"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern."
Martin Heidegger zitiert 1969 in einem Fernsehinterview den wohl berühmtesten Satz von Karl Marx, die elfte der Thesen über Feuerbach aus dem Jahr 1845. Marx verabschiedet mit ihr die Philosophie und fordert stattdessen eine die Welt verändernde Praxis, also eine revolutionäre Aktion, um Unterdrückung, Ausbeutung und Elend zu beenden. Dem hält Heidegger entgegen:
"Dass eine Weltveränderung eine Änderung der Weltvorstellung voraussetzt und dass eine Weltvorstellung nur dadurch zu gewinnen ist, dass man die Welt zureichend interpretiert."
Ähnlich dreht Kurt Bayertz, der an der Uni Münster Philosophie lehrt, im Haupttitel seines neuen Buches "Interpretieren, um zu verändern" Marx‘ Perspektive um. Aber dabei geht es Bayertz nicht wie Heidegger darum, Marx‘ elfte Feuerbach-These zu widerlegen. Er unterstellt Marx vielmehr, dass dieser genau das Gegenteil von dem im Sinn hatte, was diese These aussagt. So schreibt Bayertz:
"Marx wollte die (soziale) Welt ja nicht nur interpretieren, sondern auch verändern: Er wollte sie interpretieren, um sie zu verändern."
Martin Heidegger zitiert 1969 in einem Fernsehinterview den wohl berühmtesten Satz von Karl Marx, die elfte der Thesen über Feuerbach aus dem Jahr 1845. Marx verabschiedet mit ihr die Philosophie und fordert stattdessen eine die Welt verändernde Praxis, also eine revolutionäre Aktion, um Unterdrückung, Ausbeutung und Elend zu beenden. Dem hält Heidegger entgegen:
"Dass eine Weltveränderung eine Änderung der Weltvorstellung voraussetzt und dass eine Weltvorstellung nur dadurch zu gewinnen ist, dass man die Welt zureichend interpretiert."
Ähnlich dreht Kurt Bayertz, der an der Uni Münster Philosophie lehrt, im Haupttitel seines neuen Buches "Interpretieren, um zu verändern" Marx‘ Perspektive um. Aber dabei geht es Bayertz nicht wie Heidegger darum, Marx‘ elfte Feuerbach-These zu widerlegen. Er unterstellt Marx vielmehr, dass dieser genau das Gegenteil von dem im Sinn hatte, was diese These aussagt. So schreibt Bayertz:
"Marx wollte die (soziale) Welt ja nicht nur interpretieren, sondern auch verändern: Er wollte sie interpretieren, um sie zu verändern."
Die anthropologische Begründung des historischen Materialismus
Damit greift Bayertz in die jahrzehntelangen Debatten um die Auslegung von Marx pointiert und an einer kritischen Stelle ein. Denn Marx‘ Werk wird von vielen Interpreten in ein philosophisches Frühwerk der 40er-Jahre und in sein ökonomisch wissenschaftliches Hauptwerk seit den späten 50er-Jahren unterteilt.
Das Frühwerk interpretiert die Ökonomie primär anthropologisch und geschichtsphilosophisch. In Abgrenzung zu Hegels idealistischer Philosophie, die der junge Marx studierte, entwickelt er dabei das, was man später den historischen Materialismus nennen wird. Dieser interpretiert die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen, die zwangsläufig in die soziale Revolution münden, was den Kapitalismus in den Sozialismus überführt. Für Bayertz beruht der historische Materialismus jedoch nicht primär auf historischen Studien, sondern auf einem Menschenbild, das Marx bereits 1844 entwickelt:
"Der Historische Materialismus steht und fällt mit seinem anthropologischen Fundament, das mindestens die drei folgenden Thesen umfasst: Der Mensch ist (a) ein soziales Wesen; (b) ein auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesenes Wesen; und (c) ein nach der Entfaltung seiner Fähigkeiten strebendes Wesen."
