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Neue Erzählformen
Roman kriselt, Autofiktion blüht

Autofiktionale Schreibweisen werden auch in Deutschland immer populärer. Doch ein eigener publizistischer Ort sowohl für Briefe, Tagebücher als auch für Blogs und andere digitale Erzählformen fehle hierzulande bisher, sagte Marc Degens im Dlf. Er gibt eine neue Reihe für Autofiktionen heraus.

Marc Degens im Gespräch mit Miriam Zeh |
Marc Degens und das Buch von René Kemp: "Dich gibt’s nur dreimal für mich"
Mit kleinen gelben Heften wurde er bekannt: Der Berliner Independent-Verlag SUKULTUR unter Programmleiter Marc Degens startet mit "Sonnenbrand" eine neue Reihe für Autofiktionen (Foto: Martina Seber, Buchcover: Sukultur Verlag)
Die Autobiographie eines Schauspielers, einer Politikerin oder eines Schriftstellers lesen wir für gewöhnlich, um etwas über das Leben der Person zu erfahren. Dabei ist es so eine Sache mit der Autobiographie. Fehlt dem Autor nicht die Distanz, wenn Subjekt und Objekt des Schreibens zusammenfallen? Und kann sich der Schreibende überhaupt an alle Details aus seinem Leben erinnern?
Die Unzuverlässigkeit des autobiographischen Gedächtnis‘ thematisierte bereits Goethe in seiner Autobiographie "Dichtung und Wahrheit". Seitdem haben es ihm viele gleichgetan. Und seit der Jahrtausendwende taucht in der Autobiographie-Forschung noch ein weiterer Begriff auf, die Autofiktion. Im Berliner SUKULTUR-Verlag ist nun eine eigene Reihe für Autofiktionen gestartet.
Miriam Zeh: Herr Degens, Sie sind ihr Herausgeber. Was hat denn dieser Begriff der Autofiktion, was die Autobiographie nicht hat?
Marc Degens: Nach der Lexikondefinition ist Autofiktion eine Mischerzähltechnik, in der autobiographische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verwoben werden. Das ist eigentlich das Zusätzliche, was es unterscheidet von einer Autobiographie. Ich würde aber für unsere Reihe noch ein bisschen weitergehen, denn ich persönlich verstehe diesen Begriff umfanssender. Ich zähle dazu auch durchaus traditionelle Textgattungen wie Briefe oder Tagebücher, aber auch ganz neue Erzählformen wie etwa digitale, konzeptionelle Literatur.
Nicht-fiktionale und autofiktionale Textformen im Aufschwung
Zeh: Nun ist die Autofiktion – wenn wir zunächst bei ihrer Lexikondefinition bleiben – seit einigen Jahren eine überaus populäre Gattung. Der norwegische Autor Karl Uwe Knausgård wird in diesem Zusammenhang ständig genannt. In Deutschland hat etwa Isabelle Lehn zuletzt einen autofiktionalen Roman geschrieben, "Frühlingserwachen", über eine Schriftstellerin Namens Isabell Lehn. Es wird auch oft als Merkmal der Autofiktion genannt, dass die Hauptfigur so heißt wie die Autorin selbst. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum diese Gattung der Autofiktion gerade so beliebt ist?
Degens: Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass es im Moment einen gewissen Bedeutungsabfall bei klassisch-traditionellen Gattungen gibt, etwa dem Roman. Ich glaube, dass es da eine gewisse Krise gibt, die aus der Konkurrenz erwächst mit anderen, neuer Formen wie zum Beispiel Fernsehserien, Computerspielen, Rollenspielen, worauf sich die Autoren jetzt auf eine neuere Textform konzentrieren und sich rückbesinnen auf die Stärke der Literatur. Dadurch nähern viele Autoren diesen autofiktionalen Schreibweisen und deshalb haben auch in den letzten Jahren nicht-fiktionale Formen wie Essays, non-fiction, Memoirs oder auch Autofiktion eine Blüte erleben. Und ich persönlich finde, dass gerade im Bereich Autofiktion gerade sehr aufregende Texte entstehen. Das ist, glaube ich, ein Ergebnis dieser Hinwendung der Autoren.
Zeh: Warum brauch die Autofiktion eine eigene Reihe?
Degens: Das hat ein bisschen damit zu tun, dass ich glaube, dass es diese Reihen noch nicht gibt. Beziehungsweise vielleicht hat es auch mit der Definition zu tun, die ich am Anfang gesagt habe, die den Begriff erweitert und hinausgeht über die normale Lexikondefinition. Ich persönlich habe ja vier Jahre lang in Toronto gelebt und dort, gerade in der alternativen Literaturszene mitbekommen, in der "Alt Lit"-Bewegung, die vorrangig mit digitalen Schreibwerkzeugen entsteht, dass dort autofiktionale Techniken viel häufiger verwendet werden. Aus dem Bedürfnis heraus, dass es hier noch einen Ort gibt, den man schaffen kann in Deutschland, einen Ort, wo diese Texte dargestellt werden, aus diesem Grund haben wir diese SUKULTUR-Reihe gegründet.
Unterschiedliche Materialitäten, unterschiedliche Charakter
Zeh: Der erste Band der Reihe für Autofiktionen ist bereits erschienen. Er stammt vom 1982 geborenen Kölner Autor und Bildenden Künstler René Kemp: "Dich gibt’s nur dreimal für mich" heißt der Band. Als Leser folgen wir dem Ich-Erzähler von René Kemp durch die Jahre 2014 bis 2016. Und zwar folgen wir ihm bei ganz alltäglichen Dingen, beim Aufstehen und Kaffee Kochen, beim Zeitung lesen, Bücher lesen, dabei, wie er Bewerbungen schreibt für Stipendien und Preise. Und wir erfahren auch am Ende des Bandes, dass diesen Eintragungen, die jeweils mit einem Datum versehen sind, ein Blog zugrunde liegt, den der Autor selbst geschrieben hat. Warum musste aus diesem Blog jetzt ein Buch werden?
