Sandra Schulz: Auch in Italien hat es bei der Regierungsbildung in dieser Woche ja eine überraschende Wendung gegeben: Das Bündnis aus Fünf-Sterne-Bewegung und der rechten Lega, das schien ja schon vor dem Scheitern zu stehen, dann wurde die Mannschaft aber noch mal umgruppiert. Der umstrittene Ökonom und Euro-Gegner Savona wird jetzt doch nicht Finanzminister, und gestern vereidigte Staatspräsident Mattarella die neue italienische Regierung unter Führung des parteilosen Giuseppe Conte. Aus Europa kamen Gratulationen und Respektbekundungen, nachdem es vorher rhetorisch in der Woche aber hoch hergegangen war. Jetzt wird Italien also von einem Bündnis regiert, dessen Kitt vor allem die Europaskepsis ist. Wie damit umgehen, darüber können wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Matthias W. Birkwald von der Partei Die Linke, im Bundestag stellvertretender Vorsitzender der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe. Schönen guten Tag!
Matthias W. Birkwald: Schönen guten Tag, Frau Schulz!
"Ich plädiere für Verhandlungen"
Schulz: Wie finden Italien und die EU jetzt wieder zusammen?
Birkwald: Zunächst muss man erst mal erwähnen, warum es zu dieser Krise gekommen ist. Wir müssen feststellen, dass unter dem Sozialdemokraten Renzi es Reformen gegeben hat, die von der EU und auch von der deutschen Bundesregierung begrüßt worden sind, die aber in weiten Teilen zulasten breiter Teile der Bevölkerung gegangen sind. Da ist Kündigungsschutz stark eingeschränkt worden, da gab es die Rente erst ab 67 als Anhebung und als Kürzung, da gab es eine Kürzung der Steuerprogression, das heißt, die Reichen zahlten nicht mehr so viel Steuern, andere mehr, und in der Konsequenz sind aus 15 Millionen armut- oder armutsbedrohten 18 Millionen armutsbedrohte Italiener geworden. Es gab eine Frontalkollision des allgemeinen Gewerkschaftsbundes CGIL mit der italienischen Regierung und vieles mehr. Und aus dieser Situation heraus hat Italien jetzt ein solches auch als katastrophal zu benennendes Wahlergebnis bekommen und eine Koalition, in der Rassisten in der Regierungsverantwortung sind. Das gilt zumindest für die rechtsextreme Lega, und auch die andere Partei, der Cinque Stelle, ist es keine Formation, von der man sagen kann, dass sie ein breites politisches Programm hätte, was durchgerechnet sei. Also das ist schwierig, und ich plädiere für Verhandlungen und gegen jedwede Form von Arroganz, und wenn sich dann der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger hinstellt und sagt, die Märkte werden Italien den Weg weisen, dann ist das ausgesprochen dumm, denn solche Äußerungen, solche Einmischungen werden in Italien bei der nächsten Wahl dazu führen, dass die Lega noch mehr Stimmen bekäme, und das wäre schlecht.
"Was macht diese Regierung richtig, was falsch?"
Schulz: Ja, jetzt ist für mich der Zeitpunkt gekommen, dafür zu plädieren, mich auch mit einer Zwischenfrage mal reagieren zu lassen. Herr Birkwald, Sie haben jetzt die Ursachen skizziert. Der Vollständigkeit halber müsste man vielleicht auch sagen, dass diese Reformen, die es in Italien gegeben hat, dass die nicht "out of the blue" kamen, sondern mit der Ursache, dass es ja diesen gigantischen Schuldenberg gibt von mehr als zwei Billionen Euro. Das wollte ich jetzt aber nur als Einschub sagen. Sie haben jetzt quasi unser ganzes Thementableau schon einmal skizziert. Wenn wir jetzt noch mal zurückkommen zur EU und zu den Äußerungen, zu dem Appell, der jetzt heute kommt von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker für einen respektvollen Umgang mit der italienischen Regierung, wie soll dieser respektvolle Umgang mit den Rassisten von der Lega aussehen?
Birkwald: Na zum einen nicht so wie sein Vizepräsident Jyrki Katainen das gesagt hat. Der hat nämlich gesagt, man werde sich nicht in die Regierungsbildung in Italien einmischen, aber zugleich hat er betont, dass es für kein Land Ausnahmen vom Stabilitäts- und Wachstumspakt geben werde, und das ist dann nicht unbedingt besonders respektvoll, denn Italien braucht öffentliche Investitionen. Wenn Italien aus der Misere herauskommen will, dann muss die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, und dazu sind öffentliche Investitionen unbedingt notwendig.
Schulz: Aber Herr Birkwald, Sie antworten jetzt wieder damit, was jetzt in der letzten Woche kommunikativ sicherlich auch schiefgelaufen ist. Was ist denn Ihr konstruktiver Vorschlag? Wie sollen diese Respektbekundungen aussehen an einer Regierung, an der aber sicherlich viele andere Regierungen in Europa einfach auch sehr viel Kritik haben?
