Birgid Becker: 2005, als Hartz IV eingeführt wurde, erwies sich die Software, die die Leistungen steuern sollte, als wahres Desaster. Hartz-IV-Bezieher mussten zum Teil wochenlang auf ihre Bescheide warten. Nun soll die alte Software Schritt für Schritt in allen 304 Jobcentern abgelöst werden durch eine neue. "Allegro" heißt sie; in der Langfassung: "ALG2-Leistungsverfahren Grundsicherung Online". Im April soll der Testbetrieb beginnen. Zwar soll die neue Software parallel zur alten eingeführt werden, um die Probleme des Startjahres 2005 zu vermeiden. Dennoch kommt es in den Jobcentern zu einer Menge Mehrarbeit durch die EDV-Umstellung - womöglich zu so viel Mehrarbeit, dass über diese Umstellung auch die Hartz-IV-Auszahlungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten? Das habe ich vor der Sendung den Vorsitzenden der Personalräte in den Jobcentern, Uwe Lehmensiek, gefragt: Gefährdet die Software-Umstellung die Hartz-IV-Zahlungen?
Uwe Lehmensiek: Das ist natürlich jetzt Spekulation. Aber das ist unsere größte Sorge, dass das passiert, denn was wir machen, ist die Grundsicherung. Danach kommt nichts mehr. Und wenn das Geld nicht fließt, das gibt Aggression und Gewalt, das wollen wir verhindern. Deswegen ist das unsere größte Sorge, dass es mit der Zahlung nicht klappt.
Becker: Und was konkret heißt das nun, wenn gesagt wird, die Software wird umgestellt? Was konkret muss da gemacht werden?
Lehmensiek: Das bedeutet zunächst einmal, dass man auf einen aktuellen Stand kommt. Erst mal die Akten, die im Rückstand sind, müssen abschließend bearbeitet sein. Dann müssen die zentralen Personendaten geprüft werden. Das ist in dem neuen System ganz wichtig, weil auf eine Datei, auf eine Datenbank zugegriffen wird, die erst überprüft werden muss, dass sie inhaltlich richtig ist. Da ist noch viel nachzuarbeiten. Dann heißt die Umstellung, dass das Personal geschult werden muss, einmal die Trainer über zehn Tage und dann jeder einzelne Beschäftigte noch eine ganze Woche. Dann geht erst die Umstellung los, und das besondere dabei ist, dass wir alles manuell eingeben müssen, dass es keinerlei Datenmigration gibt, und das bedeutet natürlich auch, dass Fehler gemacht werden können, was dann zu den eben angesprochenen Zahlungsschwierigkeiten führen kann.
Becker: Läuft eigentlich jetzt die Umstellung neben dem regulären Tagesgeschäft?
Lehmensiek: Ja, das ist so und das kann auch schlecht am Wochenende gemacht werden, weil die Beschäftigen sind in der Regel mit ihren Überstunden am Limit, haben ihre Arbeitszeitkonten ausgereizt. Es gibt in den Leistungsbereichen hohe Krankenstände, sodass eine zusätzliche Belastung mit Überstunden eigentlich auch nicht denkbar ist, und deswegen muss das parallel und nebenbei laufen.
"Kein zusätzliches Geld für Personal"
Becker: Das neue Software-System gilt ja dann für die Ermittlung von Ansprüchen an die Jobcenter und für Auszahlungen. Kann man sagen, wie viel Geld für wie viele Menschen davon betroffen ist?
Lehmensiek: Es sind bundesweit pro Jahr über 30 Milliarden Euro und das betrifft viereinhalb Millionen erwerbsfähige Menschen und deren minderjährige Kinder unter 15. Fünf, sechs Millionen Menschen sind davon abhängig.
Becker: Gibt es denn im Haushalt der Bundesagentur Geld für zusätzliches Personal? Sind neue Stellen bewilligt im Zusammenhang mit der Software-Umstellung?
Lehmensiek: Nein, es sind keine Stellen bewilligt, auch für das Personal, das die Schulung durchführt, kein zusätzliches Geld bewilligt. Das machen wir praktisch alles im Haus. Es werden ausgewählte Kolleginnen und Kollegen geschult. Dort wo einzelne Jobcenter jetzt zusätzlich Personal einstellen, da ist das eine örtliche Entscheidung, und das wird finanziert im Rahmen dessen, was im Budget zur Verfügung steht, für beispielsweise befristete Beschäftigte für Sonderaufgaben.
Becker: Ist das eine Situation, mit der Sie zufrieden sind, oder hätten Sie sich gewünscht, dass im Zuge der Umstellung es auch zu Entfristungen vorhandener Stellen kommt oder zur Umwidmung von Stellen kommt, die dann für die Software-Umstellung zur Verfügung stehen?
Lehmensiek: Wir hätten und wir haben uns gewünscht und gefordert, dass zumindest vorübergehend mehr Personal eingestellt wird. Viele Jobcenter-Personalräte haben das auch entsprechend berechnet und gefordert. Dem wurde nicht immer gefolgt. Aber was wir in diesem Zusammenhang auch immer wieder fordern, ist, endlich die Stellen, die wir im Jobcenter haben, zu entfristen. Wir haben vor einem Jahr 25.000 Unterschriften gesammelt und im Ministerium überreicht, weil wir damals auch noch einen Befristungsanteil von weit über zehn Prozent hatten. Wir fordern, jetzt endlich den Personalkörper zu stabilisieren und vor allem – und das ist auch Voraussetzung – das Budget, das Verwaltungskosten-Budget so auskömmlich anzusetzen, dass wir nicht immer die Mittel vom Eingliederungstitel, von den Geldern für die Integration der Erwerbslosen verwenden müssen, um die Lohnkosten hier zu bezahlen.
Becker: Sie sagten, sie würden hoffen, dass die Umstellung ohne diese Folge bei der Leistungsauszahlung geschieht. Umgekehrt: Ist denn gewährleistet, dass es zur pünktlichen Auszahlung der Gelder kommt, dann, wenn die Systemumstellung auf Hochtouren läuft?
Lehmensiek: Die Bundesagentur und die Vertreter derjenigen, die da sich auch technisch auskennen, sagen immer wieder, dass sie davon ausgehen, dass es problemlos ist. Wir hören andere Aussagen dazu. Es gibt immer die Möglichkeit, noch Barauszahlungen zu machen in den Jobcentern. Das passiert auch jetzt schon, wenn Zahlungen nicht rechtzeitig in dem derzeitigen System angewiesen werden.
Becker: Wie groß ist Ihre Sorge, dass es zu Auszahlungsproblemen in der Umstellungsphase kommt?
Lehmensiek: Meine Sorge ist groß mit Blick auf die Ballungsräume, auf die Großstädte, und da hoffe ich, dass ich mich täusche.
Becker: Uwe Lehmensiek war das, er ist der Vorsitzende der Personalräte in den Jobcentern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.