Tobias Armbrüster: Die neue EU-Kommission - seit gestern Mittag wissen wir, wie sie aussehen soll, zumindest wie Ursula von der Leyen sich das alles vorstellt. Die Namen müssen ja noch vom EU-Parlament bestätigt werden. Fest steht: Da sind 27 Männer und Frauen.
Einige Namen kennen wir aus den vergangenen Jahren, andere sind neu dazugekommen. Und es gibt einige problematische Kandidaten. Wir haben das gerade auch schon in der Presseschau gehört. Viele haben sich gestern zum Beispiel gefragt, ob das gut ist, dass ein Italiener künftig das Wirtschaftsressort leiten soll, oder dass eine Tschechin über die Grundwerte der EU wachen wird.
Am Telefon ist jetzt Udo Bullmann. Er war bei der Europawahl einer der beiden Spitzenkandidaten der SPD und er ist im SPD-Parteivorstand zuständig für Europapolitik. Schönen guten Morgen!
Udo Bullmann: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Bullmann, kann diese Kommission mit Ihrer Unterstützung rechnen?
Bullmann: Wir müssen zunächst mal feststellen: Frau von der Leyen hat ein wenig diesen Stil fortgesetzt, den sie auch im Parlament schon angedeutet hat mit ihrer Rede kurz vor ihrer Wahl. Sie unternimmt den Versuch, es erst mal allen recht zu machen.
Die EVP bekommt ein starkes Budget-Ressort mit Herrn Hahn. Sie bekommt einen starken Vizepräsidenten mit dem Letten Dombrovskis, der für Wirtschaft und Finanzdienste zuständig ist.
Die Liberalen bekommen eine starke Frau Vestager als Wettbewerbs- und Digitalisierungskommissarin und auch die Sozialdemokraten erhalten Soziales und Beschäftigung und anderes mehr, was uns wichtig ist.
Aber was wir noch nicht wissen und was wir ergründen müssen in den Interviews auch jetzt in den Ausschüssen mit den Kommissarskandidatinnen und Kandidaten: Ist da eine klare Linie erkennbar? Gibt es da eine Handschrift der neuen Kommission?
Das wird für uns wichtig sein. Und jeder einzelne und jede einzelne wird natürlich auch geprüft werden: Ist die persönliche Eignung da? Ist die fachliche Eignung da? Das wollen wir wissen.
"Es ist schon eine Provokation von Herrn Orbán"
Armbrüster: Wo haben Sie da die größten Zweifel?
Bullmann: Na ja. Es ist schon eine Provokation von Herrn Orbán, uns ausgerechnet einen Hardliner aus Ungarn zu schicken mit Laszlo Trocsanyi. Er war Justizminister, er war der Architekt des illiberalen Staates. Er hat das Gesetz eingebracht zur Unterdrückung von Nichtregierungsorgganisationen in Ungarn. Er ist derjenige, der maßgeblich verantwortlich ist, dass die Europäische Universität Budapest verlassen musste.
Und ich frage mich schon, ob ein solcher Kandidat der richtige ist, für Nachbarschaft und Erweiterung zuständig zu sein und jetzt diejenigen zu prüfen auf ihre Grundwerte-Orientierung, die der Europäischen Union beitreten wollen. Das muss Frau von der Leyen uns erklären.
Armbrüster: Jetzt haben Sie gesagt, das ist eine Provokation von Viktor Orbán. Es ist eigentlich eine Provokation von Frau von der Leyen.
Bullmann: Frau von der Leyen ist verantwortlich für den Vorschlag, den sie macht. Ich kann mich an Jean-Claude Junckers Aussage erinnern. Er hat dem Parlament gesagt, er hat mehrere Kandidaten zurückgeschickt, die ihm aus den Mitgliedsstaaten unterbreitet worden sind vor fünf Jahren. Die haben gar nicht das Licht des Tages gesehen. Nun muss Frau von der Leyen uns erklären, wie das zustande kommt.
Armbrüster: Glauben Sie, dass Ursula von der Leyen dieses Rückgrat hat?
Bullmann: Das werden wir testen. Sie ist verantwortlich für die Kommission. Sie wollte Kommissionspräsidentin werden. Und sie muss Rückgrat zeigen. Wie will sie sonst fünf Jahre durchstehen?
Wir waren ja immer skeptisch, dass jemand, der nicht Spitzenkandidatin oder Kandidat war, dass jemand, der geboren ist aus der Gnade der Staats- und Regierungschefs, den Freiraum nicht haben wird, Europa zu regieren. Das muss sie jetzt unter Beweis stellen.
"Da sind viele Fragezeichen hinter"
Armbrüster: Herr Bullmann, Sie haben anfangs unseres Gesprächs gesagt, dass Sie da eine Handschrift erwarten von dieser neuen EU-Kommission, eine Handschrift, die sich da zeigen müsste. Was genau stellen Sie sich da vor? Wie kann das sein, dass 27 höchst unterschiedliche Frauen und Männer mit einer Linie sprechen?
Bullmann: Das ist zum einen sicherlich eine Frage der großen Zahl, aber zum anderen auch eine Frage der Haltung. Jean-Claude Juncker – man kann vieles kritisieren an der letzten Kommission – war und ist ein großer Europäer, der sich nicht gedrückt hat, auch die heißen Eisen anzufassen.
