Selbst, wenn Sie, meine Damen und Herren, keine praktische Erfahrung mit Musik haben sollten: Einen Kanon werden Sie irgendwann einmal gesungen haben - in der Schule, in der Kirche, bei einer Familienfeier, wo auch immer. Sie werden dabei gemerkt haben, dass die Ihnen zugefallene melodische Linie im Geflecht der nacheinander einsetzenden Stimmen ihre Funktion und Bedeutung änderte. Womöglich hatten Sie auch Schwierigkeiten, im geänderten Kontext überhaupt ihren Ton zu treffen oder die Melodie zu halten. Die Kanons, um die es heute gehen wird, sind von gänzlich anderer Art. Eines aber haben sie mit den einfachen Kanons zum Hausgebrauch gemeinsam - die zugrundeliegende Melodie bestimmt sehr wesentlich Form und Ablauf des Ganzen.
Technisch gesprochen: Die Intervalle der Melodie und die den einzelnen Tönen zugeordneten Dauern, also das Material, bestimmt in hohem Maße auch die Form. Indem aber der Komponist dieses Material im Hinblick auf die zu erstellende Form auswählt, bestimmt andererseits auch die Form das Material.
Kanons, nicht zum Hausgebrauch
Die Stimmeinsätze des Kanons folgen dabei sehr strikten Regeln, wobei ein kunstvoller Kanon unendlich viele Varianten erlaubt. Die Melodie kann schneller oder langsamer oder rückwärts gespielt werden, sie kann auf den Kopf gestellt werden, sie kann auf verschiedenen Tonstufen und in wechselnden Abständen einsetzen. Immer aber müssen die Intervallverhältnisse und die rhythmischen Proportionen gewahrt werden. In diesem Sinne wohnt dem Verlauf eines Kanons ein Automatismus inne - modern gesprochen ist das Thema eines Kanons ein Algorithmus. Dabei muss ein Kanon nicht den landläufigen Vorstellungen einer Melodie entsprechen. Sein Gegenstand kann ebenso gut aus riesigen Sprüngen mit extremen Notenwerten bestehen und von Pausen durchsetzt sein. Außerdem müssen nicht alle Stimmen eines Musikstückes am Kanon beteiligt sein. Er kann mit einer oder mehreren freien Stimmen kombiniert werden. Das Ergebnis kann dann sehr komplex ausfallen, und ist möglicherweise als Kanon ohne weiteres gar nicht mehr erkennbar.
Musik: Brice Pauset - "Trois canons canons pour piano - III"
Für solche Kanons, die nicht in naiver Freude das Wunder der Mehrstimmigkeit feiern, sondern im Gegenteil ihre technische Beschaffenheit verbergen, kennt die Musikgeschichte zahlreiche Beispiele. Brice Pauset nennt den ersten Kanon aus Bachs "Kunst der Fuge", den vierfachen Proportionskanon aus Pierre de la Rues Missa "L'homme armé", der in vier verschiedenen Geschwindigkeiten gleichzeitig abläuft, und den ersten Satz der Sinfonie op.21 von Anton Webern. Da es hier um Klavierkanons geht, hätte er auch noch Robert Schumanns "Studien in Kanon-Form" erwähnen können, die als romantische Charakterstücke perfekt getarnt sind.
Verschleierte Kanons
Aufschlussreich ist aber vor allem der Hinweis auf Webern: Die Konstruktion des ersten Satzes seiner Sinfonie mit zwei gleichzeitig, jeweils in Gegenbewegung ablaufenden Kanons schafft einen dichten Zusammenhang, der sich aber dem Ohr gar nicht mitteilt. Zu hören ist eine ganz durchscheinende, geradezu pointilistische Musik. Solche Erfahrungen kann man auch mit Brice Pausets Kanons machen: Hier die Nr.2 aus der ersten Gruppe, 1989 entstanden.
Musik: Brice Pauset - "Trois Canons pour piano - II"
Brice Pausets "Trois canons" entstanden 1989, noch während seiner Studienzeit. Veranlasst durch einen wie er schreibt "plötzlichen und brutalen Trauerfall", war der ursprüngliche Impuls dieser Musik ein Ausdrucksbedürfnis: Die Transformation der Trauer in eine "schwebende, durchsichtige, kristalline Musik". Auch hierin folgt Pauset Webern, der die aphoristische Kürze vieler seiner Stücke ja auch durch Verdichtung, nicht durch Reduktion erreichte.
Dass seine Kanons nicht als rein technische Etüden gedacht sind, darauf weist Brice Pauset zu Recht mehrfach hin. Vielmehr geht es um eine existentielle Erfahrung: Die objektive Realität, die in der strengen Gesetzmäßigkeit der Kanon-Form repräsentiert ist, und die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist bei großen, komplexen Kanon-Strukturen natürlich immer das zentrale Problem, aber Pauset formuliert es mit besonderer Konsequenz. Bei den "Fünf Kanons", die er 1990, also unmittelbar nach dem Erstversuch entwarf, wurde es offenkundig. Ausgangspunkt war die "Missa prolationum", ein Hauptwerk des großen Renaissance-Kontrapunktikers Johannes Ockeghem: Ein Stück, dessen vier Stimmen nicht nur durchgängig in zwei parallel ablaufenden Kanons organisiert sind, sondern sich zudem in vier verschiedenen Taktarten bewegen.