Degens: Ich glaube, dass Texte in unterschiedlicher Materialität andere Charaktere haben. Ich habe Rene Kemp persönlich als Maler kennengelernt, bin dann auf seinen Blog aufmerksam geworden und es war ein fast tägliches Blog, in dem er Politik und Kulturereignisse kommentiert hat, aber auch das Wetter. Und wenn ich das morgens nach dem Aufstehen auf meinem Smartphone gelesen habe, war es ein bisschen wie Zeitung lesen, also so eine Begleitung im Tag beziehungsweise war es eher ein Zeitungsartikel, den man dann immer neu gelesen hat. Mit der Zeit habe ich aber herausgefunden, dass da auch rote Fäden sichtbar werden und diese roten Fäden, dieses sehr Romanhafte wurde in der Auswahl dieses Bandes versucht zu betonen, also in der Auswahl und Zusammenstellung. Dadurch hat sich, glaube ich, ein ganz neuer Text daraus gebildet in dieser Buchform, der sehr starke romanhafte Züge hat.
Zeh: Nun könnte man aber einwenden, so ganz neu ist das Ganze nicht. Es gibt ja auch eine ganze Reihe von kanonischen Referenzen, die sich durch diesen Text ziehen. Zum Teil sind es vielleicht auch literarische Vorbilder. Rainald Goetz natürlich taucht auf mit Verweisen auf seine Blog-Projekte "Abfalls für Alle" oder "Klage". Auch Wolfgang Herrndorfs Internet-Tagebuch "Arbeit und Struktur" wird zitiert. Wie ordnet sich René Kemp hier ein in diese Tradition? Was ist neu an seiner Art des selbstreferenziellen und digitalen Schreibens?
Degens: Die beiden Referenzen, die sie genannt haben, sind auf jeden Fall richtig. Das sind Internet-Tagebücher gewesen, die auch die Gattung definiert haben. Was ich noch auffällig finde bei Rene Kemp beziehungsweise was jetzt auch nicht neu ist, aber was ich bemerkenswert finde, ist seine Beschreibungskraft und Wahrnehmungsschärfe, die da drin ist und die sich doch unterscheidet von vielen literarischen Online-Tagebüchern – viel gibt es ja auch gar nicht – oder von den klassischen Tagebüchern. Da spielt, glaube ich, eine große Rolle, dass Rene Kemp in erster Linie Maler ist. Und ich weiß nicht, woran es liegt, aber mir immer schon aufgefallen ist, dass Malerinnen oft sehr, sehr gute Schriftsteller sind. Ob es Unica Zürn ist, die mir einfällt, Martin Kippenberger, Werner Büttner,…
Zeh: Wolfgang Herrndorf haben wir ja auch schon genannt, der war auch Maler.
Degens: Ja, genau! Ich weiß nicht, woran es liegt, aber das ist etwas, das in dem Buch, glaube ich, sehr stark zum Tragen kommt.
Entscheidend ist, was nicht dokumentiert wird
Zeh: Herr Degens, Sie als Herausgeber und Verleger kommen auch vor in René Kemps Aufzeichnungen. Einmal wird beklagt, dass man sie schon längst habe besuchen wollen in Toronto. Einmal sitzen Sie in einer Eisdiele in Berlin-Hermsdorf und müssen erklären, wer Wolfgang Welt war. Wie fremd oder wie vertraut ist Ihnen diese literarische Version von sich?
Degens: Es ist immer etwas Besonderes, wenn man selber in literarischen Texten auftritt. Und das Besondere ist ja nicht nur das, was über einen geschrieben wird, sondern das, was weggelassen wird. Das habe ich schon öfter in Tagebuchaufzeichnungen von Kollegen gesehen und auch bei René Kemp. Es macht einfach deutlich, dass so etwas wie ein Tagebuch, dass sein dokumentarischer Charakter doch sehr durchbrochen wird durch diese fiktionale Ebene. Deshalb ist die Frage eigentlich: Inwieweit ist nicht auch jede Autobiographie eine Autofiktion?
Zeh: René Kemps Aufreibesysteme "Dich gibt’s nur dreimal für mich" sind nur der erste Band in Ihrer neuen Reihe für Autofiktionen. Wie geht es weiter?
Degens: Wir haben als nächsten Band geplant von Sarah Berger ein Buch mit dem Titel "Milchhonig". Sarah Berger ist eine Berliner Schriftstellerin – nein, ein Multitalent! Sie ist Fotografin, Schriftstellerin, feministische Philosophin und Performerin. Sie wurde bekannt – nein, nicht sie wurde bekannt, sondern die Social Media-Aktivitäten von milch_honig wurden bekannt. Das ist eine Kunstfigur. Und der nächste Band, den wir machen, ist quasi eine Autobiographie dieser Kunstfigur.
Zeh: Sind auch sowas wie programmatische Schriften geplant? Wenn Sie eine theoretische Erweiterung des Begriffs der Autofiktion planen, gibt es da auch Theorie-Pamphlete?
Degens: Ich halte auf jeden Fall Ausschau danach, aber es ist mir bisher noch nicht untergekommen. Und ich glaube auch, unsere Reihe ist ja – wie schon der Plural sagt - eine Reihe für Autofiktionen. Es würden also sehr viele unterschiedliche Pamphlete herauskommen, vielleicht für jeden Band ein eigenes.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
René Kemp: "Dich gibt's nur dreimal für mich. Aufreibesysteme"
SUKULTUR Verlag, Berlin, 112 Seiten, 18 Euro