"Der Landarzt von Chaussy" von Thomas Lilti
Stur ist es, ohne Frage. "Hast du verstanden, was ich dir gerade gesagt habe?" Und auch, als Jean-Pierre von einem befreundeten Arzt die Diagnose bekommt, "Temporal-Tumor links, inoperabel", da reagiert der Arzt aus der Provinz, der "Landarzt von Chaussy", ganz sachlich: "Kann ich es denn mit einer Chemo schaffen, wenn es gut läuft?". Und da der Kollege genau weiß, dass sein Kollege vom Land eben nicht kürzer treten wird, schickt er ihm eine Ärztin, ja, auf den Hals: "Sie sind Ärztin? - Ja. - Haben Sie denn schon mal auf dem Land praktiziert? - Nein."
Nun ist es in Thomas Liltis Film wenig überraschend, dass der sture Landarzt - François Cluzet - und seine, wie sich herausstellen wird, toughe Kollegin Nathalie - gespielt von Marianne Denicourt - sich am Ende näher kommen werden. Aber das Screwball-Comedy-Element ist in "Der Landarzt von Chaussy" sehr zurückgenommen, denn dies ist keine glatte, romantische französische Sommerkomödie; fast dokumentarisch erzählt der Ex-Mediziner und jetzt Filmregisseur Thomas Lilti vom Alltag einer Landarztpraxis. Der größte Konflikt zwischen dem Landarzt und seiner Co-Ärztin aus der Stadt, nun geworfen aufs Land, besteht darin, dass Jean-Pierre, stur wie ein Ochse, darauf beharrt, dass sein Patient, der alte Mann, über 90, zu Hause gepflegt und nicht in ein Krankenhaus gekarrt wird. Da bricht der fast nüchterne Ton von "Der Landarzt von Chaussy" auf und im Sterben des Alten leuchtet die Utopie von Menschlichkeit auf.
"Der Landarzt von Chaussy" von Thomas Lilti - außergewöhnlich, empfehlenswert
"The Light between Oceans" von Derek Cianfrance
Ich mag Schnulzen, muss ich sagen, wenn sie nicht zu aufgetragen schnulzig sind. Ich denke also nicht, dass so eine Geschichte wie in "The Light between Oceans" nicht "geht": Mann kommt traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg. Zieht sich auf eine Insel vor der australischen Küste zurück, bis Isabel sich in Tom, den Leuchtturmwärter, verliebt.
"Ich möchte sehen, wo Sie sich einigeln. - Ich befürchte, das würde gegen die Vorschriften verstoßen. Auf Janus ist nur die Frau des Wärters erlaubt. - Dann heiraten Sie mich."
Tom heiratet Isabel. Sie wird schwanger, verliert das erste Kind, das zweite. Und dann ist da ein Boot am Strand. Mit einem toten Mann. Und einem Säugling, der lebt. Tom und Isabel werden das Kind großziehen.
"Ich hatte noch nie so ein schönes Geschenk. - Mmmh. Mmmh. (Kichern)"
Aber Tom wird diese Lüge über ihr Kind nicht aushalten können. Spätestens, wenn er die Mutter der kleinen Lucy-Grace kennenlernt, die nicht weiß, ob ihre Tochter überlebt hat: "Werden Menschen auf hoher See manchmal von Schiffen gerettet? Haben Sie jemals gehört, dass kleine Boote entdeckt wurden?"
Es geht um richtige und falsche Mütter und um wahre Liebe zu einem Kind. Aber diese Geschichte ist in Derek Cianfrances Film "The Light between Oceans" dann doch zu sehr eingetaucht in eine Welt von Tränen geröteten Augen und einem Alexandre-Desplat-Soundtrack, der zu jedem Gefühl, das die Schauspieler spielen, eine musikalische Doublette setzt. Und dann gibt es das Gefälle zwischen Alicia Vikander als "falscher", Rachel Weisz als "richtiger" Mutter auf der einen und Michael Fassbender als Leuchtturmwärter auf der anderen Seite. Wo Vikander und Weisz "Melodram spielen", spielt Michael Fassbender einen zerrissenen, traumatisierten Mann in einem Melodram. Gegen diese Wucht kommen seine Kolleginnen nicht an. Und so gerät "The Light between Oceans" aus dem Gleichgewicht. Und das Melodram überzeugt nicht mehr.
"The Light between Oceans" von Derek Cianfrance - annehmbar
"Nerve" von Henry Joost und Ariel Schulman
"Willkommen zu Nerve. Ein Spiel wie 'Wahrheit oder Pflicht', nur ohne die Wahrheit."
Willkommen in New York. 1985 schickte Martin Scorsese seinen Angestellten Paul im Film "Die Zeit nach Mitternacht" auf eine Albtraumreise durch ein bizarres New York, dieser Stadt, die niemals schläft. Mehr als dreißig Jahre später erlebt die Schülerin Vee einen post-analogen Trip in einem Kosmos extremer Durchgedrehtheit. Sie spielt das illegale Online-Spiel "Nerve", in dem per Handy zugeschaltete Beobachter immer höhere Risiken verlangen:
"Hast du meine Sachen geklaut? Mein Geld? Meine Klamotten? Alles ist weg! - Nein, meine Sachen sind auch alle weg."
Alles online, alles Echtzeit, alles auf Adrenalin, bis zum letzten Kick, bis zur Selbstzerstörung - über eine solche Welt erzählen die Regisseure Henry Joost und Ariel Schulman, um so diese Welt in ihrem Film "Nerve" in einer wie angefixten Ästhetik zu duplizieren. Das mag ein Widerspruch sein, spiegelt aber sehr präzise jenen Widerspruch, in dem sich Kino häufig bewegt. New York jedenfalls kommt nie zur Ruhe, egal ob als damals analoge oder als heute digitale Glitzerwelt.
"Nerve" von Henry Joost und Ariel Schulman - empfehlenswert