Daher ist der historische Materialismus primär philosophisch durch ein Bild vom Menschen als natürlichem Wesen geprägt, während die Geschichte die fortschreitende Naturbeherrschung bezeugt. Damit dreht Marx den von Hegel inspirierten Blickwinkel auf die Geschichte als Fortschritt von Recht und Freiheit nur um. Zugleich hält Marx an der Dialektik Hegels fest, wenn die Geschichte durch Konflikte und Kriege befeuert voranschreitet, sich das Weltgeschehen dialektisch durch Widersprüche und Gegensätze erklärt. Marx‘ Spätwerk analysiert dagegen den Kapitalismus primär ökonomisch und leitet daraus wissenschaftlich dessen bevorstehenden Zusammenbruch sowie den kommenden Sozialismus ab – so das weit verbreitete Verständnis. Bayertz fragt indes,…
"inwieweit sich Marx mit seiner ökonomischen Theorie von den philosophischen Gehalten des Historischen Materialismus emanzipiert hat."
Die Antwort lautet: gar nicht! Das ist die These, die Bayertz in seinem Buch auf vielfältige Weise zu untermauern versucht. Auch der späte Marx, der sich kaum noch für Philosophie interessiert, der die ökonomischen Klassiker liest und der in der Bibliothek in London jahrelang nach Material fahndet, um seine ökonomischen Thesen empirisch oder historisch zu untermauern, bleibt seiner philosophischen Herkunft verhaftet. Trotz seiner vielfältigen Aktivitäten im Bund der Kommunisten und in der Internationalen Arbeiterassoziation, später Erste Internationale genannt, interpretiert Marx primär die Welt und zwar mit der Hoffnung, sie zu verändern.
"Der Historische Materialismus steht und fällt mit seinem anthropologischen Fundament, das mindestens die drei folgenden Thesen umfasst: Der Mensch ist (a) ein soziales Wesen; (b) ein auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesenes Wesen; und (c) ein nach der Entfaltung seiner Fähigkeiten strebendes Wesen."
Daher ist der historische Materialismus primär philosophisch durch ein Bild vom Menschen als natürlichem Wesen geprägt, während die Geschichte die fortschreitende Naturbeherrschung bezeugt. Damit dreht Marx den von Hegel inspirierten Blickwinkel auf die Geschichte als Fortschritt von Recht und Freiheit nur um. Zugleich hält Marx an der Dialektik Hegels fest, wenn die Geschichte durch Konflikte und Kriege befeuert voranschreitet, sich das Weltgeschehen dialektisch durch Widersprüche und Gegensätze erklärt. Marx‘ Spätwerk analysiert dagegen den Kapitalismus primär ökonomisch und leitet daraus wissenschaftlich dessen bevorstehenden Zusammenbruch sowie den kommenden Sozialismus ab – so das weit verbreitete Verständnis. Bayertz fragt indes,…
"inwieweit sich Marx mit seiner ökonomischen Theorie von den philosophischen Gehalten des Historischen Materialismus emanzipiert hat."
Die Antwort lautet: gar nicht! Das ist die These, die Bayertz in seinem Buch auf vielfältige Weise zu untermauern versucht. Auch der späte Marx, der sich kaum noch für Philosophie interessiert, der die ökonomischen Klassiker liest und der in der Bibliothek in London jahrelang nach Material fahndet, um seine ökonomischen Thesen empirisch oder historisch zu untermauern, bleibt seiner philosophischen Herkunft verhaftet. Trotz seiner vielfältigen Aktivitäten im Bund der Kommunisten und in der Internationalen Arbeiterassoziation, später Erste Internationale genannt, interpretiert Marx primär die Welt und zwar mit der Hoffnung, sie zu verändern.
Das bestätigt auch Jürgen Neffe, Journalist und Autor von erfolgreichen Biografien über Darwin und Einstein, in seiner 2017 erschienen Marx-Biografie unter dem Titel "Marx – der Unvollendete".
"Von einem Bruch mit seinen Ideen als junger Autor, wie ihn orthodoxe Marxisten behaupten, die erst im 'Kapital' den wahren Marx erkennen wollen, kann keine Rede sein. (. . .) Humanist und Anthropologe gehen auf im Wissenschaftler, der nie aufhört, Philosoph zu sein, auch wenn er sich von der Philosophie losgesagt hat."
Allerdings interpretiert Neffe Marx als Visionär, der quasi die Finanzkrise von 2008 vorausgesehen hat. Die Verbindung zwischen Frühwerk und Spätwerk stellt seine Theorien nicht wie bei Bayertz infrage, sondern soll sie bestätigen. Marx hat für Neffe eben die richtige Interpretation der Wirklichkeit. Aber ein Menschenbild bleibt immer eines unter vielen möglichen, so kann es eine einzig richtige Interpretation gar nicht geben.
