Papst Franziskus hat eine neue Sozialenzyklika unter dem Titel "Fratelli tutti" veröffentlicht - "Alle Brüder". Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Praktische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, und vor allem ist sie dort tätig im Bereich christliche Gesellschafts- beziehungsweise Soziallehre.
Benedikt Schulz: Liebe Frau Nothelle-Wildfeuer, wie brüderlich können Sie sich fühlen als Frau?
Ursula Nothelle-Wildfeuer: Ich sollte mich brüderlich fühlen, das heißt, mit eingeschlossen fühlen. Der Titel ist der Anlass, der schon vor der Veröffentlichung der Enzyklika ja für viel Aufsehen gesorgt hat. Ich hätte mir einen Titel gewünscht, bei dem ich nicht nur mitgedacht, sondern tatsächlich auch mitgenannt wäre. Wir haben sofort aus dem Vatikan gehört, das sei ein Zitat des heiligen Franziskus, und deswegen könne man das nicht ändern. So gesehen stimmt es. Ich denke nur, man hätte natürlich im Bewusstsein, dass nicht nur in Deutschland und nicht nur in den deutschsprachigen Kontexten, sondern an vielen Stellen dieser Welt diese Thematik durchaus virulent ist, einen Titel finden können, der in Anspielung, aber nicht im Zitat auch die Schwestern mit aufnimmt.
Schulz: Im Vorfeld wurde viel spekuliert. Jetzt bewegt sich das, was drin steht, im Rahmen dessen, was man erwarten konnte. Gab es etwas, was Sie überrascht hat? Gab es etwas, was ihnen fehlt?
Nothelle-Wildfeuer: Ja, es gibt viele Detailprobleme, die genannt werden. Da kann man jetzt sagen: In der Liste fehlt noch dies und das. Ich komme gleich dazu, was mir fehlt. Aber ganz wichtig und überraschend ist für mich dieser Punkt, den er doch relativ ausführlich macht, zu Krieg und Friedensethik und auch zu der Frage, wie Versöhnung zwischen Völkern und Volksgruppen gehen kann, also dieses starke Insistieren auf Dialog und immer wieder auch mit Worten ausfechten, Positionen finden. Der Begriff des Kompromisses fällt nicht. Aber im Sinne einer guten ethischen Argumentationsfigur läuft das darauf hinaus, sich zu verständigen. Zum Krieg finden wir dort die ganz klare Aussage: "Nie wieder Krieg". Damit sagt er deutlich: Was die Tradition der Ethik eigentlich kennt, nämlich die naturrechtlich begründete Rede vom gerechten Krieg, geht nicht mehr. Er sagt: Die technischen Möglichkeiten im Blick auf Waffen einerseits und zum anderen das, was man sich als Gründe dann immer wieder zurechtgelegt hat andererseits, macht sehr deutlich, dass das einfach nicht mehr geht, weil der Schaden auf jeden Fall einen potenziellen Nutzen überwiegt.
Nicht mehr ganz so überraschend, aber doch, dass es unter der Perspektive Geschwisterlichkeit noch drinsteht, ist der Punkt zur Todesstrafe. Was er ja im Sommer 2018 als Änderung des Katechismus auch schon deutlich verkündigt hatte, das sagt er jetzt hier noch einmal: Todesstrafe und auch lebenslange Haftstrafe gehen nicht unter dieser Perspektive, dass jedem die Würde unverbrüchlich zukommt, also aus seiner Perspektive und christlich begründet.
Schulz: Dann gehen wir mal in die Kritik. Was fehlt Ihnen?
Nothelle-Wildfeuer: Was mir fehlt, ist als erstes das, was aus unserem innerkirchlichen Diskussionskontext bei ihm sonst immer angeklungen ist: die Verbindung zwischen Ethik und Ekklesiologie. Will heißen: Was Kirche in die Gesellschaft hinein als Empfehlung gibt oder, wie er sagt, als "demütigen Beitrag" einbringt, ist rückgebunden an unser eigenes System innerhalb der Kirche oder an die Strukturen in der Kirche, an die Debatten dort. Wohlwissend: Wir können eigentlich nur dann glaubwürdig sein, wenn wir uns an den gleichen eigenen Kriterien messen lassen.
Zu wenig Selbstkritik
Schulz: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Papst Franziskus an der Stelle zu wenig selbstkritisch, was die eigene Institution angeht.
