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Auslese | Neue Sachbücher
Die Macht der Gedanken

Der Mensch hat durch Erfindungen und Fortschritte immer wieder die Welt verändert und sich an veränderte Bedingungen angepasst. In ihren neuen Büchern beschreiben Stefan Klein und Tim Parks Innovationen aus der Vergangenheit und Aussichten für die Zukunft - immer auf der Suche nach dem menschlichen Bewusstsein.

Ralf Krauter im Gespräch mit Dagmar Röhrlich und Michael Lange |
Historische Zeichnung eines Kopfes mit unterschiedlich eingefärbten Bereichen des Gehirns.
Eine phrenologische Karte des menschlichen Gehirns, veröffentlicht 1924 in London (imago images / Design Pics / Ken Welsh)
Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen haben eine kulturelle Evolution befeuert, die uns allen anderen Lebewesen auf der Erde überlegen gemacht hat. Wir haben das Feuer gezähmt, die Kunst erschaffen, Mathematik und Philosophie erfunden, Infektionskrankheiten besiegt und den Weltraum erobert. Kreativität und Genialität, Improvisationstalent und Kooperation sind der Motor der Entwicklung unserer Zivilisation.
In ihren aktuellen Sachbüchern schildern die Bestsellerautoren Stefan Klein und Tim Parks, wie der menschliche Geist fliegen lernte – und in welche Höhen uns unser Bewusstsein künftig noch tragen könnte.
Die Buchcover der Bücher "Wie wir die Welt verändern" von Stefan Klein und "Bin ich mein Gehirn?"
Stefan Klein: Wie wir die Welt verändern. Eine kurze Geschichte des menschlichen Geistes
Eine Rezension von Dagmar Röhrlich
Lomekwi, am Westufer des Turkana-Sees in Kenia. Irgendwo in der Wüste dort hatten die französische Archäologin Sonia Harmand und ihr Team 2011 durch Zufall faustgroße Basaltsteine mit ungewöhnlich scharfen Kanten gefunden: Sie entpuppten sich als 3,3 Millionen Jahre alte Steinwerkzeuge. Damit stehen diese Faustkeile für den ersten bislang bekannten Schritt auf dem langen Weg unserer Art hin zu einer Kraft, die die Erde nach ihren Vorstellungen verändern sollte. Und in Lomekwi beginnt das neue Buch von Stefan Klein "Wie wir die Welt verändern". Es erzählt die Geschichte des schöpferischen Denkens – des Vermögens, Neues und Wertvolles zu schaffen.
Es ist eine Geschichte, die traditionell anhand von Individuen erzählt wird, von Genies wie Beethoven, Shakespeare, da Vinci, Newton oder Steve Jobs. Doch diese Sicht sei wirklichkeitsfremd: "Kreativität", schreibt Stefan Klein, "entfaltet sich nicht so sehr im Kopf eines Einzelnen, sondern in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit anderen Personen und ihren Gedanken".
Das schöpferische Denken braucht Kommunikation
Anhand etlicher Beispiele, die vom Selbstversuch bei der Faustkeilproduktion bis zur modernen Bonobo-Forschung reichen, führt der Autor aus, dass schöpferisches Denken Kommunikation braucht, Vorbilder, Lehrer. Es entspringe keinem "Originalgenie", sondern eher einem "kollektiven Gehirn", in dem das Wissen von Generationen gespeichert sei, die Erfahrungen zahlloser Menschen. Je mehr Menschen zusammenleben, umso größer und leistungsfähiger ist dieses kollektive Gehirn. Und je größer und leistungsfähiger das kollektive Gehirn, umso mehr Ideen werden entwickelt, die das Überleben erleichtern und so die Existenz von immer mehr Menschen erlaubten.
Mit einem Zuwachs des "kollektiven Gehirns" erklärt der Autor auch einen seltsamen Sprung vor 40.000 Jahren, als die Menschheit plötzlich neue Techniken einsetzte, präzise zu handhabende Steinmesser und Dolche schuf oder Musikinstrumente. Dabei dürfte die vielleicht am meisten unterschätzte Erfindung der Menschheit eine Rolle gespielt haben: die Kunst. Denn mit ihr lernte der Mensch mit Symbolen umzugehen – und das eröffnete ganz neue Entwicklungsmöglichkeiten und einen Fortschritt, der schneller und schneller ablaufen konnte.
Kreativität sprengt bekannte Konzepte
Stefan Klein spannt den Bogen von Kenyanthropus platyops, der anscheinend über Jahrtausende hinweg in Lomekwi seine Faustkeile gefertigt hat bis zu den Dilemmata, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen: Dass wir Künstliche Intelligenz entwickeln, Maschinen, die uns auf immer mehr Gebieten übertreffen werden und die uns Angst machen. Oder dass wir uns mit all unserer Technologie in eine Sackgasse manövriert haben: Wir haben die Erde so stark verändert, dass wir zu einer geologisch bestimmenden Kraft geworden sind – was durchaus unseren Untergang bedeuten kann.