Allerdings interpretiert Neffe Marx als Visionär, der quasi die Finanzkrise von 2008 vorausgesehen hat. Die Verbindung zwischen Frühwerk und Spätwerk stellt seine Theorien nicht wie bei Bayertz infrage, sondern soll sie bestätigen. Marx hat für Neffe eben die richtige Interpretation der Wirklichkeit. Aber ein Menschenbild bleibt immer eines unter vielen möglichen, so kann es eine einzig richtige Interpretation gar nicht geben.
Trotzdem glänzt die Biografie von Neffe durch eine gelungene Interpretation des "Kapitals" sowie durch lebendige Schilderungen von Marx als Ehemann, Vater, auch eines unehelichen Sohnes mit dem Hausmädchen, als jemand der nicht mit Geld umgehen kann und der vor der Fahrt nach Hamburg zum Verleger des "Kapitals" erst seinen Mantel aus dem Pfandhaus freikaufen muss.
Die philosophische Uniterminierung der Ökonomie
Die Verbindung von Frühwerk und Spätwerk führt Kurt Bayertz anhand der zentralen ökonomischen Kategorien vor, die das Denken von Marx durchziehen, besonders die Begriffe ‚Produktivkräfte‘ und ‚Produktionsverhältnisse‘. Letztere stellen die jeweiligen Markt- und Eigentumsbedingungen dar: Beispielsweise braucht die industrielle Produktion einen freien Markt und das Privateigentum an den Produktionsmitteln, also den Kapitalismus. Die Produktionsverhältnisse verdanken sich für Marx daher den Produktivkräften, sodass man die Produktionsverhältnisse nicht frei wählen kann. Bayertz konstatiert:
"Diese Produktionsverhältnisse sind notwendig und vom Willen der Individuen unabhängig. Die Produktionsverhältnisse entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe der ‚Produktivkräfte‘."
Dabei verweist Bayertz auf einen Aspekt der Produktivkräfte, der in der Literatur zumeist übersehen wurde. Viele Interpreten verstehen darunter primär die jeweils historisch vorliegende Technik oder Technologie, also den Unterschied zwischen Windmühle und Wasserkraftwerk. Wenn man sich darauf konzentriert, scheint primär die technische Entwicklung bestimmte Produktionsverhältnisse zu benötigen, während die jeweils beteiligten Menschen so wirken, als wären sie dieser Entwicklung insgesamt relativ hilflos ausgeliefert. Dem widerspricht Bayertz:
"Obwohl Marx an vielen Stellen seines Werkes die wünschenswerte Klarheit über diesen Punkt vermissen lässt, kann festgehalten werden, dass der Ausdruck ‚Produktivkraft‘ sich bei ihm auf die Produktivkraft des Menschen bzw. seiner Arbeit bezieht. Der Ausdruck bezeichnet die menschliche Fähigkeit, unter Einsatz sämtlicher ihm zur Verfügung stehender materieller wie ideeller Mittel die Natur zu verändern. Es wäre daher verhängnisvoll, den Begriff auf seine im landläufigen Sinne ‚ökonomische‘ Seite, das heißt auf das Maß der Effektivität der Arbeit zu reduzieren."
Letzteres würde nämlich erleichtern, das Spätwerk von Marx als Ergebnis seiner wissenschaftlich ökonomischen Studien zu verstehen, das sein Frühwerk weitgehend hinter sich gelassen hat. Aber Marx geht es nach Bayertz nicht darum, die Ökonomie primär aus der Produktion von Gütern und Dienstleistungen heraus zu erklären, die auf dem Markt getauscht werden, womit Adam Smith ein Jahrhundert zuvor den Liberalismus begründete. Marx interessiert sich vielmehr für die damit verbundenen sozialen Verhältnisse. Dazu gehören die Menschen, was ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, auf das Marx im Spätwerk aber nicht mehr eingeht. So gelangt Bayertz zur These:
"Diese Produktionsverhältnisse sind notwendig und vom Willen der Individuen unabhängig. Die Produktionsverhältnisse entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe der ‚Produktivkräfte‘."