Es gibt zwei große Themen, wo er nicht durchgängig erfolgreich sein konnte, weil er geblockt wurde durch die Mitgliedsstaaten. Das eine ist Migration. Das muss aber dringend angepackt werden. Wir brauchen eine europäische Handschrift in den Wanderungsbewegungen auf dieser Welt, die ja nicht aufhören werden.
Wenn ich mir das Portfolio-System angucke: Ich weiß gar nicht, wo das Thema untergebracht ist. Es gibt es nicht in den Überschriften. Wenn wir genauer schauen, dann ist Margaritis Schinas, der Grieche aus der Europäischen Volkspartei zuständig für einen Dossier-Bereich Sicherheit und Migration. Das nennt sich im Englischen Protecting our european way of life. Aber was heißt das denn? Da sind viele Fragezeichen hinter.
Armbrüster: Dieses Ressort, Herr Bullmann, jetzt gerade immer übersetzt mit dem Satz "schützen, was Europa ausmacht". So wird, wohl gemerkt, ein Ressort eines künftigen EU-Kommissars überschrieben mit dem Titel "schützen, was Europa ausmacht". Welchen Sinn machen solche Titel eigentlich?
Bullmann: Feuilletonistisch ganz interessant, aber wenig aussagekräftig, und wir wissen nicht, was wird Migrationspolitik der Europäischen Union. Das gleiche gilt für die Rechtsstaatsfrage. Timmermans war ein starker Vizepräsident, der sich bewusst angelegt hat mit den Ländern, wo es massive Rechtsstaatsverletzungen gegeben hat – in Polen im Justizsystem, in Ungarn, wie wir bereits besprochen haben.
Ich finde den Begriff Rechtsstaat oder Rule of Law nirgendwo in dem Dossier-Bereich. Es gibt offenbar Herrn Reynders, der für Justiz zuständig ist. Es gibt Frau Jurova aus Tschechien, die damit auch was zu tun bekommt. Ich glaube, da gibt es Zersplitterung als Methode, und das, meine ich, geht nicht. Es muss eine Handschrift her, über die man reden kann, über die man dann auch politisch streiten kann und für die man oder gegen die man sich entscheiden kann.
"27 Kommissare? - Aus dem Dilemma müssen wir herausfinden"
Armbrüster: Oder könnte es sein, Herr Bullmann, dass sich hier in diesen Überschriften und in dieser Ausrichtung dieser Kommission schon deutlich bemerkbar macht der politische Umschwung, den wir in Europa in den vergangenen Jahren erlebt haben, dass Ursula von der Leyen hier zugehen will auf Populisten und EU-Gegner?
Bullmann: Ich glaube, dass wir ein Stück weit auch die Auswirkungen dessen sehen, dass diese neue Konstellation nicht im Parlament geboren wurde. Im Parlament streitet man, aber im Parlament findet man auch Mehrheiten. Und in gewisser Weise ist die Auswahl einer Person, die jetzt nicht eine Parlamentsfigur ist, die nicht Spitzenkandidatin war, schon ein Rückschritt für die Europäische Union.
Die Staats- und Regierungschefs haben diesen Fehler gemacht, uns diesen Vorschlag zu unterbreiten. Wir waren davon nicht überzeugt. Trotzdem müssen wir jetzt konstruktiv versuchen, daraus eine anständige Legislaturperiode zu machen. Aber die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament werden dafür kämpfen, dass es Antworten gibt, die die Menschen verstehen und mit denen wir was anfangen können. Nur Überschriften zu kleben und nette feuilletonistische Ansagen zu machen, das wird der Bevölkerung in Europa nicht reichen.
Armbrüster: Herr Bullmann, warum braucht die EU überhaupt noch ganze 27 Kommissare?
Bullmann: Ich brauche sie nicht. Ich könnte mit deutlich weniger umgehen. Aber hier zeigt sich ein Stück weit die Tendenz der Mitgliedsstaaten, auf der einen Seite zu sagen, Europa muss alle die Probleme lösen, die wir alleine nicht mehr lösen können. Auf der anderen Seite geben wir nichts auf und sind weiter selbstsüchtig genug, auf jeden Fall einen Kommissar haben zu müssen. Aus dem Dilemma müssen wir irgendwann herausfinden.
Armbrüster: Wenn Sie sagen, wir sind selbstsüchtig genug, würden Sie sich da selber einschließen?
Bullmann: Nein. Die Institutionen haben ein Problem! Es kann nicht sein, dass die Staats- und Regierungschefs mehr und mehr Themen nach Europa schieben, aber auf der anderen Seite nicht bereit sind, der Kommission und dem Europäischen Parlament das zu geben, was wir brauchen, um wirklich Antworten zu finden. Wir sind einen Schritt zurückgegangen mit der Auswahl einer Kommissionspräsidentin, die nicht Spitzenkandidatin war. Jetzt muss das Parlament dafür sorgen, dass wir wieder zwei Schritte vorkommen und anständig regieren in Europa.
Armbrüster: Ganz kurz zum Schluss, Herr Bullmann. Bitte eine Antwort in zwei, drei Sätzen. Wann werden wir es erleben, dass die Sozialdemokraten im Europaparlament aufstehen und sagen, wir wollen diese hohe Zahl von EU-Kommissaren nicht mehr, gebt uns bitte weniger?
Bullmann: Wir deutschen Sozialdemokraten sagen das schon viele Jahre und an uns wäre es nicht, das zu ändern. Wir werden weiter dafür plädieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.