Irene Geuer. Herr Mendel – bevor wir auf Ihre Arbeit zu sprechen kommen – wie bewerten Sie die jüngsten Demonstrationen und antisemitischen Parolen. Politisch Motiviert oder eher religiös
Meron Mendel: Sowohl als auch, würde ich sagen. Das ist auch keine große Überraschung. Wir haben schon im Sommer 2014 im Zuge des Gaza-Krieges etwas Ähnliches mitbekommen. Das heißt, es hat sich nicht etwas dramatisch geändert, sondern wir müssen uns auf einen neuen Zustand einstellen im Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern und auf die Auswirkungen auf das Zusammenleben hier in Deutschland zwischen Migranten, vor allem aus muslimischen und arabischen Ländern und Jüdinnen und Juden. Und das wird immer ein Zusammenspiel sein zwischen der religiösen Argumentation und der politischen Situation.
Geuer: Ist es denn so, wie manche es sagen, dass mit den vielen Flüchtlingen seit 2015 das Problem größer geworden ist?
Mendel: Das ist in der Tat ein Teil des Problems. Wir wissen, vor allem die Geflüchteten aus arabischen Ländern, vor allem aus Syrien und dem Irak, sind in einer Gesellschaft sozialisiert, wo Antisemitismus und Judenhass zur Staatsdoktrin gehören. Das heißt, diese Menschen müssen erst mal ganz neue Informationen bekommen und lernen, dass hier diese Fakten, die sie im Schulsystem dieser Länder gelernt haben, nicht zum Konsens gehören.
"Es geht darum, über den Nahostkonflikt aufzuklären"
Geuer: Das heißt, wie geht das konkret, wie geht Ihre Arbeit mit Jugendlichen, die eine solche Herkunft haben, wo in der Schule Antisemitismus unterrichtet wird?
Mendel: Es geht zum einen darum, über den Nahostkonflikt aufzuklären. Wir merken sehr oft, dass Lehrkräfte sehr viele Berührungsängste gegenüber dem Thema haben, und sie lassen oft die Verschwörungstheorien von Schülerinnen und Schülern einfach stehen. Wenn zum Beispiel behauptet wird, die Juden steckten hinter den Attentaten aufs World-Trade-Center oder der Mossad hinter dem IS. Dem wird nicht widersprochen, weil die Lehrkräfte nicht wissen, wie sie dagegen argumentieren können. Dasheißt, in unserer Arbeit geht es sehr viel darum, Aufklärungsarbeit zu betreiben. Zum einen geht es darum, Jugendliche zu sensibilisieren: Wo ist der Unterschied zwischen legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel oder im konkreten Fall legitimer Kritik an den Entscheidungen der amerikanischen Politik, und zum anderen, wo es übergeht, zu antisemitischen Weltbildern bis hin zu offenem Judenhass, den wir in den letzten Tagen nicht nur in Berlin erleben, sondern in ganz Deutschland und auch in Europa.
"Es gibt einfach sehr viel Unwissen, das da kursiert"
Geuer: Wie machen Sie das aber, ganz praktisch gesehen? Gehen Sie auf die Jugendlichen zu? Wie kommen Sie überhaupt an diese Jugendlichen, die Ihnen ja eigentlich den Rücken kehren?
Mendel: Zum einen wäre mir wichtig zu betonen, dass Antisemitismus nicht ein spezifisches Jugendproblem ist. Auf den Demonstrationen der letzten Tage und auch im Sommer 2014 waren durchaus sehr viele Erwachsene und alle Altersgruppen. Studien beweisen auch, dass Antisemitismus weit verbreitet ist, auch in der Mehrheitsgesellschaft und in allen Altersgruppen. Das heißt, die Arbeit beschränkt sich nicht auf die Arbeit nur mit Jugendlichen, sondern wir reden über eine Grundeinstellung, eine Arbeit gegen jegliche Form von Ungleichwertigkeitsideologien, die schon im Kita-Alter, im Kindergarten anfangen muss. Es geht weiter in Grundschulen, bis hin zu Schulen, wo wir auch direkt mit Jugendlichen arbeiten. Es gibt Workshops, die das Thema Diskriminierung zum Beispiel thematisieren. Und dann kommt bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Frage nach der eigenen Diskriminierung in der Gesellschaft vor, und zugleich auch die Frage des Antisemitismus als andere Form von Diskriminierung der Juden und Jüdinnen betrifft. Ich war am Montag in einer Schule, wo ich vor mehr als 200 Schülerinnen und Schülern gesprochen habe, und ich habe sie gefragt, wer von ihnen das Schimpfwort "Du Jude" benutzt. Und fast alle haben genickt, sie haben also bestätigt, dass das ein gängiges Schimpfwort ist. Und dann war die Frage, was meint ihr damit? Und dann sieht man, dass es nicht unbedingt eine gefestigte Ideologie, sondern es ist einfach aus Unwissenheit. Die meisten wissen gar nicht, was sind Juden, was ist der Unterschied zwischen Juden und Israelis? Es gibt einfach sehr viel Unwissen, das da kursiert, und das wird dann genutzt von denjenigen, die hetzen wollen.
"Habe eine Stimme von DITIB vermisst"
Geuer: Der Zentralrat der Juden fordert härtere Strafen. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie auf die Jugendlichen schauen?
Mendel: Ich denke, mit Strafen wird man auch nicht unbedingt sofort das Ziel erreichen, das man erreichen will. Es geht sehr viel um ein bestimmtes politisches Klima und nicht nur unbedingt um Gesetzgebung, sondern auch die Umsetzung der Gesetze. Ich gebe vielleicht zwei Beispiele: Gerade bei den Demonstrationen der letzten Tage gab es vom Zentralrat der Muslime in Deutschland eine klare Absage zu diesen Demonstrationen. Aber das ist ja eine kleinere Organisation. Eine Stimme, die ich persönlich sehr vermisst habe, ist die der großen muslimischen Verbände in Deutschland, von DITIB. Wir haben in den Demonstrationen sehr viele Türkei-Fahnen. Es waren in der Tat sehr viele türkisch-stämmige Menschen, die diese Demonstrationen auf den Straßen betrieben haben und antisemitische Parolen gerufen haben, die sich der DITIB zuordnen. Aber von diesem Verband gab es keine Verurteilung der Demonstrationen. Zum anderen denke ich, wir brauchen keine neuen Gesetze, sondern wir brauchen eine bessere Umsetzung der Gesetze. Anfang dieses Jahres gab es in Wuppertal ein Urteil des Landgerichts, wo ein Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge als nicht antisemitisch bezeichnet wurde und der Täter nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Auch hier sieht man diese Absurdität. Es gibt genug gesetzliche Grundlagen, um solche Attentäter zu verurteilen aufgrund dieser antisemitischen Straftaten. Aber das passiert leider viel zu wenig.
Geuer: So die Meinung von Meron Mendel - Leiter der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Mit ihm habe ich über seine Arbeit gegen Antisemitismus gesprochen.
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