Hartz-IV-Bezug heute, und zwar bei weitem ja nicht nur Langzeit-Erwerbslose - die sind nur acht bis 900.000 davon -, sondern da sind Geflüchtete drin, die nach einer gewissen Zeit da reinkommen, da sind viele Kinder in Bedarfsgemeinschaften mit dabei, völlig unterschiedliche Zugänge, Aufstockerinnen und Aufstocker und so weiter.
    Klar ist für uns, Kinder gehören in dieses System auf keinen Fall rein. Die Diskussion geht durchaus auch in Richtung einer Kindergrundsicherung innerhalb der SPD, wo wir die kindbezogenen Leistungen zusammenführen und allen gleichermaßen zukommen lassen, auch Schluss mit Anrechnung von Kindergeld-Erhöhung auf den Hartz-IV-Regelsatz oder Ähnliches. Das ist die eine Sache.
    Die andere Frage ist die Anerkennung von Lebensleistung. Da nehme ich die größte Einhelligkeit in der SPD wahr, dass wir sowohl bei der Frage von Schonvermögen, ob ich mein Angespartes aufbrauchen muss, bevor ich Leistungen bekomme, heran müssen, aber vor allem auch bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, dass man nicht so schnell in Hartz IV fallen kann, wenn man lang gearbeitet hat. Das sind Konsenspunkte.
    Streit haben wir um die Frage von Sanktionen. Das wird irgendwann politisch geklärt werden müssen. Muss, kann eine Grundsicherung noch nach unten gekürzt werden? Ich persönlich finde nein, das steht diesem Begriff entgegen. Man kann auch mit Positivsanktionen arbeiten, dass Leute, die ihre Sachen geregelt kriegen und regelmäßig dort zu den Terminen erscheinen, dass die bei Zugängen zum sozialen Arbeitsmarkt mehr Wahlmöglichkeiten oder Ähnliches haben. Das finde ich eine Sache, über die sich reden lässt. Das sind die entscheidenden Punkte dieses Systems, über die wir da diskutieren.
    "Wir stellen uns auf für die nächsten Bundestagswahlen"
    Armbrüster: Herr Kühnert, da muss ich mal eine Zwischenfrage stellen oder eine Zwischenbemerkung machen. Sie werden das alles ja nicht durchkriegen in dieser aktuellen Bundesregierung, in dieser Großen Koalition mit der Union.
    Kühnert: Ja, genau! Das behauptet auch niemand, dass das funktionieren wird, sondern wir stellen uns auf für die nächsten Bundestagswahlen, wann immer die stattfinden werden, um dann klipp und klar ein Konzept anbieten zu können, wie wir es stattdessen machen möchten. Dann gehört natürlich zur Wahrheit dazu und das werde ich meiner Partei schon auch so sagen, wann immer diese nächste Bundestagswahl ist, man muss dann in einen Lagerwahlkampf im Prinzip auch reingehen, weil das kauft einem ja kein Mensch ab, dass das auch nach einer nächsten Bundestagswahl mit der Union zusammen zu bewältigen ist, so wie uns auch niemand abkaufen wird, dass wir den fünften Bundestagswahlkampf mit der Bürgerversicherung bestreiten, wenn man nicht klipp und klar sagt, dass man danach zusammen mit den Parteien regieren möchte, die offen sind für so eine Idee, und die Union gehört nicht dazu.
    Armbrüster: Das heißt, das Ende der Großen Koalition ist nach diesem Debattencamp nicht näher gerückt?
    Kühnert: Nein, darauf war es auch nicht ausgerichtet tatsächlich. Das ist jetzt ja kein Parteitag gewesen, der über einen Ausstieg aus einer Koalition abstimmt, und mit der Motivation bin ich da auch nicht hingefahren und tatsächlich haben auch die Kritiker der Großen Koalition in der SPD noch ein paar Platten mehr im Angebot als raus aus der Großen Koalition, sondern wir können uns auch mal zwei Tage nur über inhaltliche Fragen unterhalten. Die sind ja sinnvoll zu diskutieren, unabhängig davon, ob wir morgen mit Angela Merkel noch zusammen regieren müssen.
