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Neue Hitler-Biografie
"Wir dürfen nicht die letzten Opfer der Nazi-Propaganda werden"

Wer sich ein Bild von Adolf Hitler machen wolle, dürfe nicht auf dessen Selbststilisierung hereinfallen, sagte der Historiker und Hitler-Biograf Peter Longerich im DLF. Die Jubelbilder aus dem Dritten Reich könne man vergessen, die seien vom Propagandaapparat erzeugt worden. Die suggerierte Übereinstimmung von Volk und Führer habe es nicht gegeben.

Peter Longerich im Gespräch mit Peter Kapern |
    Der Historiker Peter Longerich stellt den seine Studie zu Antisemitismus in Berlin vor.
    Der Historiker Peter Longerich hat eine Biografie über Adolf Hitler verfasst. (dpa / picture alliance / Stephanie Pilick)
    Peter Kapern: Dieses Buch, das Anfang der Woche erschienen ist, das hat wirklich weltweit Aufmerksamkeit gefunden - in Europa sowieso, aber auch in den USA, in Malaysia, in Indonesien, in China und in Dutzenden anderen Ländern. Überall dort hat die Presse darüber berichtet, dass es eine neue Biografie Adolf Hitlers gibt, verfasst vom Münchner Historiker Peter Longerich, einem ausgewiesenen Kenner der NS-Zeit. Aufmerksam registriert wurde dieses neue Buch, weil es quersteht zu den Standardwerken über Hitler, weil es ein anderes Hitler-Bild zeichnet als diejenigen Biografien, die teils seit Jahrzehnten immer wieder herangezogen werden. Beispielsweise konterkariert Longerich die gängige These, dass Hitler schon in seinen ersten drei Lebensjahrzehnten seine verquaste Ideologie, diese Mischung aus Nationalismus und Antisemitismus ausgebildet hatte. Der frühe Hitler, den Longerich porträtiert - und das werden wir gleich von ihm selbst hören -, der frühe Hitler ist vielmehr ein politisches Nichts oder, wie ihn Longerich bezeichnet, ein Niemand.
    Peter Longerich: Ja man muss eben sehr aufpassen, wenn man sich mit dem frühen Hitler beschäftigt, dass man nicht Opfer seiner eigenen, also Hitlers Selbststilisierung wird. Er hat versucht, diese frühen Jahre als Vorschule für seine spätere Karriere darzustellen. Man weiß aber mittlerweile, dass er in dieser Zeit sich politisch überhaupt nicht betätigt hat, dass er auch zum Beispiel im Gegensatz zu dem, was er geschrieben hat, durchaus jüdische Bekannte, Freunde, Geschäftspartner hatte, dass er sich im Grunde genommen seine frühe Biografie selbst zusammengelogen hat. Und es deutet alles darauf hin, dass diese Person als politische Größe oder als spätere politische Größe in dieser Zeit völlig unbedeutend gewesen ist. Es gibt allerdings bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die man schon in dieser Zeit feststellen kann, die natürlich auch für die Interpretation des späteren Politikers Hitlers von Bedeutung sind. Aber eine kontinuierliche Entwicklung hier zu sehen von Linz über Wien, den Ersten Weltkrieg bis dann nach München in die Nachkriegszeit, das wäre verkürzt und man würde damit auch auf diese Hitlersche Selbststilisierung hereinfallen.
    Hitler unterhielt relativ gute Beziehungen zu einzelnen Juden
    Kapern: Aber abgesehen von dieser Selbststilisierung gibt es ja auch zahlreiche Studien, die den Nachweis versuchen, dass Hitler in seiner Jugend, in seinen ersten Lebensjahrzehnten aufgesogen hat, was damals in der Zeit lag, nämlich den deutschen Nationalismus, die antidemokratischen Auffassungen und vor allem natürlich auch den Antisemitismus. Das war noch nicht in ihm verankert, damit war er noch nicht geimpft schon zur Wiener Zeit?