Dabei verweist Bayertz auf einen Aspekt der Produktivkräfte, der in der Literatur zumeist übersehen wurde. Viele Interpreten verstehen darunter primär die jeweils historisch vorliegende Technik oder Technologie, also den Unterschied zwischen Windmühle und Wasserkraftwerk. Wenn man sich darauf konzentriert, scheint primär die technische Entwicklung bestimmte Produktionsverhältnisse zu benötigen, während die jeweils beteiligten Menschen so wirken, als wären sie dieser Entwicklung insgesamt relativ hilflos ausgeliefert. Dem widerspricht Bayertz:
"Obwohl Marx an vielen Stellen seines Werkes die wünschenswerte Klarheit über diesen Punkt vermissen lässt, kann festgehalten werden, dass der Ausdruck ‚Produktivkraft‘ sich bei ihm auf die Produktivkraft des Menschen bzw. seiner Arbeit bezieht. Der Ausdruck bezeichnet die menschliche Fähigkeit, unter Einsatz sämtlicher ihm zur Verfügung stehender materieller wie ideeller Mittel die Natur zu verändern. Es wäre daher verhängnisvoll, den Begriff auf seine im landläufigen Sinne ‚ökonomische‘ Seite, das heißt auf das Maß der Effektivität der Arbeit zu reduzieren."
Letzteres würde nämlich erleichtern, das Spätwerk von Marx als Ergebnis seiner wissenschaftlich ökonomischen Studien zu verstehen, das sein Frühwerk weitgehend hinter sich gelassen hat. Aber Marx geht es nach Bayertz nicht darum, die Ökonomie primär aus der Produktion von Gütern und Dienstleistungen heraus zu erklären, die auf dem Markt getauscht werden, womit Adam Smith ein Jahrhundert zuvor den Liberalismus begründete. Marx interessiert sich vielmehr für die damit verbundenen sozialen Verhältnisse. Dazu gehören die Menschen, was ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, auf das Marx im Spätwerk aber nicht mehr eingeht. So gelangt Bayertz zur These:
"Durch die von ihm oft, von seinen Nachfolgern und Kritikern nahezu ausschließlich verwandte Abkürzung ‚Produktivkräfte‘ wird der anthropologische Hintergrund der Entwicklungsthese beinahe unkenntlich gemacht. (. . .) Entgegen dem, was in der Sekundärliteratur gelegentlich behauptet wird, hat Marx die anthropologischen Annahmen seiner frühen Jahre in späteren Werken durchaus nicht fallengelassen."
Marx versteht im Frühwerk den Menschen als ein arbeitendes Wesen. Denn er muss sein Leben dadurch meistern, dass er sich die Früchte der Natur aneignet und das mit einer wachsenden Intensität und Perfektion. In der produktiven Auseinandersetzung mit der Natur liegt im Frühwerk der Sinn des Lebens, sodass Marx zur These gelangt, dass dem zeitgenössische Arbeiter dieser Sinn geraubt wurde, wenn der Arbeiter durch seine Arbeit nur noch sein Überleben sichert. So formuliert Bayertz seine Kritik an der Marx-Rezeption:
"‘Produktivkraft der Arbeit‘ gehört daher zu den am häufigsten und gründlichsten fehlinterpretierten Begriffen der Marxschen Theorie."
Mit dem Begriff der Produktivkraft der Arbeit lässt Marx seine philosophischen Anfänge gerade nicht auf. Genauso wird er in seinem 1867 erschienen Hauptwerk "Das Kapital" im Stil der Dialektik von Hegel argumentieren. Nicht die rein wissenschaftliche Ökonomie prägt sein späteres Denken, sondern auch noch die Anthropologie und die Dialektik des Frühwerks. Bayertz will ja in seinem Buch, wie es der Untertitel "Karl Marx und seine Philosophie" propagiert, nicht allein den Philosophen Marx darstellen. Es geht ihm vielmehr darum, gerade Marx‘ ökonomisches Denken, sein häufig so bezeichnetes wissenschaftliches Vorgehen, auf seine philosophischen Interpretationen zurückzuführen. Bayertz schreibt:
Mit dem Begriff der Produktivkraft der Arbeit lässt Marx seine philosophischen Anfänge gerade nicht auf. Genauso wird er in seinem 1867 erschienen Hauptwerk "Das Kapital" im Stil der Dialektik von Hegel argumentieren. Nicht die rein wissenschaftliche Ökonomie prägt sein späteres Denken, sondern auch noch die Anthropologie und die Dialektik des Frühwerks. Bayertz will ja in seinem Buch, wie es der Untertitel "Karl Marx und seine Philosophie" propagiert, nicht allein den Philosophen Marx darstellen. Es geht ihm vielmehr darum, gerade Marx‘ ökonomisches Denken, sein häufig so bezeichnetes wissenschaftliches Vorgehen, auf seine philosophischen Interpretationen zurückzuführen. Bayertz schreibt:
"Man kann daher sagen, dass Marx auch dort noch philosophisch denkt, wo er die Philosophie am weitesten hinter sich gelassen zu haben glaubte."
