Bei vielen Proust-Kennern und -Liebhabern wird die bewährte Gesamt-Übersetzung von Eva Rechel-Mertens aus dem Jahre 1957 im Regal liegen. Doch liest sich der erste Band der "Recherche" in der neuen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer gut, wenn man sich ihrem Duktus und Cursus anvertraut, meint Astrid Nettling.
Es war Rainer Maria Rilke, der bereits 1914 an den Insel-Verlag geschrieben hatte:
"Ein sehr bedeutendes Buch ist da. Marcel Prousts 'Du côté de chez Swann', ein unvergleichlich merkwürdiges Buch von einem neuen Autor; sollte eine Übersetzung angeboten werden, wäre sie unbedingt zu nehmen."
Doch erst 1925 erscheint dieser erste Band der "Recherche" unter dem Titel "Der Weg zu Swann" in einer Übersetzung des Schriftstellers Rudolf Schottlaender. Nach einer vernichtenden Kritik des Romanisten Ernst Robert Curtius wird das Übersetzungsprojekt jedoch gestoppt. 1953 dann beauftragt der Suhrkamp Verlag Eva Rechel-Mertens, eine Schülerin von Curtius, mit der ersten Gesamtübersetzung des Romans, die die deutsche Leserschaft mit dem Jahrhundertwerk bekannt macht und 1957 ihren Abschluss findet. Nun ist Band 1 "Auf dem Weg zu Swann" in der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erschienen.
"Ich war sehr vertraut mit der Übersetzung von Rechel-Mertens und eigentlich auch immer zufrieden damit, bis ich mich dann schließlich mal an den französischen Text gewagt habe, und da schlug mir irgendwie eine ganz andere Stimme ans Ohr, die mir auch mehr entgegenkam, nüchtern, klar konturiert und freundlich amüsiert. Diese andere Stimme wollte ich gern zu Gehör bringen."
(Bloch) hatte gleich zu Anfang meinen Vater verärgert, der ihn durchnässt hatte ankommen sehen und ihn interessiert gefragt hatte: "Aber, Herr Bloch, was ist denn für ein Wetter, regnet es denn?" Er handelte sich damit diese Antwort ein: "Monsieur, ich bin gänzlich außerstande Ihnen zu sagen, ob es regnet. Ich lebe so entschieden jenseits der physikalischen Zufälligkeiten, dass meine Sinne sich nicht die Mühe machen, mich zu benachrichtigen." "Tja, mein armer Junge, dein Freund ist ein Idiot", hatte mein Vater zu mir gesagt, nachdem Bloch gegangen war. "Also, wirklich!, er kann mir nicht einmal sagen, was für Wetter ist! Dabei gibt es nichts, was interessanter wäre!"
"Gerade bei der direkten Rede hatte ich oft den Eindruck, dass die Leute in Prousts Text bei Weitem nicht so literarisch reden, wie in den bisherigen Übersetzungen. Natürlich der erzählende Text, Proust selbst, der ist ja hochgradig literarisch, aber die Leute selbst sprechen, das ist nicht direkt Alltagsjargon, aber es ist eben doch der Umgangssprache sehr viel näher. Und diesen Unterschied sollte man eben auch deutlich machen."
Als Leser wohlvertraut mit der ausgewogenen Prosa von Eva Rechel-Mertens lässt der direktere, zupackendere Sprachduktus in der neuen Übersetzung aufhorchen. Nicht nur in der direkten Rede mit ihren charakterisierenden Sprechweisen und unterschiedlichen Tonfällen, ebenso in den mokant dekouvrierenden Personenzeichnungen, bei denen Proust kein Blatt vor den Mund nimmt – so etwa in der Schilderung des unterwürfigen Heuchlers Legrandin:
Er vollführte eine tiefe Verbeugung und gleich darauf eine zweite Bewegung nach hinten. Durch dieses plötzliche Aufrichten durchlief eine Art üppiger, muskulöser Welle den Hintern von Legrandin, den ich mir gar nicht so fleischig vorgestellt hatte.
Übersetzt Fischer. Rechel-Mertens hatte formuliert: "Diese rasche Straffung der Wirbelsäule löste in Legrandins Rückseite, die ich nicht für so fleischig gehalten hätte, eine wogende Muskelbewegung aus." Proust selbst spricht von "croupe", also von "Hinterteil", und keineswegs dezent nur von "Rückseite". An anderer Stelle schildert er, wie in jungen Jahren und stets von dem Gedanken gequält, dass ihm das nötige Talent zum Schreiben fehle, der Anblick dreier Glockentürme, die er in der Umgebung von Combray sieht, bei ihm einen kreativen Erkenntnisschock auslöst. "Bald darauf war es, als ob ihre Umrißlinien und besonnten Flächen wie eine Schale sich öffneten und etwas, was mir in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen ließen", heißt es in der bisherigen Übersetzung. Nun findet sich im Original weder die hypothetische Als-ob-Konstruktion, noch ein die Erkenntniswucht abmilderndes Sich-Öffnen einer Schale, sondern die Linien und Flächen "se déchirèrent comme une sorte d'écorce". Was jetzt textgenau lautet: "Schon bald zerrissen ihre Linien und ihre besonnten Flächen wie eine Kruste". Und einige Seiten zuvor hatte sich der junge Ich-Erzähler recht ungestüm vernehmen lassen: "(Ich) schrie in meiner Begeisterung: "Zack, zack, zack" und schwang dazu meinen wieder geschlossenen Regenschirm", während er seiner Begeisterung bei Rechel-Mertens eher moderat "in lautem Jauchzen Luft" machte. Durchgehend bestimmt ein unverblümter und auf Prousts Stimme genau hinhorchender Tonfall Fischers Neuübersetzung, was dem Text Frische und Plastizität verleiht und ihm seinen bisherigen manchmal zu gepflegten, weichzeichnenden Sprachduktus nimmt. Auch verzichtet die Neuübersetzung auf syntaktische Glättungen und sprachliche Raffungen, wie Rechel-Mertens sie hin und wieder vornimmt.