Birkwald: Die Kritik, die habe ich auch. Also wenn in Italien beispielsweise jetzt eine Sozialpolitik gemacht werden soll nach dem Motto, Italien den Italienern zuerst und dort ein System eingeführt werden soll, was dem deutschen Hartz IV sehr ähnlich ist, was in der Öffentlichkeit aber als bedingungsloses Grundeinkommen diffamiert wird und falsch wiedergegeben wird, diese sozialstaatliche Neuerung, aber ausschließlich für italienische Staatsangehörige geben soll, dann kritisiere ich das als diskriminierend und als ausländerfeindlich und dergleichen vorneweg, und ich kritisiere natürlich auch, dass vorgesehen ist, in dem übrigens ersten Koalitionsvertrag, den es in Italien gibt – das war früher in Italien nicht üblich –, ich kritisiere auch, dass es nur zwei Steuersätze geben soll und damit Flat Tax und das nach unten geht, da habe ich auch jede Menge Kritik, aber – und das gehört zu einem respektvollen Umgang hinzu – man muss dann eben auch das Positive benennen. Wenn es in Italien bis dato keine Sozialhilfe im engeren Sinne gibt, also so ein System, was ich als Linker hart kritisiere – Hartz IV in Deutschland –, das gibt es in Italien nicht. Wenn da eine Mindestsicherung eingeführt werden soll, dann muss man das erst mal positiv benennen. Genauso wie ich es für richtig halte, dass das Renteneintrittsalter eben nicht auf 67 angehoben wird. In Italien war es bis dato so, dass man nach 41 Beitragsjahren in den Ruhestand treten durfte, und das ist eine deutlich lange Zeit. Also insofern finde ich, muss man schauen, was macht diese Regierung im Einzelnen, und was macht sie richtig, und was macht sie falsch. Wenn sie die Erhöhung der Mehrwert streicht, dann ist das etwas, wo ich sage, das ist in Ordnung, weil die Mehrwertsteuer wird im Wesentlichen von denen mit den kleineren Portemonnaies bezahlt. Also respektvoller Umgang heißt, genau hinschauen, kritisieren, was zu kritisieren ist, und gegebenenfalls auch als positiv zu bewerten, was sie positiv hinkriegt.
"EU-Austritt im Koalitionsvertrag nicht mehr vorgesehen"
Schulz: Ja, den Punkt habe ich verstanden, und Ihre Sicht ist ja sicherlich auch eine andere als die vieler Regierungen in der Europäischen Union, aber wie soll es jetzt möglich sein, nachdem wir diese Empfindlichkeiten ja gespürt haben aus Italien und nachdem ja auch der Befund klar auf dem Tisch liegt, dass, wenn Europa seinen Mund sozusagen nur zentimeterweit öffnet, dass das in Italien für noch mehr Europaskepsis sorgt. In welcher Form soll die Kritik an dem italienischen Schuldenberg denn dann geäußert werden?
Birkwald: Die generelle Frage ist, ob die bisherige Austeritätspolitik der Europäischen Union zielführend ist für die gute Entwicklung eines Landes und vor allen Dingen, ob sie der Mehrheit der Bevölkerung nutzt, und wie wir in Griechenland gesehen haben, ist das nicht oder nur zum Teil der Fall, und deswegen gibt es in Italien eben auch eine Skepsis gegen die Fortführung dieser Austeritäts- und Konsolidierungspolitik. Die ist aus meiner Sicht auch eine der Ursachen für die Stagnation. Ich weiß, dass das in weiten Teilen europäischer Regierungen, auch der unsrigen, anders gesehen wird, und dennoch, obwohl das in Italien so gesehen wird, wollen die älteren Menschen auf jeden Fall auch in der EU verbleiben, und der EU-Austritt ist in dem aktuellen Koalitionsvertrag der neuen Regierung auch nicht mehr vorgesehen. Das war ja einmal in der Diskussion. Im Übrigen ist auch der Schuldenschnitt von 250 Milliarden Euro, der in einer ersten Fassung dieses Koalitionsvertrags zu finden war, von der Koalition jetzt nicht aufgenommen worden. Das heißt, die neue Koalition, so schwierig sie auch ist, und so widersprüchlich sie aus meiner Sicht auch ist, ist schon ein Schritt zugegangen hin auf die Europäische Kommission, und das muss jetzt von der anderen Seite ebenso erfolgen.
Schulz: Sagt Matthias W. Birkwald von der Partei Die Linke im Bundestag, stellvertretender Vorsitzender der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe und heute Mittag hier bei uns im Deutschlandfunk. Danke dafür!
Birkwald: Ich danke Ihnen! Schönen Tag allerseits!
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