    Armbrüster: Aber dann können wir festhalten, da wurde jetzt diskutiert am Wochenende und jetzt geht es erst mal drei Jahre weiter so, wie schon vorher geplant?
    Kühnert: Ich würde mal prognostizieren, dass das nicht drei Jahre noch so weitergeht, und kenne auch herzlich wenig Menschen, die so viel Zeit noch für die Koalition einräumen.
    Armbrüster: Das heißt, wieviel Zeit geben Sie der Koalition noch?
    Kühnert: Na ja, ich habe jetzt keine Glaskugel, aus der ich lesen kann, aber wir schauen jetzt mal, welche Dynamiken nach dem CDU-Parteitag im Dezember entstehen. Als jemand, der das jetzt auch schon ein bisschen länger alles mitmacht und beobachtet: Das nächste Jahr ist voll mit Wahlen und politischen Entwicklungen, die größere Auswirkungen haben werden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir über dieses Jahr noch hinwegkommen werden. Das wird die Zeit zeigen und wir versuchen, uns völlig unabhängig davon vorzubereiten auf den Tag X, an dem neu gewählt wird, weil wir, glaube ich, eine Verpflichtung unseren Wählerinnen und Wählern gegenüber haben, dann mit einem Programm anzutreten, bei dem niemand mit der Lupe erst suchen muss, wo die Unterschiede zur Union und zu den anderen Mitbewerbern eigentlich genau sind.
    "Da brauche ich mich nicht von der Union an der Nase herumführen lassen"
    Armbrüster: Jetzt gibt es natürlich bei der Union viele, die sagen, Hartz IV war eine der besten Sachen, die in der deutschen Politik in den vergangenen 20 Jahren erfunden wurden. Es war sozusagen der Grundstein für das Wirtschaftswunder, das Deutschland seit vielen Jahren erlebt und um das Deutschland von vielen Ländern im Ausland beneidet wird. Wie wollen Sie gegen so eine Stimme, gegen so eine Meinung Wahlkampf machen?
    Kühnert: Das hat die Union ja seit Jahren auch immer gerne gemacht, weil sie natürlich wissen, dass sie uns damit auch gekitzelt haben mit dieser Argumentation. Der stillschweigende Konsens in dem Erneuerungsprozess der SPD, gerade auch zur Frage von Hartz IV, ist meiner Ansicht nach, dass wir nicht versuchen, die Debatte in der Vergangenheit zu gewinnen, was nicht heißt, dass man nicht auch darüber diskutieren muss, was gut und was schlecht gelaufen ist. Das ist überhaupt gar keine Frage. Aber man findet vor 15 Jahren nicht die Antworten auf die Fragen von heute.
    Wenn ich mir beispielsweise angucke, dass wir eine Million Menschen nahezu durchgängig im Hartz-IV-System haben, seit seiner Einführung bis heute, dann spricht das schon eine deutliche Sprache darüber, dass für zumindest diese eine Million Menschen das Prinzip Fördern und Fordern und seine Umsetzung in diesem System offensichtlich nicht besonders erfolgreich funktioniert hat. Eine Million Menschen ist keine geringe Zahl, sondern eine ganz erhebliche, und wenn wir das ernst meinen mit Teilhabe an der Gesellschaft für diese Menschen, dann werden wir denen nicht noch weitere 15 Jahren erklären können, dass das doch eigentlich alles ganz super ist, sondern wir werden uns mehr anstrengen müssen, Konzepte zu entwickeln, wie auch denen der Zugang zum Arbeitsmarkt, und sei es auch zu einem sozialen Arbeitsmarkt, gewährleistet werden kann. Da brauche ich mich nicht von der Union an der Nase herumführen lassen, sondern da reicht mir ein gesundes Welt- und Menschenbild und eine soziale Grundeinstellung, um zu dieser Einschätzung zu kommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.