Die Fragwürdigkeit von Marx‘ ökonomischen Prognosen
Das hat weitreichende Konsequenzen nicht nur für Marx‘ ökonomische Analysen, sondern relativiert die damit verbundenen revolutionären Hoffnungen. Letztlich bemüht sich Marx in seinem Spätwerk darum, die im Frühwerk geschichtsphilosophisch propagierte Perspektive einer unvermeidlich bevorstehenden sozialen Revolution rein ökonomisch zu begründen. Dazu dient vor allem Marx‘ Lehre vom tendenziellen Fall der Profitrate, wenn die wirtschaftliche Konkurrenz zu sinkenden Marktpreisen führt und damit auch zu sinkenden Renditen. Um dem zu begegnen, müssen immer produktivere Maschinen angeschafft werden, was Überproduktion und damit Absatzkrisen nach sich zieht. Nicht nur dass Bayertz wie viele andere das ‘Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate‘ bezweifelt:
"Auf den speziellen ökonomischen Gehalt dieses Gesetzes kommt es hier nicht an. Wichtig ist allein, dass es eine Niederganstendenz beschreiben und damit ‚den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise‘ bezeugen soll. Allerdings war Marx vorsichtig genug, auf ‚entgegenwirkende Ursachen‘ hinzuweisen, die das Gesetz zwar nicht aufheben, seine Wirkung aber ‚verlangsamen und teilweise paralysieren‘."
Somit hält das ‚Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate‘ nicht, was es verspricht: Es begründet keinen sicheren Untergang des Kapitalismus. Marx hat damit eine Krisentheorie entwickelt, aber keine Untergangstheorie. Dass Marx‘ Arbeiten an den geplanten Bänden zwei und drei des "Kapitals" in den letzten 15 Jahren seines Lebens nur schleppend vorangehen und unvollendet bleiben – Engels wird sie posthum aus den vorhandenen Skripten edieren –, das spiegelt Marx‘ Schwierigkeiten, zu einer rein ökonomischen Begründung des Untergangs des Kapitalismus zu gelangen. So beruht die Revolutionserwartung – das zeigt Bayertz – auch in Marx‘ Spätwerk auf den geschichtsphilosophischen Interpretationen des Frühwerks, die sich durch den Begriff der Produktivkraft der Arbeit anthropologisch unterfüttern:
"Wenn man es pathetisch mag: Was der Mensch ist, hängt von der Produktivkraft seiner Arbeit ab. (. . .) Wenn die Produktivkraft der Arbeit soundso beschaffen ist, dann werden die Individuen soundso beschaffene Produktionsverhältnisse eingehen. Das heißt (. . .) auch: Wenn sich die Produktivkraft der Arbeit ändert, ändern sich die Produktionsverhältnisse (. . .), stellt sich die Produktivkraft der Arbeit somit als die Triebkraft der Geschichte dar; damit gewinnt der Begriff eine geschichtsphilosophische Dimension."
Denn die Revolutionstheorie geht davon aus, dass sich Techniken und Technologien entwickelt haben, die sich im Rahmen der vorhandenen Produktionsverhältnisse nicht mehr entfalten können. Dann werden die alten Produktionsverhältnisse durch den Fortschritt der Produktivkräfte gesprengt. Doch das verdankt sich nach Bayertz eben nicht allein der technischen Entwicklung. So kann Bayertz konstatieren:
"Es handelt sich um eine in der menschlichen Natur liegende Tendenz, die sich über kurz oder lang Bahn bricht, wenn sie auf Widerstand stößt."
