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Neue Forschung
Geschichte ist nicht vorherbestimmt, aber auch nicht zufällig

Die NS-Diktatur hätte noch im Januar 1933 abgewendet werden können. Forschungen widerlegen die These, dass die deutsche Geschichte seit dem Kaiserreich zwangsläufig in den Faschismus führen musste. Die Erkenntnis beruht auch auf einer neuen Methodik, die von der "Offenheit eines historischen Moments" ausgeht.

Von Matthias Hennies |
Das "Kabinett der Nationalen Konzentration", 30. Januar 1933 (v. l. n. r.): Franz Seldte, Günter Gereke, Johann Ludwig Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick, Werner von Blomberg, Alfred Hugenberg; sitzend: Hermann Göring, Adolf Hitler und Franz von Papen.
Vom Nationalismus im Kaiserreich zur Hitler-Diktatur - die sozialgeschichtlich begründete These vom "deutschen Sonderweg" ist mittlerweile überholt (picture alliance / akg-images)
"Die Quintessenz der neuen Forschung ist eben, dass Hitlers Machtergreifung viele Ursachen hatte, dass sie aber fast bis zum letzten Moment kontingent war, weil es andere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben hätte."
Vermeidbar sei Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 gewesen, die Weimarer Republik hätte nicht zerbrechen müssen, erklärt Professor Benjamin Ziemann, Historiker an der Universität Sheffield. Lange galt unter Geschichtswissenschaftlern und auch in der Öffentlichkeit die These, dass die Weimarer Republik im Grunde nicht lebensfähig gewesen sei. Viele meinten sogar, schon seit dem Kaiserreich habe der "deutsche Sonderweg" zwangsläufig in den Faschismus geführt.

Die These vom "Deutschen Sonderweg" ist überholt

Von dieser langfristigen Kausalität ist heute kaum noch jemand überzeugt: Nicht nur wegen neuer Erkenntnisse aus den historischen Quellen, sondern auch, weil sich ein methodischer Wandel in der Geschichtsforschung vollzogen hat. Nicht mehr das "Warum" steht im Vordergrund, sondern das "Wie", die Offenheit eines historischen Moments, der sich in verschiedene Richtungen entwickeln kann.
"Der 'Cultural Turn' ist eine Bewegung, die die Geistes- und Kulturwissenschaften insgesamt seit den 1980er/90er-Jahren erfasst hat. Und in der Geschichtswissenschaft war das eine Bewegung, die sich vor allem kritisch mit der damals dominanten Sozialgeschichte auseinandergesetzt hat. Sozialgeschichte hat ja sehr stark ihren Fokus gelegt auf Strukturen, die gesellschaftliche Entwicklung prägen und solche Strukturen sehr stark als Ursachen für die nachfolgenden Entwicklungen identifiziert. Und davon hat sich die Kulturgeschichte als geschichtswissenschaftliche Variante doch sehr stark distanziert."
Die Freiburger Historikerin Dr. Sonja Levsen hat auf dem Historikertag eine Sektion zu diesem Thema geleitet - und ist damit auf großes Interesse gestoßen, obwohl die kulturgeschichtliche Wende mittlerweile weithin akzeptiert ist. Drei Aspekte sind damit stärker ins Bewusstsein der Forschung getreten, sagt Levsen: Neben der Vielfalt von Faktoren, die Geschichte beeinflussen, wird die Rolle einzelner Individuen wieder stärker hervorgehoben, außerdem kommen europäische, ja, sogar globale Zusammenhänge mehr in den Blick.
80 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis
Am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Mit der sogenannten Machtergreifung setzte nicht nur Unterdrückung und Gewalt, sondern auch eine Radikalisierung der deutschen Bevölkerung ein, die dazu führte, dass Menschen in wenigen Jahren sukzessive ausgrenzt und schließlich massenhaft ermordet werden konnten.

Mehr "Wie" statt "Warum"

Das Bild eines geschichtlichen Ereignisses wird dadurch aber auch unübersichtlicher, sagt Levsen: "Geschichten werden komplexer, vielleicht präziser, vielleicht werden Erzählungen besser – aber diese Komplexität ist auch schwerer umzusetzen in trotzdem klare Erzählungen, in klare Urteile."
Auch wenn es nun mehr um das "Wie" geht – auf die Suche nach Ursachen wollen Historikerinnen und Historiker nicht verzichten. Wenn sie die Frage nach dem "Warum" überhaupt nicht mehr stellten, müssten sie den Lauf der Geschichte ja als Zufall betrachten – und dann wäre sie der menschlichen Gestaltung entzogen. Also betonen sie, dass der Lauf der Geschichte "kontingent", also nicht vorherbestimmt ist, sondern von unterschiedlichen Ursachen abhängt, die in einem Moment zusammentreffen.
Ute Daniel, Professorin für Neuere Geschichte an der TU Braunschweig: "Was wir gern mit dem Begriff 'Kontingenz' belegen, das heißt nichts anderes als, da berührt sich was – contingere, das lateinische Wort, heißt "sich berühren" – da berührt sich was, was eigentlich nichts miteinander zu tun hat und das aber erzeugt Folgen."
Diese Sicht prägt auch die aktuelle Forschung zur Weimarer Republik. Demnach war sie nicht wegen vermeintlicher "Geburtsfehler" zum Untergang verurteilt. Dass strukturelle Probleme eine fatale Rolle spielten, ist nach wie vor unumstritten: insbesondere die Machtstellung des Reichspräsidenten Hindenburg und die großen Wahlerfolge der NSDAP.

Noch Anfang 33 hätte man Hitler verhindern können

Jetzt weiß man aber auch, betont Benjamin Ziemann, dass viel länger, als man bisher glaubte, eine Chance bestand, die Republik zu retten: Noch wenige Wochen vor dem Ende versuchte Reichskanzler Schleicher, nur den sozialrevolutionären Flügel der NSDAP in die Regierung aufzunehmen: "So gesehen, stellt sich die Frage, ob nicht noch in den letzten Wochen im Dezember 32/Januar 33 eine Verhinderung des Reichskanzlers Hitler möglich gewesen wäre, wenn man Gregor Strasser und seinen Flügel in der NSDAP in ein Kabinett Schleicher eingebaut hätte."
Es ist tröstlich zu wissen, dass die erste deutsche Demokratie bis zuletzt doch noch hätte bewahrt werden können. In Ute Daniels Worten: "Wenn man Geschichte so erzählt, dass man jede Menge an Zeitpunkten liefert, wo alles plötzlich hätte anders kommen können, ich finde, wenn man es genauer betrachtet, ist das eine Befreiung."