Doch so muss es nicht enden, denn der Blick auf unsere Geschichte lehrt auch, dass der Mensch durchaus dazu in der Lage ist, ausgetretene Pfade zu verlassen und revolutionäre Konzepte zu entwickeln. Es gab immer wieder Momente, in denen Kreativität die bekannten Konzepte sprengte, Transformationen auslöste. Und hier kommen dann Menschen wie "R. Mutts" ins Spiel - dessen Urinal 1917 der Zündfunke der Moderne werden sollte. Denn es gibt sie durchaus, die Intuitionen, die Geistesblitze und auch die Geistesgrößen - nur, dass sie auf die Vorarbeiten von zigtausenden Generationen und zahllosen Menschen gründen.
Stefan Klein plaudert anregend über ein Thema, das - wie das Bewusstsein - immer noch zu den Mysterien des Geistes gehört. Sein Buch ist aufschlussreich, spannend, kurzweilig, steckt voller Ideen und überraschender Verknüpfungen - eine ideale Lektüre.
Wie wir die Welt verändern. Eine kurze Geschichte des menschlichen Geistes
Von Stefan Klein
S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 18 Euro.
Tim Parks: Bin ich mein Gehirn? Dem Bewusstsein auf der Spur
Eine Rezension von Michael Lange
Die meisten Neurowissenschaftler sind davon überzeugt, dass unser Gehirn aus den Signalen der Sinnesorgane ein Bild der Welt erzeugt. Dort im Innern des Schädels verorten sie auch die Quelle unseres Bewusstseins. Der Autor und Literaturprofessor Tim Parks stellt diese Grundannahme der Neurowissenschaften wortreich in Frage.
Sein Buch beginnt mit dem Aufwachen in einem Heidelberger Hotelbett. In allen Einzelheiten beschreibt Parks seine Wahrnehmungen und Gedanken. Als Leser begleiten wir ihn beim Frühstück, bei Gesprächen mit seiner Lebensgefährtin und schließlich auf dem Weg zu drei Menschen, die ihm bei der Suche nach dem Bewusstsein weiterhelfen können: Eine Psychologin, ein Philosoph und eine Neurowissenschaftlerin.
Schwachstellen des neurowissenschaftlichen Weltbildes
In den Gesprächen stellt er immer wieder gekonnt die Konzepte und Sprachbilder der Wissenschaft in Frage. Er hört aufmerksam zu, und mit seinen philosophischen Zwischenfragen bringt er seine Gesprächspartner nicht selten in Erklärungsnöte, besonders dann, wenn diese das menschliche Gehirn ausschließlich als eine Art Computer beschreiben, als Instrument, das Informationen verarbeitet. So macht er gekonnt auf die Schwachstellen des neurowissenschaftlichen Weltbildes aufmerksam.
Dabei wird deutlich, dass er selbst wenig von Neurowissenschaften versteht. Biologische Vorgänge im Nervensystem interessieren ihn wenig. Begeistert ist er hingegen von der "Spread Mind Theorie" seines Freundes und Kollegen Riccardo Manzotti, der sich vom Roboter-Experten zum Psychologen und schließlich zum Philosophen weiterentwickelte. Diese Außenseitertheorie besagt, dass das Bewusstsein nicht im Gehirn entsteht, sondern im Zusammenwirken von Objekten der Außenwelt und dem Menschen mit seinem Gehirn. Das Konzept spielt mit Begriffen, liefert aber keine naturwissenschaftlich fundierten Erklärungen.
Philosophische Gedankenspiele und keine neuen Erkenntnisse
Tim Parks erweist sich als hervorragender Beobachter und Fragensteller. Doch wenn er mehr und mehr zum Verteidiger der "Spread Mind Theorie" wird, werden seine Erklärungen unkonkret und schwer verständlich. Wenn er immer wieder behauptet, es gebe keine Bilder oder Farben im Gehirn, setzt er sich über unzählige Beobachtungen und Forschungsergebnisse hinweg, die aufzeigen, wie die Wahrnehmung von Bildern, Gerüchen oder Geräuschen im Gehirn abläuft. Die verschiedenen Wahrnehmungswelten und die Rolle des Gehirns dabei hat der Neurologe Oliver Sacks in seinen Büchern eindrucksvoll und leicht verständlich beschrieben.
Tim Parks kommt bei seiner Suche nach dem Ursprung des Bewusstseins leider nicht voran, weil er sich an einer wenig fundierten Außenseitertheorie festklammert. Auf die zugegeben oft schwer interpretierbaren Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungen lässt er sich nicht ein. Es bleibt bei philosophischen Gedankenspielen. Und so stimmt sein gut lesbares Buch zwar nachdenklich und stellt wichtige Fragen, bringt aber keine neuen Erkenntnisse zur Entstehung des Bewusstseins.
Bin ich mein Gehirn? Dem Bewusstsein auf der Spur
Von Tim Parks
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker
Verlag Antje Kunstmann, 304 Seiten, 25.00 Euro.
Außerdem empfiehlt das Sachbuch-Trio folgende Bücher:
Außerirdisch: Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten
Von Avi Loeb
Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Schröder
DVA, 264 Seiten, 22.00 Euro.