"Der deutsche Leser hat sich, glaub' ich, seit den 50er-Jahren sehr gewandelt. Er hat sich an ein viel breiteres Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten und Darstellungsmöglichkeiten gewöhnt. Denken Sie nur an die harte Schnitttechnik in den Filmen. Das lernt der Betrachter und kann dann auch mit Texten anders umgehen, sodass man nicht so viel Öl in die Syntax reinzuträufeln braucht, wie Rechel-Mertens das macht, damit es dann auch runtergeht. Proust mutet seinen französischen Lesern auch dies und das zu."
Rund zehn Jahre brauchte es für die Rohübersetzung der gesamten "Recherche" einschließlich des ausführlichen und aufschlussreichen Kommentars, den Fischer jedem der insgesamt sieben Bände angefügt hat, und noch weitere zwei Jahre für die Nachbearbeitung. Eine lange Zeit – aber schließlich sind es mehr als 4.000 Seiten Text mit seinen verschachtelten und scheinbar nicht enden wollenden Satzperioden.
"Für mich als Linguist ist anspruchsvolle Syntax eher ein Hochgenuss, damit herumzujonglieren fällt mir nicht so schwer. Schwieriger wird es dann, die richtigen Wörter zu finden. Nehmen Sie mal den ganz einfachen Fall dieser verschiedenen Genuszuordnungen im Deutschen und im Französischen. Dieser Weißdorn, den Marcel so feminin beschreibt und mit Maria assoziiert, der ist auch im Französischen feminin 'aubépine'. Aber im Deutschen kommen Sie um diesen männlichen Weißdorn einfach nicht herum. Das bringt eine unvermeidliche Schiefigkeit in den Text. Da hab' ich ewig gesucht, wie man das bereinigen könnte, aber no way. Ein anderer Aspekt ist natürlich noch der Klang der Wörter. Und da stellt einem die Vielsilbigkeit des Deutschen oft ein Bein, sodass man auch da nach Alternativen suchen muss, vielleicht dass man was findet, was mit 'ner Silbe weniger auskommt, damit der Satz kompakt wird."
Was aber ist mit jener nahezu legendären Passage, die selbst dem Nichtkenner des Romans bekannt sein dürfte? Jene Stelle, wo der Ich-Erzähler ein Stückchen in Lindenblütentee getunkte Madeleine zu Munde führt. Was ihm ein regelrechtes Initialerlebnis beschert, das den Anstoß gibt für die gesamte "Suche nach der verlorenen Zeit". "Et tout d'un coup le souvenir m'est apparu" – "Und dann mit einem Mal war die Erinnerung da", übersetzt Rechel-Mertens pointiert. In der neuen Übersetzung heißt es: "Und dann ist mir ganz plötzlich die Erinnerung erschienen." Eine Formulierung, die auf den ersten Blick befremdet. Denn anders als im Französischen 'erscheint' eine Erinnerung im Deutschen eigentlich nicht. Warum also dieses starke Verb 'erscheinen'?
"Wenn man die ganze 'Suche' kennt, weiß man, wie sehr er allegorisiert, und wie sehr er diese Erinnerung praktisch als eine Person begreift. Und so bei meinem Verständnis des Textes, dass Marcel, wie er diesen Tee trinkt, tatsächlich eben eine Erscheinung hat, dass diese Erinnerung fast dinglich vor ihm hintritt. Das wird dann ja auch ein paar Sätze später verdeutlicht, wenn er sagt, dass sich – jetzt Combray – entfaltet wie eine dieser Papierkugeln, die die Japaner ins Wasser werfen. Also, da ist so ein dingliches Verständnis dahinter, dass ich dachte, ich könnte das mit dieser Übersetzung von 'apparaître' als Erscheinung einfangen.
Und wie in jenem Spiel, mit dem die Japaner sich vergnügen, indem sie in eine wassergefüllte Porzellanschale kleine, zunächst unscheinbare Papierstückchen tauchen, sind nun all die Blumen in unserem Garten und in dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen der Vivonne, die guten Leute des Dorfes und ihre kleinen Häuser, die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles was Form und Gestalt annehmen kann, aufgestiegen aus meiner Tasse Tee.
Er liest sich gut, der erste Band der "Recherche" in der neuen Übersetzung, wenn man sich ihrem Duktus und Cursus anvertraut und sich auf ihre straff und markant zeichnende Sprache einlässt. Man darf gespannt sein auf die noch folgenden sechs Bände. Wie sich dieser 'neue' Proust gegenüber der bewährten Übersetzung von Rechel-Mertens behaupten wird, wird die Zeit zeigen, und das heißt nicht zuletzt eine jüngere Leserschaft. Und möglicherweise auch ein gewandeltes Proustverständnis, das den Roman nicht in erster Linie als eine Chronik der Belle Époque begreift, sondern ihn als eine Chronik des Lebens liest mit all seinen vielfältigen Facetten.
"Das scheint mir auch ein wichtiger Anlass zu sein, eine Neuübersetzung herauszubringen. Es kommt nicht darauf an, ihn in seiner Zeit zu verhaften, denn die Conditio humana ist ja auch nichts, was zeitgebunden ist, sondern die Sprache entwickelt sich weiter, und die literarischen Texte müssen sich mit dieser Sprache auch weiterentwickeln. Also, man muss sich den Text zu eigen machen, um ihn zu besitzen."
Marcel Proust, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1 Auf dem Weg zu Swann". Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam Stuttgart, 2013. 694 S., 29,95 Euro