"Das Mädchen aus dem Norden" von Amanda Kernell
Von der schwedischen Stadt Uppsala reist eine alte Frau zur Beerdigung ihrer Schwester in den Norden des Landes. Dorthin, wo das indigene Volk der Samen lebt und auch sie ihre Kindheit verbracht hat. Seit sie als Teenager in den 1930er-Jahren ihre Familie verlassen hat, ist Elle Marja, die sich mittlerweile Christina nennt, nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Regisseurin Amanda Kernell - selbst Samin - hat für ihr Spielfilmdebüt "Das Mädchen aus dem Norden" eine klassische Filmdramaturgie gewählt. Nach dem Auftakt springt der Film in die Vergangenheit.
"Halt ihn fest. Jetzt gehört er dir."
Elle Marja ist 14. Wir sehen das Mädchen, wie es mit dem Messer einem Rentierkalb eine Kerbe ins Ohr schneidet. Seit jeher markiert jede samische Familie so ihre Herde. In einer späteren Szene wird sich das Ritual auf grausame Weise wiederholen, wenn Elle Marja eine Gruppe junger schwedischer Männer zur Rede stellt, die rassistische Bemerkungen über sie und ihr Volk macht.
"Die stehen auf einer niedrigeren Stufe der Evolution. - Nimm das sofort zurück! - Haltet Sie fest! - Lass mich los!"
Einer der Jungen wird ihr mit einem Messer ebenfalls ins Ohr schneiden. Solche Erniedrigungen, die zum Alltag der Samen gehören, will sich Elle Marja nicht länger gefallen lassen. Unterstützung erhofft sich das Mädchen von seiner Lehrerin.
"Ich würde gern auf eine höhere Schule gehen in Uppsala. - Du kannst leider nicht so viel wie die schwedischen Kinder. - In allen Fächern bin ich sehr gut. - Ja, aber die lernen andere Dinge. Da kann ich dir leider auch nicht behilflich sein."
Elle Marja wird daraufhin mit ihrer Kultur und ihrer Familie brechen und sich auf eigene Faust auf den Weg nach Uppsala machen.
Geschichten vom Erwachsenwerden gibt es viele. Diese hier, die Amanda Kernell erzählt, ist dennoch eine ganz besondere, weil sie auch von Selbstverleugnung und Emanzipation handelt. Einen wahren Glücksgriff hat die Filmemacherin bei der Besetzung der Titelfigur getan. Lene Cecilia Sparrok spielt in ihrem allerersten Film so intensiv und eigenständig, dass sie die Schauspielerei hoffentlich zu ihrem Beruf machen wird.
"Das Mädchen aus dem Norden": herausragend
"Pio" von Jonas Carpignano
Wieder einmal taucht die Polizei auf und macht eine Razzia in Ciambra, einer Siedlung im Süden Italiens, in der die Roma-Familie Amato lebt, zu der Pio gehört. Auch er ist 14 Jahre alt. Doch im Gegensatz zu Elle Marja vom anderen Ende Europas, mit der er die Perspektivlosigkeit teilt, hat der Junge nicht vor, seiner Familie den Rücken zu kehren. Als sein Vater und sein großer Bruder verhaftet werden, ist es an Pio, für den Lebensunterhalt zu sorgen. Den bestreiten die Amatos vor allem mit Handlangerdiensten wie Autodiebstählen und Einbrüchen.
Wo er gewesen sei, stellt Pios Mutter ihren Sohn zur Rede. Der knallt einen Bündel Geldscheine auf den Tisch. Er habe ein gestohlenes Auto zu Geld gemacht. Warum er ein solches Risiko eingehen würde, fragt Pios Mutter weiter. Ob sie ihn etwa auch noch verhaften sollten so wie seinen Bruder.
Nach seinem Flüchtlingsdrama "Mediterranea" hat es Regisseur Jonas Carpignano für seinen zweiten Spielfilm "Pio" erneut an denselben Ort in Kalabrien geführt. Diesmal in seinem Fokus: die Roma-Gemeinschaft, mit der Carpignano bei den damaligen Dreharbeiten schon verhandelt hat, um sein Auto, das mitsamt Filmequipment gestohlen wurde, wieder auszulösen.
Carpignanos Film über prekäres Leben am Rand der italienischen Gesellschaft beeindruckt durch die große Nähe zum Protagonisten. Und das umso mehr, wenn man weiß, dass Pio und die meisten anderen Darsteller sich selbst spielen in diesem reizvollen Hybrid aus Dokumentation und Fiktion in der Tradition des italienischen Neorealismus.
"Pio": empfehlenswert
"Film Stars don't Die in Liverpool" von Paul McGuigan
"Das ist ja fast wie in 'My Fair Lady'. - Wer ist das? - Eine Schauspielerin."
Gloria Grahame heißt der Gast aus den USA, von dem Peter Turner bislang noch nie etwas gehört hat. 26 Jahre jung ist der Brite aus Liverpool. Als er geboren wurde, hat Gloria ihre größten Erfolge als Femme fatale in Hollywood feiern können - in Filmen an der Seite von Humphrey Bogart und Kirk Douglas. Jetzt - es ist das Jahr 1979 - spielt die Mittfünfzigerin Theater auf kleineren Bühnen. So auch in London, wo sie auf Peter aufmerksam wird.
"Hast du den Film 'Saturday Night Fever' gesehen? - Habe ich. - Dir gefällt also Disco-Dancing? - Na ja, wenn ich was getrunken habe schon. - Das heißt. du würdest, wenn ich dir einen Drink mache, reinkommen und mit mir was ausprobieren? - Wenn Sie mir einen Drink machen, putze ich sogar Ihr Badezimmer."
Aus Gloria und Peter wird ein Paar, dem allerdings nur noch wenig Zeit bleibt, denn der ehemalige Hollywoodstar ist an Krebs erkrankt. "Film Stars don't Die in Liverpool" von Paul McGuigan basiert auf Peter Turners Memoiren. Die Romanze wird in diversen Tableaus nachempfunden, in denen Themen wie das Altern, der Traum von der Karriere und der Umgang mit Familie angeschnitten werden. Trotz Annette Bening und Jamie Bell, an deren Spiel es rein gar nichts auszusetzen gibt, bleibt die Geschichte seltsam starr und leblos.
"Film Stars don't Die in Liverpool": zwiespältig