Avi Loeb von der Universität Harvard hat eine fixe Idee, mit der er in der Fachwelt aneckt. Er ist überzeugt, dass es sich bei dem interstellaren Objekt ´Oumouamoua, das 2017 unser Sonnensystem durchquert hat, um Relikte außerirdischer Hochtechnologie handelt: Um ein Alien-Raumschiff oder eine Erkundungsboje einer hochentwickelten Zivilisation. Schlüssige Beweise für seine gewagte These bleibt der Astrophysiker schuldig. Doch sein Plädoyer, die Fakten unvoreingenommen zu interpretieren, Denkblockaden abzulegen und künftig viel systematischer als bisher nach Spuren von außerirdischem Leben im All zu suchen, wirkt so überzeugend, dass die Lektüre dennoch lohnt. (Ralf Krauter)
Das Jahrhundert der Pandemien. Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19
Von Mark Honigsbaum
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus und Susanne Warmuth
Piper Verlag, 480 Seiten, 24.00 Euro.

Wie in den Jahrtausenden zuvor wurde die Menscheit auch in den vergangenen 100 Jahre immer wieder von Seuchen heimgesucht, mit teilweise verheerenden Folgen - wie bei der Spanischen Grippe, die am Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach. In Los Angeles wütete die Lungenpest, AIDS breitete sich über die Erde aus, SARS war die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts, Zika ging um die Welt und jetzt Disease X, Covid-19. Der Medizinhistoriker und Journalist Mark Honigsbaum erzählt in seinem Buch "Das Jahrhundert der Pandemien" von insgesamt neun Ausbrüchen. Er lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, beschreibt Einzelschicksale, folgt den Forschern in ihre Labore. Mark Honigsbaum hat ein faszinierendes Buch über ein gerne beiseite geschobenes Thema geschrieben: Wenn uns die vergangenen 100 Jahre – und nicht nur sie – etwas gelehrt haben, dann, dass neue Krankheiten und Virenstämme uns unweigerlich heimsuchen werden, egal wie hoch entwickelt die Wissenschaft wird. (Dagmar Röhrlich)
Die Pflanzen und ihre Rechte: Eine Charta zur Erhaltung der Natur
Von Stefano Mancuso
Klett-Cotta, 160 Seiten, 18.00 Euro.

Der bekannteste Botanik-Professor Europas fordert mehr Aufmerksamkeit für Pflanzen. In seinem kleinen Büchlein betrachtet Mancuso das Leben auf unserem Planeten aus pflanzlicher Perspektive. Eine wirkliche Verfassung, die Überlebens- oder Freiheitsrechte für die Botanik auflistet und juristisch formuliert, hat er jedoch nicht verfasst. Sein Buch klingt eher wie ein engagiertes Plädoyer. Lesenswert. (Michael Lange)