    Longerich: Man weiß im Grunde genommen nicht allzu viel über diese Wiener Zeit. Das ist eine sehr mühselige Rekonstruktionsarbeit. Wir wissen wohl, dass er in Wien sich selber zu den Alldeutschen gerechnet hat, aber wenn man sich die Alldeutschen damals näher anschaut, dann hatten die viele Antis, nicht nur den Antisemitismus, sondern sie waren gegen die Habsburger, gegen die katholische Kirche, gegen die Slawen, gegen die Sozialisten. Also der Antisemitismus hat einen ganz anderen Stellenwert. Er hat sicherlich auch den konventionellen Antisemitismus dieser Zeit geteilt, aber er war nicht das entscheidende Element und er hat ihn auch nicht daran gehindert, zu einzelnen Juden relativ gute Beziehungen zu unterhalten. Die Sprengkraft des Antisemitismus entsteht ja eigentlich erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Karten neu gemischt werden und nun für viele der Antisemitismus die entscheidende Antibewegung ist, die Welterklärung wird und sie glauben, in den Juden den Feind erkannt zu haben, den man nun bekämpfen muss. Und in dieser Welle schwimmt Hitler auch und entwickelt dann den Antisemitismus zum Kernbestandteil seiner Ideologie.
    Kapern: Aber selbst nach dem Ersten Weltkrieg beschreiben Sie Hitler noch gewissermaßen als Werkzeug einer rechtsnationalistischen Reichswehr-Clique, die ihn da instrumentalisiert und einsetzt als Propagandisten. Selbst da war er noch nicht ein auf eigene Rechnung agierender Politiker.
    Hitler löst sich aus den Abhängigkeiten
    Longerich: Es ist so: Der Anfang seiner politischen Karriere, der wird von der Reichswehr gelegt. Er wird zum Agitator ausgebildet. Er wird von der Reichswehr zu dieser deutschen Arbeiterpartei, zu diesem Vorläufer der Nationalsozialisten geschickt, mit anderen übrigens zusammen, offenbar um deren Propaganda zu verstärken. Er ist tatsächlich in den ersten Monaten seiner politischen Karriere eigentlich außengesteuert. Aber das Interessante ist jetzt, dass er aus dieser Rolle sehr schnell ausbricht und ein eigenes Gewicht entwickelt und nach relativ kurzer Zeit aus dieser Propagandatätigkeit ausbricht und die Führung der Partei übernimmt, und jetzt sehen wir ihn als einen eigenständigen handelnden Politiker, der sich aus diesen Abhängigkeiten herauslösen kann.
    Kapern: Das heißt aber, auch der bekannte Satz aus seinem Pamphlet "Mein Kampf", ich aber beschloss, Politiker zu werden, auch das ist reine Selbststilisierung?
    Longerich: Das ist reine Selbststilisierung. Er verlegt ja diesen Entschluss schon auf Ende des Ersten Weltkrieges, November 1918, und wir wissen genau, dass er in den nächsten Monaten sich völlig passiv verhalten hat. Er hat sich einfach treiben lassen in dieser unsicheren Zeit. Er hat nicht entschieden Position bezogen, weder für, noch gegen die Revolution, und er wird sozusagen aufgelesen von der Reichswehr, die Propagandisten sucht - er ist eine gescheiterte Existenz - und diese Politisierung wird regelrecht an ihn herangetragen.
    Kapern: Dann aber plötzlich ist er ein entschlossen agierender Politiker, nämlich als die Macht in Reichweite war. Den Prozess der Machtergreifung beschreiben Sie tatsächlich als solchen, nämlich als eine Machtergreifung und nicht, wie es häufig getan wird, als Machtübertragung rechtsnationaler Kreise oder Industriekreise an Hitler, die versuchen, ihn einfach nur zum Instrument zu machen.
    "Er ist eine Figur, die im Zentrum des Geschehens steht."
