Musik 1: Anatolijus Šenderovas - "Konzert für Schlagwerk"
Geradezu sphärisch entrückt beginnt Šenderovas' "Konzert für Schlagwerk und Streichorchester" aus dem Jahr 2011. Zu zarten spätromantischen Harmonien erklingt im Vibraphon ein akkordisches Motiv – zuerst in Moll, dann in Dur. Das Ganze wirkt alles andere als zeitgenössisch modern. Doch Šenderovas liebt das Spiel mit scharfen Wechseln und Brüchen und der Solist hat schon bald im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun.
Musik 2: Anatolijus Šenderovas - "Konzert für Schlagwerk"
"Per Giunt" nannte Šenderovas sein Konzert – und spielte damit auf den Namen des litauischen Perkussionisten Pavel Giunter an, dem das Stück gewidmet ist. Ihn hörten wir zusammen mit dem St. Christopher Chamber Orchestra in dem gerade verklungenen Ausschnitt.
Widmung an Schostakowitsch
Anatolijus Šenderovas, am 21. August 1945 in Uljanowsk an der Wolga geboren. Er wuchs in der litauischen Hauptstadt Vilnius auf und studierte am dortigen Konservatorium. Später kamen weitere Kompositionsstudien in Leningrad hinzu. Zu seinen ersten musikalischen Vorbildern gehörte Dmitri Schostakowitsch, dessem Andenken Šenderovas 1976 sein erstes Streichquartett widmete und dessen Initialen D-Es-C-H er darin als Thema verarbeitete. In dem einsätzigen, in freier Zwölftontechnik gehaltenen Werk setzt sich der junge Komponist mit unterschiedlichen Formen der Musikgeschichte auseinander und lässt es in einer raffinierten Fuge gipfeln.
Musik 3: Anatolijus Šenderovas - "Fuge" aus 1. Streichquartett
Erste internationale Erfolge feierte Šenderovas ab Mitte der 70er Jahre bei Neue-Musik-Festivals in Ost-Berlin, Luxemburg und Edinburgh sowie beim renommierten "Warschauer Herbst". Auch bei mehreren Kompositions-Wettbewerben nahm er erfolgreich teil. Beispielsweise gewann Šenderovas 1993 beim Festival "Musica Judaica" in Prag mit dem Stück "Der tiefe Brunnen" für Singstimme, Flöte, Violine, Violoncello, Klavier und Schlagzeug den zweiten Preis. Textvorlage ist ein Gedicht von Franz Kafka. Nicht nur für die Singstimme - im Falle der vorliegenden Aufnahme ist es die der Sopranistin Joana Gedminaitė - sondern auch für die anderen Ausführenden ist die Komposition ein Parforceritt durch Stile und Emotionen und geht mitunter an die Grenzen des technisch Machbaren.
Musik 4: Anatolijus Šenderovas - "Der tiefe Brunnen"
Neue Orientierungen
Šenderovas Vertonung von Kafkas "Der tiefe Brunnen" gilt als eines seiner progressivsten Werke und entstand in einer für ihn wichtigen Phase der künstlerischen Neuorientierung. Bis zum Ende der 1980er Jahre hatte er wie viele andere Kollegen aufgrund möglicher Repressalien eine Beschäftigung mit seinen jüdischen Wurzeln vermieden. Als sich 1990 des Ende der Sowjetherrschaft in Litauen abzeichnete, begann für den Komponisten und seine Familie eine Art Befreiung. Im gleichen Jahr erhielt Šenderovas ein Stipendium der Rubin-Israel-Musikakademie der Universität in Tel Aviv, wo er sich unter anderem mit der traditionellen jüdischen Musik auseinandersetzte.
Diese Erfahrungen sowie das Wiederaufleben der litauisch-jüdischen Musikkultur sollten sein weiteres kompositorisches Schaffen beeinflussen. 1995 entstand "Paratum cor meum" (deutsch: "Mein bereites Herz") für Violoncello, Klavier, gemischten Chor und Orchester, eine Verbindung aus Oratorium und Konzert. Darin verarbeitete Šenderovas Texte aus den Psalmen Davids und dem "Prediger Salomo" des Alten Testaments. Verglichen mit seinen vorherigen Werken schlägt er hier einen deutlich lyrischeren Ton an. Die ursprüngliche Zwölftontechnik ist einer freien Struktur gewichen, die sowohl eindeutig harmonische Strecken als auch geballte clusterartige Flächen in sich vereint.
Musik 5: Anatolijus Šenderovas - "Paratum cor meum"
Ein Ausschnitt aus "Paratum cor meum" von Anatolijus Šenderovas in einer Aufnahme vom Oktober 2015 in der litauischen Philharmonie Vilnius. Neben dem Kammerchor "Jauna Muzika" und dem litauischen nationalen Symphonieorchester wirkten als Solisten der Cellist David Geringas und seine Frau Tatiana Schatz mit.