Aber selbst das erscheint Bayertz zweifelhaft. Man kann ja der technischen Entwicklung noch einen gewissen Automatismus attestieren, gar eine verselbstständigte Entwicklung, die der Mensch nicht aufzuhalten vermag.
Somit hält das ‚Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate‘ nicht, was es verspricht: Es begründet keinen sicheren Untergang des Kapitalismus. Marx hat damit eine Krisentheorie entwickelt, aber keine Untergangstheorie. Dass Marx‘ Arbeiten an den geplanten Bänden zwei und drei des "Kapitals" in den letzten 15 Jahren seines Lebens nur schleppend vorangehen und unvollendet bleiben – Engels wird sie posthum aus den vorhandenen Skripten edieren –, das spiegelt Marx‘ Schwierigkeiten, zu einer rein ökonomischen Begründung des Untergangs des Kapitalismus zu gelangen. So beruht die Revolutionserwartung – das zeigt Bayertz – auch in Marx‘ Spätwerk auf den geschichtsphilosophischen Interpretationen des Frühwerks, die sich durch den Begriff der Produktivkraft der Arbeit anthropologisch unterfüttern:
"Wenn man es pathetisch mag: Was der Mensch ist, hängt von der Produktivkraft seiner Arbeit ab. (. . .) Wenn die Produktivkraft der Arbeit soundso beschaffen ist, dann werden die Individuen soundso beschaffene Produktionsverhältnisse eingehen. Das heißt (. . .) auch: Wenn sich die Produktivkraft der Arbeit ändert, ändern sich die Produktionsverhältnisse (. . .), stellt sich die Produktivkraft der Arbeit somit als die Triebkraft der Geschichte dar; damit gewinnt der Begriff eine geschichtsphilosophische Dimension."
Denn die Revolutionstheorie geht davon aus, dass sich Techniken und Technologien entwickelt haben, die sich im Rahmen der vorhandenen Produktionsverhältnisse nicht mehr entfalten können. Dann werden die alten Produktionsverhältnisse durch den Fortschritt der Produktivkräfte gesprengt. Doch das verdankt sich nach Bayertz eben nicht allein der technischen Entwicklung. So kann Bayertz konstatieren:
"Es handelt sich um eine in der menschlichen Natur liegende Tendenz, die sich über kurz oder lang Bahn bricht, wenn sie auf Widerstand stößt."
Aber selbst das erscheint Bayertz zweifelhaft. Man kann ja der technischen Entwicklung noch einen gewissen Automatismus attestieren, gar eine verselbstständigte Entwicklung, die der Mensch nicht aufzuhalten vermag.
So erwartet der britische Fernsehjournalist Paul Mason 2015 in seinem Buch "Postkapitalismus", dass der Kapitalismus an der Informationstechnologie unvermeidlich zugrunde geht. Wenn aber die Menschen darin verwickelt sind, wenn sie die eigentlichen Produktivkräfte darstellen, dann ergeben sich auch gewisse Eingriffsmöglichkeiten. So kann Bayertz einwenden:
"Auch ist nicht ohne Weiteres einsehbar, warum diese Entwicklung unwiderstehlich sein soll (. . .)."
"Auch ist nicht ohne Weiteres einsehbar, warum diese Entwicklung unwiderstehlich sein soll (. . .)."
Abschied von der Revolution
Ähnlich sieht das Gereth Stedman Jones, Professor für Ideengeschichte in London, in "Karl Marx – Die Biografie" aus dem Jahr 2017. Er entwickelt Marx‘ Denken weniger aus den privaten Lebensbedingungen heraus wie Jürgen Neffe in seiner Biografie, sondern aus den Auseinandersetzungen mit Freunden, Konkurrenten und Gegnern. Das präsentiert sich zugleich als eine ideengeschichtliche Wanderung durch das europäische Denken im 19. Jahrhundert, bei der Marx nicht wie von Neffe als "Unvollendeter", sondern als gescheitert oder missverstanden betrachtet wird. So schreibt Stedman Jones:
"Sein ursprünglicher Ansatz war gescheitert, auch wenn er es nicht zugeben konnte. Er hatte es nicht vermocht, das 'Kapital' wie geplant als einen Organismus darzustellen, dessen unentwegte und unaufhaltsame, spiralförmig ausgreifende Entfaltung, ausgehend von unscheinbaren Anfängen in der Antike bis zur globalen Vormachtstellung, schon bald in einem Zusammenbruch münden würde."