    Longerich: Ja natürlich gibt es dieses Moment. Es gibt natürlich die konservativen Interessen. Es gibt auch natürlich Teile der Großindustrie, die Hitler gefördert haben - nicht übrigens primär Hitler, sondern vor allen Dingen andere rechte Parteien. Das gibt es natürlich. Aber es fehlt in der Erklärung ein wichtiges Element, nämlich es fehlt eine Erklärung dafür, mit welcher Strategie er in den entscheidenden Jahren '30 bis '33 agiert hat. Das habe ich versucht zu rekonstruieren und komme dabei zu der Schlussfolgerung, dass er eigentlich vier oder fünf Strategien hatte, die er gegeneinander ausgetauscht hat im schnellen Wechsel, die er teilweise parallel betrieben hat. Und er ist meiner Ansicht nach '33 auch ganz wesentlich durch eine Kombination dieser verschiedenen Strategien an die Macht gekommen. Der eigene Handlungsanteil, der sollte nicht unterschätzt werden. Er ist also eine Figur, die im Zentrum des Geschehens steht.
    Kapern: So wie das Ihrer Beschreibung nach auch bis 1945 der Fall war. Sie beschreiben Hitler nicht als den abgehobenen charismatischen Führer, der über dem Volke und dem Apparat schwebt und sich darauf verlassen kann, dass, wie Ian Kershaw es geschrieben hat in seiner Hitler-Biografie, ihm entgegengearbeitet wird, sondern sie zeigen den Politiker, der agiert, handelt, steuert, detailversessen geradezu sich als Kontrollfreak gibt.
    Longerich: Ja. Das, was Ian Kershaw gezeigt hat, ist natürlich nach wie vor wichtig. Diese Idee des Entgegenarbeitens ist ein ganz wichtiges Element der Diktatur. Aber ich setze die Akzente etwas anders und sage, es kommt eben auch darauf an, wem man da entgegenarbeitet und wie diese Figur, der man entgegenarbeitet, sich verhält und ob er nicht diese Entgegenarbeit auch entscheidend eingefordert hat, und da liegt mein Akzent. Ich zeichne das Bild einer Figur, die nicht die Dinge hat einfach laufen lassen und dann gesehen hat, was am Schluss dabei herauskommt, sondern der in sehr vielen Politikbereichen sehr viel aktiver war, als man das allgemein annimmt. Und das zieht sich durch die ganze Geschichte des Dritten Reiches hindurch.
    Kapern: Das haben Sie ja als Gutachter in einem Prozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving schon für den Fall des Holocausts nachgewiesen. Haben Sie ein weiteres Beispiel, wo man die Regelungsversessenheit Hitlers zeigen kann?
    Er hat entschieden
    Longerich: Ein Beispiel, was für mich schlagend war, ist etwa seine Rolle beim nationalsozialistischen Putsch in Österreich 1934, wo man bisher angenommen hatte, dass es da zwei Fraktionen gibt, Nationalsozialisten, die sich gegenseitig in den Putsch hineingezogen hätten, und er hätte mehr oder weniger die Dinge laufen lassen. Wir wissen aber mittlerweile aus den Goebbels-Tagebüchern, dass es ganz einfach eine Konferenz gab mit den Beteiligten, und er hat das Signal gegeben, hat den Befehl gegeben für diesen Putsch. Manchmal - und ich denke, nicht nur manchmal, sondern häufiger - sind die Dinge in dieser Diktatur ganz einfach gewesen. Die Dinge sind ihm vorgetragen worden, er hat entschieden und dieses Bild einer Person, die die anderen machen lässt und sich selber zurückhält, scheint mir ein Bild zu sein, was abgelöst werden wird im Laufe der Zeit.
    Kapern: Fokussiert das die Diskussion über die Verantwortung für die Verbrechen des Regimes neu, wenn man sagt, Hitler hat eigentlich viel mehr selbst entschieden, als man das bisher wahrgenommen hat?