Nothelle-Wildfeuer: Ja. Nun kann man in klassisch sozialethischer Tradition sagen: Na ja, die Sozialenzykliken sind immer das Instrument gewesen, sich mit Problemen der Gesellschaft zu beschäftigen. Das, was innerhalb der Kirche passiert, ist eigentlich noch in keiner Sozialenzyklika Thema gewesen. Aber er hat es selbst so oft miteinander verbunden, und ich meine, mit großem Recht. Die Kirche hat keine Glaubwürdigkeit in diesen Fragen, wenn sie sich nicht selber auch messen lässt daran. Wir merken es ja an der Debatte um die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter.
Schulz: Im Mittelpunkt dieses Textes steht die Erzählung vom barmherzigen Samariter. Man kann sie deuten als Aufforderung, anderen zu helfen im Alltag, als individuelle Aufforderung. Der Papst deutet sie sozusagen als kollektive, als politische Forderungen auch im internationalen Maßstab. Kann das überzeugend sein? Kann das der Komplexität von Politik und vor allem auch Weltpolitik annähernd gerecht werden?
Nothelle-Wildfeuer: Ich glaube, das ist interessant, dass er das so macht, weil es gerade in der Debatte um Flucht und Migration theologisch und auch sozialethisch und politisch auch immer wieder Äußerungen gab, dass dieses Gleichnis eigentlich nur auf der individuellen Ebene überhaupt verfängt und auf der strukturellen institutionellen Ebene gar keine Bedeutung hat. Das greift er auf und bringt sogar ein Beispiel, indem er sagt: Wenn jemand einem älteren Menschen über den Fluss hilft, dann ist das individualethisch Nächstenliebe. Wenn ein Land oder eine Kommune eine Brücke baut und damit langfristig eine Struktur schafft, dann ist das genauso Ausdruck dieser Nächstenliebe. Er macht sehr deutlich: Es geht ihm darum, dass auch politische Maßnahmen orientiert sind an dem, was die Menschen wirklich brauchen.
Schulz: Aber das würde doch jeder Politiker und jede Politikerin von sich behaupten, dass dem schon jetzt so ist. ist das nicht ein bisschen naiv, jetzt zu fordern: Grundiert eure politischen Entscheidungsprozesse mit Liebe?
Nothelle-Wildfeuer: Wenn man das so oberflächlich sieht und sagt, jeder mache das ja schon, dann ist es naiv und auch nicht neu. Wenn man aber seine Analyse im Hintergrund hat, also was beispielsweise Populismus und wieder aufkommende engstirnige Nationalismen betrifft, wenn man diese Analyse sieht, dann ist schon klar, was er als als Kontrastfolie im Hintergrund hat und wozu er dann sagt: Es darf euch nicht vorrangig darum gehen, Mehrheiten zu kriegen oder in den sozialen Medien soundsoviel Klicks oder solche oberflächlichen Erfolgskriterien, sondern es muss tatsächlich darum gehen, dass das Gemeinwohl - das weltweite, das jeweils nationale Gemeinwohl - im Vordergrund ist. Das macht er dann sehr differenziert, wie wir es von ihm kennen, an der Frage nach den Flüchtlingen deutlich. Da ist Politik gerade nicht der Ort, wo es um die Menschen geht.
"Keine Deutungshoheit, sondern Demut"
Schulz: Wir sind noch mitten in der Corona-Zeit. Ist die Frage, wie wir eigentlich nach Corona leben wollen, auch ein bisschen der Versuch von Franziskus, für die katholische Kirche in dieser Post-Corona-Zeit eine gewisse Gestaltungshoheit zu sichern? Will er Bewegung in seine stagnierende Amtszeit bringen?
Nothelle-Wildfeuer: Wenn ich das jetzt bejahen würde, würde es sich das für mich zu sehr anhören nach einem Versuch für die Kirche zu retten, was zu retten ist. So lese ich diesen Text überhaupt nicht. Die Corona-Zeit spielt natürlich eine wichtige Rolle. Aber die Arbeit an der Enzyklika war offensichtlich schon angefangen, dann kam Corona dazwischen, so dass es das Brennglas oder die Lupe ist, unter der er die Probleme, die er versucht zu analysieren, noch einmal deutlicher gesehen hat. Er will auch nicht für die Kirche eine Deutungs- oder Gestaltungshoheit sichern, sondern es fällt der für unsere Zeit jedoch sehr ungewöhnliche Begriff der Demut, aus der heraus er einen Beitrag zu einer Gesellschaftsordnung, zu einer Neugestaltung von Welt und Gesellschaft leisten will, die eben einen anderen Fokus als nur Technokratisches und Institutionelles hat. Da, glaube ich, gehe es nicht um das, was er für sich oder für die Kirche daraus schlagen will.
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