Fokus Violoncello
In mehreren von Šenderovas' Werken spielt das Violoncello eine wichtige Rolle. Zum einen geht diese Vorliebe zurück auf seinen Vater, der Cellist war. Zum anderen ist David Geringas dafür mit verantwortlich; ihm hat Šenderovas etliche Cellostücke gewidmet, wie beispielsweise "Paratum cor meum" oder auch das Cellokonzert in C.
Den international gefeierten Virtuosen und den Komponisten verbinden nicht nur die Liebe zu Litauen und gemeinsame jüdische Wurzeln, sondern auch eine lange Freundschaft. Zu Geringas‘ 60. Geburtstag komponierte Šenderovas für ihn das Stück "David‘s Song" für Cello und Streichquartett. Das rückt sowohl dessen virtuose Fähigkeiten als auch den biblischen Namensvetter König David in den Mittelpunkt, aus dessen Psalmen die Ausführenden einige Verse rezitieren. Zudem verarbeitet Šenderovas hier Elemente der traditionellen jüdischen Musik.
Musik 6: Anatolijus Šenderovas - "David‘s Song"
David Geringas und das litauische Chordos Quartett spielten einen Ausschnitt aus "Davids Song" von Anatolijus Šenderovas in einer Fassung von 2009.
Hommage à Šenderovas
Das CD-Set dieser sehr interessanten Šenderovas-Hommage präsentiert sowohl Kammermusikwerke als auch Konzerte, große und kleine Vokalstücke sowie eine Kammersinfonie. Während die erste CD Kompositionen bis 1989 beinhaltet, sind die Werke auf den beiden anderen CDs nach 1992 entstanden.
Diese Einteilung entspricht Šenderovas' musikalischer Entwicklung. Zwar schrieb er auch nach 1992 Kammermusik, legte sein Augenmerk aber vor allem auf größer besetzte Gattungen wie beispielsweise Konzerte. Gerade in ihnen ist das Bestreben des Komponisten spürbar, unterschiedlichste Strömungen der traditionellen und Neuen Musik miteinander zu verweben und daraus eine eigene individuelle zeitgenössische Klangsprache zu entwickeln.
Dass diese in Litauen gut ankam, zeigen die ihm verliehenen Auszeichnungen wie der Großfürst Gediminas-Orden oder der litauische Nationalpreis, den er 1997 erhielt. Die qualitätvollen Liveaufnahmen mit fast ausschließlich litauischen Ausführenden spiegeln sehr gut die Kraft und Energie, aber auch die Feingliedrigkeit und mitunter auch Zerbrechlichkeit von Šenderovas' Kompositionen wider, die sich jeglichen Einordungsversuchen verweigern.
Musik 7: Anatolijus Šenderovas - Konzert für Trio und Orchester
Musik 7: Anatolijus Šenderovas - Konzert für Trio und Orchester
Anfang 2017 vollendete Šenderovas das Konzert für Klaviertrio und Orchester, aus dessen Uraufführung am 1. April ein Ausschnitt mit dem Kaskados Trio und dem litauischen nationalen Symphonieorchester erklang. Es gehört zu seinen letzten Kompositionen. Zwei Jahre später, am 25. März 2019, starb Šenderovas nach langer Krankheit. Die zu seinem 75. Geburtstag erschienene CD-Hommage ist eine gute Gelegenheit, den hierzulande wenig bekannten Komponisten und sein facettenreiches Werk etwas näher kennen zu lernen.
Musik 8: Anatolijus Šenderovas - Kammersinfonie
Musik 8: Anatolijus Šenderovas - Kammersinfonie
Zuletzt ein Ausschnitt aus der Kammersinfonie von Anatolijus Šenderovas. Diese basiert auf seinem dritten Streichquartett und wurde 2018 vom Komponisten neu arrangiert. Es spielte das litauische Kammerorchester unter der Leitung von David Geringas. Das CD-Set "Paratum cor meum - Hommage à Anatolijus Šenderovas" ist beim Label dreyer gaido erschienen.
"Paratum cor meum"
Hommage à Anatolijus Šenderovas
Diverse Interpreten. U.a. Chordos Qartett, David Geringas(Violoncello), Tatiana Schatz(Klavier), Kammerchor "Jauna Muzika", Nationales Symphonieorchester Litauen, Ltg: Modestas Pitrenas
Label: dreyer gaido CD 21123
Hommage à Anatolijus Šenderovas
Diverse Interpreten. U.a. Chordos Qartett, David Geringas(Violoncello), Tatiana Schatz(Klavier), Kammerchor "Jauna Muzika", Nationales Symphonieorchester Litauen, Ltg: Modestas Pitrenas
Label: dreyer gaido CD 21123