In Ungarn gibt es keinen Platz mehr für Selbstironie. Das weiß András Fekete-Győr seit seiner jüngsten Begegnung mit der Propagandamaschine der Regierung. Ernüchtert schaut er von seinem Handybildschirm auf. Gerade hat er seiner Mitstreiterin Anna Donath eine kurze Videosequenz gezeigt.
"András war kürzlich mit ein paar Freunden in den Bergen. In dem Film versucht er vergebens, einen verschneiten Weg hinaufzusteigen, und fällt schließlich auf die Nase. Er wollte sich selbst ein wenig auf die Schippe nehmen und stellte die Szene auf Instagram – mit dem Spruch: Wir geben niemals auf."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Leeres Label? Liberale Parteien in Europa.
Aber jemand wie Fekete-Győr kann so etwas nicht tun, ohne eine Gegenreaktion zu provozieren. Der junge Budapester ist ein lautstarker Kritiker von Viktor Orbán und Chef der Momentum-Partei, mit der er Ungarns Regierungschef früher oder später aus dem Amt drängen will. Sein Bergvideo landete umgehend auf den Websites der regierungsfreundlichen Presse.
"Der Typ aus Budapest verlässt die Stadt, und guckt nun, was passiert. Die Konservativen machen gern Witze auf Kosten derer, die machtlos sind, ein bisschen unsicher vielleicht. Solche Leute hassen sie."
"Hier ist Anna in Haft, hier liegt sie auf dem Boden"
András Fekete-Győr und seine Parteivize Anna Donath haben sich auf einen Kaffee in eine der Ruinenbars gesetzt, für die Budapest berühmt ist. Der hohe Raum ist mit gebrauchten Möbeln eingerichtet und mit Kunst aus Sperrmüll dekoriert. Ihr Parteibüro liegt direkt darüber. Momentum ist eines der jüngsten Mitglieder der ALDE-Partei und will im Mai einen Sitz im Europäischen Parlament ergattern.
Europas Liberale schmückt es, die Frontkämpfer gegen die von Orbán ausgerufene "illiberale Demokratie" in ihren Reihen zu haben. Die jüngsten Proteste in vielen ungarischen Städten gegen Orbáns Arbeits- und Sozialgesetze, die größten seit Jahren, gingen auch von Momentum und ihren Mitstreitern aus.
"Here's Anna, here's Anna arrested, here she is on the floor."
Fekete-Győr hat wieder sein Handy hervorgeholt und zeigt die Szene, in der Anna Donath auf einer Demonstration Mitte Dezember nach einer Rede eine Rauchgranate zündet und anschließend von der Polizei zu Boden gerissen wird. Dadurch wurde sie zur Ikone der Proteste.
"Es war der zweite Tag der Proteste und die Polizisten wurden schon aggressiver, sie sprühten Tränengas, die Menge war laut und wütend. In dem Moment stand ich einfach da und hielt die Rauchgranate hoch. Ganz ungefährlich, die verbreitet einfach lila Rauchschwaden. Aber ein Polizist riss mich nach hinten. Dann steckten sie mich acht Stunden in eine Zelle."
Orbán-Plakate kapern mit Momentum
Es geht eine Treppe hoch in dem weitläufigen Altbau, in die Parteizentrale von Momentum, mitten im Zentrum Budapests. Die drei Zimmer schmückt einzig der alte Parkettboden, sie sind noch karg eingerichtet. Nur ein paar gerahmte Momentum-Plakate hängen an der Wand. Auf einem Regal haben die Aktivisten eine Art Widerstandsschrein errichtet, mit Fotos von vergangenen Aktionen. In der Mitte prangt ein manipuliertes Plakat aus einer Anti-EU-Kampagne von Orbáns Fidesz-Partei.
"Das war die ´Stoppt Brüssel´-Kampagne der Regierung. Wir haben daraus mit Aufklebern ´Stoppt Moskau´ oder ´Stoppt Orbán´ gemacht. Die Aktion war sehr beliebt, sogar Rentner und Kinder haben mitgemacht."
Fekete-Győr ist schmal, trägt ein legeres Hemd und hat seinen dunklen Scheitel ordentlich gelegt. Donath hat ein graues Wollkleid an. Nur die Anstecknadel auf Fekete-Győrs Parka gibt ihm etwas Aufwieglerisches. Bis vor kurzem residierte Momentum noch in einem urigen Kellergeschoss, von wo aus sie auch ihren ersten Sieg gegen Orbán feierten: Vor zwei Jahren sammelten sie so viele Unterschriften gegen die ungarische Olympia-Bewerbung für 2024, dass der sportvernarrte Orbán einknickte und sie kurzerhand zurückzog.
Dieser junge Ungar habe den Regierungschef aufgeschreckt, schrieb ein wichtiges Nachrichtenportal über Fekete-Győr. Bei der ungarischen Parlamentswahl im April des vergangenen Jahres holte Momentum noch drei Prozent der Stimmen. Seither ist der Zuspruch in Umfragen auf über fünf Prozent gestiegen.
"Wir sind die einzige Partei, die es seitdem geschafft hat, zuzulegen."
ALDE ist die "lauteste Opposition" zu Orbán in Europa
Anna Donath und András Fekete-Győr haben beide im europäischen Ausland gelebt. Donath in den Niederlanden, Fekete-Győr in Paris, Brüssel und Berlin. Sie sprechen vor allem für die junge, gut ausgebildete Generation, die aus Ungarn ein modernes europäisches Land machen will. Viele davon leben wie sie einst im Ausland. Momentum will sie überzeugen, wieder nach Ungarn zu kommen.
"Wir haben uns ALDE angeschlossen, weil sie Orbáns lauteste Opposition in Europa ist. Wir teilen auch die progressiven Vorstellungen. ALDE gilt ja als liberale Partei, ist aber sehr vielfältig. Und das ist Momentum auch. Es gibt einen liberalen Grundkonsens, aber wir haben auch Mitglieder mit starken sozialdemokratischen oder konservativen Überzeugungen."
Fekete-Győr habe 2010 selbst Fidesz gewählt, berichtet er, sei aber während seines Jurastudiums im Ausland schnell enttäuscht gewesen.
"Heute wenden sich auch viele ab und haben das System satt. Sie fragen sich aber, was Widerstand bringen soll. Und denen zeigt die europäische Aufmerksamkeit, dass hier mehr auf dem Spiel steht als die Zukunft unseres kleinen Landes."
Rechnungshof ermittelt wegen Betrugsverdachts
Der Europawahlkampf wird durch eine Untersuchung des Rechnungshofs erschwert. Der hat Zuschüsse eingefroren, ein Betrugsverfahren wurde eingeleitet. Passend dazu erschienen Berichte in regierungsnahen Medien, die Momentum Korruption und Intransparenz vorwerfen.
"Wir sind neu, wir sind transparent, wir sind schlau und haben unseren eigenen Kopf. Im Moment haben wir noch fünf Prozent in Umfragen, aber irgendwann werden wir mehr Leuten gefallen. Wir wissen, dass auch Fidesz-Wähler mit Momentum sympathisieren. Fidesz muss uns also angreifen, und damit müssen wir heute leben."
Durch die Europawahl erhofft Momentum sich Aufwind für die Regionalwahlen im Herbst. Dann will die Partei anders als bisher mit anderen kooperieren. Gemeinsam wollen sie versuchen, Fidesz zu schlagen.