"Sein ursprünglicher Ansatz war gescheitert, auch wenn er es nicht zugeben konnte. Er hatte es nicht vermocht, das 'Kapital' wie geplant als einen Organismus darzustellen, dessen unentwegte und unaufhaltsame, spiralförmig ausgreifende Entfaltung, ausgehend von unscheinbaren Anfängen in der Antike bis zur globalen Vormachtstellung, schon bald in einem Zusammenbruch münden würde."
Was das Spätwerk nach Stedman Jones nicht leistet, konnte das Frühwerk erst recht nicht schaffen. Denn es stand immer schon auf philosophischen Füßen. Es malt zwar im "Kommunistischen Manifest" von 1848 ein faszinierendes revolutionäres Szenario aus, was sich aber nicht um die exakte Beschreibung des historischen Geschehens handeln kann. Es ist eine Interpretation, die die Zukunft nicht vorauszusehen vermag sondern beschwört, die Gegenwart so skizziert, dass sie sich in Zukunft bitte entsprechend verändert. Aus der ‚Produktivkraft der Arbeit‘ folgt nicht eine einzige bestimmte, nämlich revolutionäre Entwicklung. Vielmehr bieten sich verschiedene Optionen an, auf die Bayertz hinweist:
"Aber warum sollte es sich dabei notwendigerweise um Revolutionen handeln? Wenn es richtig ist, dass die Produktivkraft der Arbeit unaufhaltsam wächst und wenn es weiter richtig ist, dass die Produktionsverhältnisse irgendwann zu ‚Fesseln‘ für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte werden, dann wäre ja auch eine evolutionäre Anpassung der einen an die Entwicklung der anderen vorstellbar."
"Aber warum sollte es sich dabei notwendigerweise um Revolutionen handeln? Wenn es richtig ist, dass die Produktivkraft der Arbeit unaufhaltsam wächst und wenn es weiter richtig ist, dass die Produktionsverhältnisse irgendwann zu ‚Fesseln‘ für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte werden, dann wäre ja auch eine evolutionäre Anpassung der einen an die Entwicklung der anderen vorstellbar."
Nach dem Scheitern der Revolutionen des Jahres 1848 erwartete Marx zunächst die baldige soziale Revolution. Als diese nicht eintrat, hoffte er auf einen großen europäischen Krieg, der in die Revolution münden würde. Doch 1871 endete der deutsch-französische Krieg mit dem Desaster der Pariser Commune. Ansonsten war von einer sozialen Revolution weit und breit nichts zu sehen. Andererseits erlebte Marx in England eine starke soziale Bewegung, die sich als Alternative zur Revolution zu entpuppen schien, wie Bayertz bemerkt:
"Unter dem Eindruck der politischen Verhältnisse Englands hat er diese Auffassung aber später modifiziert und die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus nicht mehr ausgeschlossen."
Und Stedman Jones weist beinahe etwas langatmig nach, dass Marx das traditionelle bäuerliche Gemeineigentum erst ablehnt, weil es nicht zum Fortschritt der Produktivkräfte passt. Doch in den letzten Lebensjahren lernt er, es zunehmend zu schätzen – ein ganz anderer Marx! Seine Prognose einer baldigen sozialen Revolution hatte zudem überraschende Nebeneffekte. Er selbst warnte Revolutionäre davor, die Revolution gewaltsam vom Zaun brechen zu wollen. Dafür müssten erst die Bedingungen eintreten, also der Kapitalismus in eine ernste Krise geraten. Die Sozialdemokraten um den Marx-Freund Wilhelm Liebknecht oder August Bebel durften sich nicht revolutionär gebärden, wären sie dann massiver staatlicher Repression ausgesetzt gewesen. Stattdessen konnten sie sich auf soziale Reformen konzentrieren in der Gewissheit, dass die große Krise des Kapitalismus eintreten und damit die Revolution von selbst kommen werde. Jonathan Sperber, Historiker an der Universität von Missouri, der seine Marx-Biografie aus dem Jahr 2013 "Karl Marx – Sein Leben und sein Jahrhundert" nach thematischen Schwerpunkten aufbaut, sieht denn in Marx eine Figur aus einer vergangenen Zeit:
"Das Bild von Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der hegelschen Philosophie, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie."