Die Grenzen des Machbaren
Brice Pauset dachte das Prinzip in radikaler Weise weiter, konzipierte fünf Kanon-Studien, die jeweils drei völlig unterschiedlich ausgearbeitete Perspektiven auf dasselbe musikalische Material gleichzeitig präsentierten - nur waren sie völlig unspielbar. Es brauchte zwölf Jahre und das stetige Zureden seines Pianisten Nicolas Hodges, bis der Komponist sich die fünf Stücke noch einmal vornahm. Er war dabei entschlossen, nicht einfach eine spielbare Reduktion herzustellen, sondern die Stücke neu zu konzipieren: Der utopische Überschuss des Konstruktiven wird nun gleichsam in das Feld des Spieltechnisch-Virtuosen übertragen, und bewegt sich auch dort wieder am Rande des Machbaren. Es sind "Etudes d'exécution transcendantes" in der Tradition Liszts. Stücke, die die Möglichkeiten von Spieler und Instrument eigentlich überschreiten. Tatsächlich finden sich auch die expressiven Gesten des romantischen Klavierstiles, sie wirken wie ein befreiender Ausbruch aus dem strengen Kanon-Diskurs.
Musik: Brice Pauset - "Cinq Canons pour piano - III"
Kanon mit Goldgrund
Als der Komponist sich 2010 erneut mit der Materie beschäftigte, ging es ihm darum, einen Aspekt zu offenbaren, der in den früheren Kanon-Studien allenfalls im Hintergrund, gleichsam ex negativo, eine Rolle spielte: Das Vokale, die kontinuierliche Klangproduktion, die für die lineare Entfaltung eines Kanons in der Renaissance-Polyphonie eine Voraussetzung ist. In Brice Pausets Kanons hingegen dominierte zunächst das perkussive Element, das ja auch dem Klavier eigen ist: Ein Ton kann nicht gehalten werden, er wird angeschlagen und verklingt. Im Kanon-Zyklus von 2010, den "Sept canons", wird das Problem auf eine überraschende Weise angegangen: Stumm niedergedrückte Tasten öffnen neue Resonanzräume, und die zerklüfteten Kanon-Landschaften scheinen wie hinterfangen vom Goldgrund einer kontinuierlichen harmonischen Progression.
Musik: Brice Pauset - "Sept canons pour piano - I"
Das in den "Sept canons" von 2010 erprobte Prinzip wird in den neun kurzen Kanon-Studien, die zwischen 2004 und 2010 entstanden, noch einmal aufgegriffen. Auch hier wieder eine Grenzüberschreitung: Der Einsatz des Pedals, schreibt Brice Pauset, sei entscheidend. Die physischen Grenzen des Instruments werden transzendiert, indem seine Resonanzphänomene systematisch erforscht werden.
Musik: Brice Pauset - "Neuf canons pour piano - VIII"
Die vier Kanon-Zyklen von Brice Pauset werden von Nicolas Hodges denkbar kompetent dargeboten. Ohne sein beständiges Nachfragen, ohne seine Bereitschaft auch, sich mit dieser musikalisch wie spieltechnisch schwierigen Materie auseinanderzusetzen, wäre der Zyklus vielleicht erst gar nicht zu diesen Dimensionen gediehen. Die Booklet-Texte stammen vom Komponisten selbst, geben also authentischen Aufschluss über Absicht und Gestaltung.
Idee und materielle Wirklichkeit
Es ist eine zweite CD beigelegt, mit nur 23 Minuten bespielt, aber definitiv mehr als ein Bonus-Track. Erneut geht es um den Kanon, doch ist das Klavier mit Live-Elektronik kombiniert. Das menschliche Lebensparadox ist hier in ein Spiel wechselnder Perspektiven übertragen: "Perspectivae sintagma I (canons)" ist der Titel. Der objektiv richtige Notentext ist im Computer hinterlegt, jede noch so kleine Abweichung des Pianisten wird in Echtzeit live-elektronisch verarbeitet: Das Ergebnis ist eine synthetische Version derselben Passage der Partitur, die der Pianist eben spielt. Diese Version ist zwar nicht identisch mit der idealen Partitur, sie verweist aber auf die Divergenz von Idee und materieller Wirklichkeit. Der Pianist, indem er seine Perspektive auf die Wirklichkeit vorträgt, wirkt damit auch zugleich auf die Wirklichkeit ein und verändert sie. Und bleibt doch in dieser Matrix gefangen.
Musik: Brice Pauset - "Perspectivae syntagma I (canons)"
Brice Pauset - "Canons" heißt die Doppel-CD, die beim Label WERGO erschienen ist. Sie enthält neben den vier Kanon-Zyklen für Klavier die Komposition "Perspectivae Sintagma I (canons)". In diesem letztgenannten Stück ist neben dem Pianisten Nicolas Hodges auch das elektronische Studio des IRCAM in Paris beteiligt.
Brice Pauset: "Canons pour piano"
Nicolas Hodges, Klavier
IRCAM Conputermusic design
CD Wergo WER 7365 2 (2 CD)
LC 00846
Nicolas Hodges, Klavier
IRCAM Conputermusic design
CD Wergo WER 7365 2 (2 CD)
LC 00846