Julika Stich ist 36 Jahre alt, sie wirkt aufgeschlossen und munter. Doch noch immer sucht sie nach dem roten Faden in ihrem Leben. Vielleicht eine neue Berufsausbildung? Ein abgebrochenes Studium und mehrere Psychotherapien hat sie bereits hinter sich. Das Drama ihres Lebens beginnt, da ist Julika sieben Jahre alt. Sie hilft ihrer an Multiplesklerose erkrankten Mutter aus dem Rollstuhl, hebt auf, was die Mutter fallen lässt.
"Größere Tätigkeiten, wie auch Intimpflege, so mit zehn. Ich kann das, doch, das kann ich so sagen, dass ich sie wirklich gewindelt habe. Hört sich jetzt ein bisschen absurd an, aber wie man halt ein kleines Kind windelt."
Ihr Vater ist berufstätig, sie hat keine Geschwister. Nur die Großmutter und eine Cousine helfen bei der Pflege. Ein Pflegedienst kommt erst ins Haus, da ist Julika bereits siebzehn. Als Zehnjährige fühlt sie sich verantwortlich für die MS-kranke Mutter. Das bedeutet, nachts immer wieder aufstehen, in Gedanken rund um die Uhr präsent sein. Die Stimmung zuhause beschreibt die junge Frau rückblickend als gereizt, aggressiv. Wir waren alle überfordert, erinnert sich Julika Stich und meint, dass ihre Lehrer nichts geahnt hätten. Manche Mitschüler hätten sich auch lustig gemacht.
"Also ein Mitschüler hat mal gesagt, "Also, der Rollstuhl von deiner Mutter steht nicht mehr da" und ich weiß nicht, ob er weiß, was er damit ausgelöst hat. Also ich hatte wahnsinnige Angst, so schnell bin ich noch nie nach Hause gerannt."
Das Kind Julika hat kaum Zeit für Freunde und Hobbies, sitzt oft müde in der Schule, wiederholt freiwillig eine Klasse. All das ist typisch, wenn Jugendliche mit der Pflege von Angehörigen überfordert sind. Noch heute spricht die junge Frau davon, dass sie nicht gewusst habe, was mit ihr los war. Ihre Mutter ist vor zehn Jahren gestorben. Auch die Großmutter und der Vater sind längst tot. Die 36-jährige holt immer wieder tief Luft, sieht aus dem Fenster, denkt lange nach, bevor sie weiter spricht.
Zwangsgedanken und Panik
"Ganz früher fing es an mit Zwangsgedanken, dass ich dachte, wenn ich das und das nicht mache, dann passiert meiner Mutter was. Das war ganz schlimm, da bin ich auch in der Jugendpsychiatrie vorstellig geworden. Panik, ständige Panik, diese Angst und später im Erwachsenenalter auch Ekel, also, dass ich gedacht habe, es ist alles dreckig."
Inzwischen lebt sie in ihrer selbst erklärten "Lieblingsstadt" Lübeck, doch die Ängste holen sie immer wieder ein.
"Meine Freunde sagen immer, du hast so eine schöne Wohnung und ich fühle mich so wohl bei dir und ich denke dann immer nur, oh nee, es ist alles dreckig. Das hat sich so geäußert. Das äußert sich leider heute noch, aber es ist besser geworden und es hilft auch darüber zu sprechen."
Genau das, hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Sie geht mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit, möchte weitergeben, was es bedeutet, sich schon als Kind um kranke Angehörige zu kümmern. Bei einer Fachtagung in Berlin trifft sie Gleichgesinnte. Darunter auch Sabine Metzing von der Universität Witten/Herdecke. Die Pflegewissenschaftlerin setzt sich seit Jahren für das "versteckte Thema" ein. Einige tausend Schüler bundesweit sind gerade erst für eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums befragt worden. Ergebnisse werden demnächst veröffentlicht. Eine erste Zahl verrät die Wissenschaftlerin vorab.
"Wir müssen das nochmal genau mit Zahlen vom statistischen Bundesamt vergleichen für die Altersgruppe 10 bis 19 Jahre, dann wären das knapp 480.000 und wir haben bislang immer so mit 230.000 gerechnet."
Dunkelziffer und Beratungsangebote
Die Zahl der Betroffenen hat sich also verdoppelt und die Dunkelziffer ist hoch. Doch es fehlt an Beratungsangeboten, dabei ist der Bedarf riesig. Dass viele Schulen sich der Studie verweigert haben, sei symptomatisch. Lehrer, Angehörige, Pflegepersonal würden allzu häufig wegsehen. In den Familien wiederum werde meist aus Scham und Scheu nicht über das Problem gesprochen, so die Erfahrung der Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing.
"Ja ich glaube, wir brauchen auch Projekte für pflegende Kinde und Jugendliche, die sie entlasten. Aber ich glaube, wir brauchen vor allem Projekte und Maßnahmen, die die Eltern unterstützen und soweit beraten, dass Kinder und Jugendliche gar nicht in die Situation kommen, zu pflegenden Kindern zu werden."
Die anonyme Online-Beratung "echt unersetzlich" sowie das neue Internetprojekt "Pausentaste" gefördert durch das Bundesfamilienministerium, sind ein Anfang, mehr nicht.