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Neue Filme
Empathie, Enge und Erlösung

Obdachlose Frauen in Frankreich, reitende Geschwister in Brandenburg und eine investigative Journalistin in Polen sind die Protagonisten dreier neuer Filme. Drei Länder, drei Gesellschaftsstudien und die Versuche zu helfen, zu lieben und aufzuklären.

Von Hartwig Tegeler |
Szene aus dem Film „Der Glanz der Unsichtbaren“: Drei Frauen liegen kreuzförmig auf dem Rücken und blicken zur Decke
Szene aus dem Film „Der Glanz der Unsichtbaren“ (Piffl Medien/JC Lother)
"Ihr geht rein, zeigt eure Taschen und geht genau dann rein."
Morgendliches Ritual für die wohnungslosen Frauen im nordfranzösischen Tageszentrum L´Envol. Hier können sie sich waschen, bekommen zu essen, erleben einen Moment der Ruhe. Schlafen dürfen sie hier nicht.
"Tagsüber können sie hier schlafen; und für die Nacht gibt es die Notunterkünfte."
Aber nun droht das Ende, zu ineffektiv aus Sicht der Stadtverwaltung. Mittel gestrichen. Drei Monate noch, dann Schließung. Doch nun legen die Sozialarbeiterinnen mit allen Tricks und Schwindeleien los, um ihren Schützlingen trotzdem den Weg in die Gesellschaft – Arbeit, Wohnung – zurück zu ebnen.
"Chantal kann Dinge reparieren. Ich helfe ihr. Das ist alles. - Das ist alles? - Und vielleicht können die anderen ja auch irgendwas. Vielleicht ist das der Weg, ihnen zu helfen."
Kraftvolle Energie
Und ihnen wieder ein Selbstbewusstsein zu geben. Die Frauen, die im Film "Der Glanz der Unsichtbaren" im Mittelpunkt stehen, die in der Gesellschaft nur am Rande der gesellschaftlichen Wahrnehmung auftauchen, faktisch "unsichtbar" bleiben sollen, hat Filmemacher Louis-Julien Petit mit Laien besetzt, die die Erfahrung der Obdachlosigkeit in ihrem eigenen Leben gemacht haben. So bekommt dieser wunderbare Film eine große Energie, Kraft und Authentizität.
"Haben Sie dadurch, dass Sie die ganze Wahrheit sagen, Arbeit bekommen? - Nein. - Eine Wohnung? - Nein. - Wir wollen keineswegs, dass Sie lügen. Ein paar Auslassungen würden reichen."
Die Würde des Menschen bekommt in diesem Film wieder ein Bild. Und zur Besetzung noch einmal: So sehen Menschen aus! So, wie diese Frauen, die auch im Kino normalerweise unsichtbar sein sollen.
"Der Glanz der Unsichtbaren" von Louis-Julien Petit – herausragend.
"Ich reiß mir jeden Tag den Arsch auf, um unseren Betrieb zu retten, und dann darf ich mir anhören, wie du deine 200.000 Euro ausgeben würdest. Das regt mich so auf."
Sagt die wütende Schwester zum Bruder in Tom Sommerlattes dramatischer Romanze "Bruder Schwester Herz". Die 200.000 sind reine Phantasie; vielmehr steckt die Rinderzuchtfarm, da in der Weite von Brandenburg, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Trotzdem lebt Franz stoisch seinen Cowboy-Mythos, auf dem Pferd, bei den Rindern. Lily ist die toughe Betriebsleiterin und Reiterin mit Hang zu Neuinvestitionen. Beide umsorgen den Vater, der nach einem Unfall kaum noch gehen kann, liebevoll.
Unausgelebte Liebe
Der Sommer scheint ewig über dem weiten Land, über das die Geschwister galoppieren. Schöne Totalen bietet "Bruder Schwester Herz", ein Film, der sich verbeugt vor seinen amerikanischen Vorbildern, den Ranch-Western, und dem diese Verbeugung gut gelingt. Was nicht zuletzt an Sebastian Fräsdorf und Karin Hanczewski liegt , die die unausgesprochenen wie unausgelebten Liebesbedürfnisse zwischen Bruder und Schwester in allen Nuancen spielen. Natürlich muss diese Lebenskonstruktion
"Lilly:Morgen bin ich weg. - Franz: "Ja, so früher, desto besser."
beiden um die Ohren fliegen; Lily verliebt sich in einen Musiker und verlässt den Hof. "Bruder Schwester Herz" erzählt von einem Begehren, das gelebt wie ungelebt, alle unglücklich zurücklässt. Das offene Ende wird in diesem Film in wunderbarer Konsequenz ausgehalten.
"Bruder Schwester Herz" von Tom Sommerlatte – empfehlenswert.
"Bitte erzählen Sie mir von dem Tag, an dem Angelika verschwand."
Angelika und noch zwei andere Kinder; ein mysteriöses Verschwinden, das die Journalistin Alicja wieder zurückführt in ihre Heimatstadt. Doch die Suche nach den vermissten Kindern ist quasi die Tür, die die dunklen Gewölbe von Alicjas eigener Vergangenheit aufstößt. "Dunkel, fast Nacht", Borys Lankosz´ Film, ist ein mystischer Horrorthriller und gleichzeitig ein Drama, das tief in die Vergangenheit Polens eintaucht. Das Anfangsbild der Zugfahrt von Alicja durch diese neblige, dunkle Landschaft entwirft sofort eine düstere wie melancholische und bedrohliche Stimmung voller Tristesse. Mit großer Brillanz wechselt Filmemacher Lankosz dabei zwischen Träumen, Erinnerungen, Szenen aus der Vergangenheit und der Gegenwart, in der Alicja nicht nur verschwundene Kinder, sondern auch ihre verschwundene Kindheit sucht. Und erzeugt so eine soghafte Spannung.
"Wissen Sie, es gibt welche, die braucht man nur einmal zu schlagen, einmal, und es bleibt ein Riss. Und die Kinder hier tragen Spuren von so unglaublichen Schlägen."
Tröstliche Auflösung
"Dunkel, fast Nacht" ist ein wunderbar montierter Film mit einem herausragenden Soundtrack von Marcin Stanczyk, der eine kongeniale Ergänzung zu den Bildern liefert. Am Ende findet das Geheimnis über die verschwundenen Kinder eine fast tröstlich einfache Auflösung, brutal, grauenhaft, aber in der Auflösung eben tröstlich. Doch dass die Vergangenheit wie ein Damön an Alicja klebt auf ihrer Höllenreise, das bleibt die Grundstimmung dieses Films, der auch ein dunkles Bild der polnischen Gesellschaft entwirft, die wie erstarrt erscheint.
"Dunkel, fast Nacht" von Bory Lankosz – herausragend.