"Ich bin nicht aus Kalkutta. Ich bin verlorengegangen."
Wie Saroo verschwinden jedes Jahr in Indien rund 100.000 Kinder. Viele von ihnen werden entführt und zur Prostitution gezwungen. Die Hälfte taucht nie wieder auf. 2015 hat der indische Spielfilm "Sunrise" ein wenig hoffnungsvolles Bild von solchen Kinderschicksalen gezeichnet. Ganz anders die Geschichte des verlorengegangenen Jungen in "Lion". Bereits der vollständige Titel "Der lange Weg nach Hause" verrät: Hier wird die Odyssee, die im Jahr 1986 ihren Anfang nimmt, ein glückliches Ende nehmen.
"Guddu. Guddu. Guddu. ..."
Der fünfjährige Saroo ruft vergeblich nach seinem älteren Bruder. Die beiden Jungen aus ärmlichen Verhältnissen sind auf dem Weg in die nächste Stadt getrennt worden. Saroo steigt daraufhin in einen leeren Zug, der ihn bis ins 1500 Kilometer entfernte Kalkutta bringen wird. Ohne zu wissen, wo er sich befindet noch wie sein Heimatdorf heißt, streift der Junge tagelang durch die Stadt, bevor man ihn in ein völlig überfülltes Waisenhaus steckt. Dort wird Saroo an ein australisches Paar vermittelt.
"Hallo! Na! – Hallo! Hier – der ist für dich. ... Mami und ... – Dad. – Und wir freuen uns sehr, dass du da bist. ..."
Mit der Adoption endet die erste Hälfte von "Lion". Dann macht der Film einen großen Sprung. Viele Jahre später - Saroo ist längst ein junger Mann und lebt in Melbourne – wird er täglich mehr gequält von der Ungewissheit über seine Herkunft und über das Schicksal seiner richtigen Familie.
" … Du musst dich der Realität stellen! …. – Hast du eine Ahnung wie das ist zu wissen, dass mein richtiger Bruder und meine Mutter jeden Tag ihres Lebens nach mir suchen? "
Mithilfe von Erinnerungsfetzen, vor allem aber von Google Earth, beginnt Saroo zu recherchieren. Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wäre sie nicht erfolgreich verlaufen, hätte Hollywood diesen Film kaum gedreht. So aber liefert Saroos Geschichte den Stoff für ein kalkuliertes, aber gelungenes Feel-Good-Movie, dessen emotionaler Wucht sich wohl nur entziehen kann, wer kein Herz hat.
"Lion – Der lange Weg nach Hause": empfehlenswert
"Wir müssen entscheiden, wer die Ermittlungen leitet. – Wenn es Terrorismus ist, ist es Ihr Fall, Rick. ... Es ist Terrorismus. Wir übernehmen."
Wenige Stunden sind seit der Detonation der beiden Bomben auf der Zielgeraden des Boston Marathons vergangen. Das FBI hat das Attentat bereits als terroristischen Akt eingestuft. Dank der Auswertung von Überwachungskameras und Handyvideos sind die mutmaßlichen Attentäter schnell ausgemacht, aber über die Fahndungsmethoden sind die Ermittler zerstritten. Welche Informationen gibt man an die Öffentlichkeit?
" ... Wir müssen diese Fotos freigeben. – Wenn wir die Fotos jetzt freigeben, haben wir keine Kontrolle. – Überreizen wir unser Blatt, zwingen wir diese Typen vielleicht zu einer Reaktion."
Im Spielfilm "Boston" rekonstruiert Regisseur Peter Berg die Ereignisse der fünf Tage im April 2013, die es dauern sollte, bis die beiden Täter – ein Brüderpaar tschetschenischer Herkunft – gefasst wurden. Dabei wechselt der Film immer wieder die Perspektive, zeigt sowohl die Polizisten bei der Ermittlungsarbeit, als auch die Täter auf ihrer Flucht sowie die Opfer des Anschlags.
Bei aller Sorgfalt, die man den Machern bescheinigen muss, bleibt die Frage, welchen Mehrwert ihre realistische Nachbildung der Ereignisse gegenüber einer Dokumentation haben könnte. Die Antwort liefert der Film, wenn er im Stil eines rasanten Actionthrillers die Terroristen zur Strecke bringt. Auch ohne Superhelden und bombastische Musikuntermalung zeigt sich dann der übliche US-Patriotismus.
"Boston": zwiespältig
"Keine Liebe ist heiliger als die Liebe zum Vaterland. ... Aber ihr wisst, was uns blüht, wenn wir den Kampf nicht ehrenvoll gewinnen. ..."
Ein Ausschnitt aus dem Film "Kolberg" von 1945, dem letzten und aufwändigsten Film der nationalsozialistischen Propagandamaschine. Viele werden ihn nie gesehen haben und doch seinen Titel kennen, denn "Kolberg" gehört neben "Hitlerjunge Quex" und "Jud Süß" zu den bekanntesten kriegsverherrlichenden und volksverhetzenden Filmen, die zwischen 1933 und ´45 entstanden sind. Diese offenkundigen Propagandastreifen haben natürlich ihren Platz im Dokumentarfilm "Hitlers Hollywood" des Kritikerkollegen Rüdiger Suchsland. Aber nicht nur sie, sondern auch viele der mehr als 1000 Spielfilme, die in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus gedreht worden sind. Sie alle verbindet etwas.
"Das Kino der Nazi-Zeit war Fantasy und Traumfabrik. Es sollte und wollte ein zweites Hollywood werden: Hitlers Hollywood. ..."
Rüdiger Suchslands Dokumentarfilm wirft erstmals einen umfassenden Blick auf das Filmschaffen sowie die Filmschaffenden im Dritten Reich. Klug kompiliert und vergleicht Suchsland sogenannte Durchhaltewerke mit scheinbar seichten Unterhaltungsstreifen und kommt zu dem Schluss:
"Wir kennen diese Filme zu wenig. Aber es gibt keinen Grund wegzusehen. Die Filme sind besser als ihr Ruf. ... Gar nicht so wenige lohnen den zweiten Blick. ..."
Den eröffnet diese spannende Entdeckungsreise in die deutsche Filmgeschichte.
"Hitlers Hollywood": empfehlenswert