Doch wenn Kurt Bayertz recht hat und Marx die Welt interpretieren wollte, um sie zu verändern, erzielte er mit dieser Methode jedenfalls erstaunliche Erfolge. Er hat das Denken und die Welt nachhaltig verändert – ob wissenschaftlich begründend oder philosophisch interpretierend. Dann ist die folgende Empfehlung des postmodernen italienischen Philosophen Gianni Vattimo, ein Heideggerianer, gerade nicht das Gegenteil von Marx:
"Die Philosophen haben bis jetzt versucht, die Welt zu verändern, sie sollen anfangen, sie zu interpretieren – genau das Gegenteil als Marx."
"Unter dem Eindruck der politischen Verhältnisse Englands hat er diese Auffassung aber später modifiziert und die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus nicht mehr ausgeschlossen."
Und Stedman Jones weist beinahe etwas langatmig nach, dass Marx das traditionelle bäuerliche Gemeineigentum erst ablehnt, weil es nicht zum Fortschritt der Produktivkräfte passt. Doch in den letzten Lebensjahren lernt er, es zunehmend zu schätzen – ein ganz anderer Marx! Seine Prognose einer baldigen sozialen Revolution hatte zudem überraschende Nebeneffekte. Er selbst warnte Revolutionäre davor, die Revolution gewaltsam vom Zaun brechen zu wollen. Dafür müssten erst die Bedingungen eintreten, also der Kapitalismus in eine ernste Krise geraten. Die Sozialdemokraten um den Marx-Freund Wilhelm Liebknecht oder August Bebel durften sich nicht revolutionär gebärden, wären sie dann massiver staatlicher Repression ausgesetzt gewesen. Stattdessen konnten sie sich auf soziale Reformen konzentrieren in der Gewissheit, dass die große Krise des Kapitalismus eintreten und damit die Revolution von selbst kommen werde. Jonathan Sperber, Historiker an der Universität von Missouri, der seine Marx-Biografie aus dem Jahr 2013 "Karl Marx – Sein Leben und sein Jahrhundert" nach thematischen Schwerpunkten aufbaut, sieht denn in Marx eine Figur aus einer vergangenen Zeit:
"Das Bild von Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der hegelschen Philosophie, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie."
Doch wenn Kurt Bayertz recht hat und Marx die Welt interpretieren wollte, um sie zu verändern, erzielte er mit dieser Methode jedenfalls erstaunliche Erfolge. Er hat das Denken und die Welt nachhaltig verändert – ob wissenschaftlich begründend oder philosophisch interpretierend. Dann ist die folgende Empfehlung des postmodernen italienischen Philosophen Gianni Vattimo, ein Heideggerianer, gerade nicht das Gegenteil von Marx:
"Die Philosophen haben bis jetzt versucht, die Welt zu verändern, sie sollen anfangen, sie zu interpretieren – genau das Gegenteil als Marx."
Besprochene Bücher:
- Kurt Bayertz: "Interpretieren, um zu verändern – Karl Marx und seine Philosophie", München 2018, C.H. Beck, Gebunden, 272 S., 22,95 Euro
- Jürgen Neffe: "Marx – Der Unvollendete", München 2017, Bertelsmann, gebunden mit Schutzumschlag, zahlreiche Abbildungen, 656 S., 28 Euro
- !!Gereth Stedman Jones: "Karl Marx – Die Biografie", Frankfurt am Main 2017, S. Fischer, Hardcover, 891 S., 32 Euro
- Jonathan Sperber: "Karl Marx – Sein Leben und sein Jahrhundert", München 2013, C.H. Beck, Hardcover, 634 S., 29,95 Euro
Weitere Quellen:
- Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845), Marx Engels Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 7
- Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser, ZDF, 24.9.1969; in: "Antwort – Martin Heidegger im Gespräch", hg. v. Günther Neske, Emil Ketterung, Pfullingen 1988, S. 22; in: Martin Heidegger: "Von der Sache des Denkens. Vorträge, Reden und Gespräche", Hörverlag MC
- Gianni Vattimo, Gespräch am 7.11.1997 in Turin: in: Hans-Martin Schönherr-Mann "Utopia reloaded! Über Aufstieg, Fall und Wiedergeburt einer Idee", Radioessay, Redaktion und Regie: Barbara Schäfer, BR 1.7.2008 6‘‘