    Longerich: Die Mitschuld und Mitverantwortung der anderen Beteiligten bleibt ja bestehen. Man wird jetzt nicht zurückgehen und wird sagen, Hitler war's, er ist für alles verantwortlich. Aber Sie müssen ja versuchen - und das ist mein Anliegen -, das Zustandekommen eines politischen Prozesses zu erklären, und dazu brauchen Sie eine führende Figur, die die Dinge bündelt, die sie in eine bestimmte Richtung vorantreibt, die nachkontrolliert, die zuspitzt und so weiter. Das heißt, es geht darum, einen politischen Prozess zu rekonstruieren, und da ist diese Führungsfigur eben unverzichtbar. Und für mich ist es eigentlich unbegreiflich, wie man eine Geschichte des Nationalsozialismus schreiben will, bei der nicht das Handeln dieses Menschen, der von Anfang bis zum Ende diese sogenannte Bewegung geprägt hat, im Zentrum stehen sollte.
    Die Jubelbilder beweisen gar nichts
    Kapern: Eine weitere These Ihres Buchs lautet, es gab keine Identität von Volk und Führer. Das mutet befremdlich an, angesichts der Jubelbilder aus dem Dritten Reich, die wir kennen. Wie können Sie diese These begründen?
    Longerich: Na ja, wir haben alle diese Jubelbilder im Kopf, wenn wir an die Einstellung der Deutschen damals denken zum Regime, aber diese Bilder beweisen gar nichts. Das sind Bilder, die durch einen Propagandaapparat erzeugt worden sind und die einzig nur zu dem Zweck erzeugt worden sind zu zeigen, dass die Bevölkerung geschlossen hinter diesem Regime gestanden hat. Diese Bilder kann man vergessen. Wir wissen auch, wie sie gemacht worden sind, wie sie entstanden sind, wie sie am Schneidetisch zusammengefügt worden sind. Und wenn man mal von diesen Bildern weggeht und sich zum Beispiel mal anschaut die Stimmungsberichte, die sowohl vom Regime verfasst worden sind als auch von den Gegnern des Regimes in dieser Zeit, dann sieht man sofort, dass dieses Bild sehr viel gemischter zumindest ist. Und es wäre ja auch ganz absurd, sich vorzustellen, dass ein Land, das so tief politisch gespalten war traditionell wie Deutschland, dass diese gespaltene Gesellschaft plötzlich innerhalb kürzester Zeit einem Mann hinterhergelaufen wäre und sich plötzlich politisch einig war. Das ist ein sehr naives Bild und wir müssen aufpassen, dass wir nicht die letzten Opfer der Nazi-Propaganda werden.
    Das Regime konnte nur funktionieren, weil es willige Helfer gab
    Kapern: Jetzt ist die Bundesrepublik politisch erwachsen geworden mit der Frage der Kinder an ihre Eltern, was habt ihr gewusst, was habt ihr getan. Sind diese Fragen vielen der damaligen Eltern zu Unrecht gestellt worden, wenn es diese Identität von Volk und Führer gar nicht gab?
    Longerich: Nein, überhaupt nicht. Die Frage ist ja zurecht gestellt, wie hast Du Dich verhalten, angesichts des Systems. Ich würde ja auch nie bestreiten wollen, dass Hitler nicht eine Massenzustimmung gefunden hat. Was ich bestreite, ist diese Übereinstimmung von Volk und Führer. Insofern ist die Frage, hast du nun dazugehört, hast Du nur still dagegen angedacht oder hast Du auch etwas dagegen unternommen, hast Du Dich ausgetauscht mit anderen, diese Frage, die ja meine Generation und die Generation davor ihren Eltern und Großeltern gestellt hat, die Frage ist überhaupt nicht obsolet oder ist gar nicht falsch gestellt gewesen. Das heißt, wenn ich das Handeln einer solchen Führungsfigur betone, heißt das ja nicht, dass ich alle anderen 70 Millionen Deutsche von der Frage suspendiere, wie sie sich zu dem Regime verhalten haben. Und das Regime konnte natürlich nur funktionieren, weil es diese willigen Helfer und diese enthusiastischen Unterstützer gab. Aber das ist der Punkt: Es gab nicht die absolute Übereinstimmung eines geschlossenen Volkes, das sich hinter seinem Führer versammelte. Das ist eine Legende.
    Kapern: Der Historiker Peter Longerich, Verfasser einer neuen Hitler-Biografie, die in dieser Woche erschienen ist. Die 1.300 Seiten sind im Siedler Verlag erschienen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.