Christoph Heinemann: Ob Josif Dschugaschwili ein guter Priester geworden wäre, wenn er es denn gewollt hätte, darf man mit Recht bezweifeln. In der Zeit im Priesterseminar der georgischen Hauptstadt Tiflis entwickelte sich der Musterschüler zum Marxisten. Der Psychopath machte später unter dem Namen Stalin Karriere. In seiner Verachtung des menschlichen Lebens stand Stalin seinem braunen Spießgesellen in Berlin in nichts nach. Engste Mitarbeiter ließ er erschießen, seine ideologische Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik bedeutete für Millionen Menschen den Tod und auch seinen Anteil an der größten Leistung der Sowjetunion, dem Kampf gegen Hitler-Deutschland, sollte man nicht überbewerten. Ohne Stalin wäre die Wehrmacht möglicherweise gar nicht erst bis vor Moskaus Tore gelangt.
"Mit einem Modell der Welt, das auf dem Prinzip des Klassenkampfes beruht, konnte er die Komplexität der Wirklichkeit ignorieren und seine Opfer verachten", schreibt Oleg Chlewnjuk in seinem Buch "Stalin - eine Biografie", das Ende dieses Monats in deutscher Sprache erscheinen wird. Unsere Osteuropa-Korrespondentin Sabine Adler hat den russischen Historiker getroffen.
Sabine Adler: Ich würde gern mit dem letzten Satz in Ihrer Biografie beginnen. Es ist eine Frage. Sie lautet: Kann es sein, dass Russland im 21. Jahrhundert in Gefahr schwebt, die Fehler des 20. Jahrhunderts zu wiederholen? Wie sehr ist das tatsächlich eine Frage und nicht als Feststellung gemeint?
Oleg Chlewnjuk: Ich glaube nicht, dass es in der modernen Welt noch einmal eine solche Diktatur und diese Repressionen wie in den 30er-Jahren gibt. Aber es besteht die Gefahr, dass der Staat noch einmal Gelüste entwickelt, die Menschen zu unterjochen und der Mensch nichts zählt und dass jeder, der sich nicht den Interessen des Staates unterordnet, zum Feind erklärt wird. Unter Stalin wurden in den 30er-Jahren 700.000 Menschen erschossen. Damit ist die heutige Zeit natürlich nicht zu vergleichen. Aber der autoritäre Staat, die Missachtung der Demokratie sind Rückfälle.
Adler: Ich sehe eine Parallele bei dem Ausdruck "ausländischer Agent" für Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen.
Chlewnjuk: Es ist eine gefährliche Wortwahl. Denn damit beginnt die Teilung in unsere und jene. Und jene werden dann verfolgt.
Adler: Die Beziehung Putins zu Stalin ist eine besondere. Der russische Präsident hat vor russischen Geschichtslehrern erklärt, wie Stalin zu sehen ist. Er hat den Hitler-Stalin-Pakt entschuldigt. Hat es sich dabei um eine Form von Kollaboration gehandelt?
Chlewnjuk: Putin ist Politiker und als solcher weiß er sehr gut, dass es in Russland eine ganze Menge Menschen gibt, die vielleicht nicht Stalin-Fans sind, ihn aber doch positiv sehen. Deswegen äußert sich Putin nicht in scharfer Form über Stalin. Andererseits weiß er, dass es viele gibt, die Stalin verurteilen, und deswegen bewegt er sich von Zeit zu Zeit auf sie zu. In Moskau wird ein neues Gulag-Museum eröffnet. Stalin hat den Pakt nicht aus Verehrung zu Hitler geschlossen, sondern weil er hoffte, dass das im russischen Interesse ist. Er dachte lange, dass Hitler keine zweite Front eröffnet und Russland sich raushalten kann.
"Das Wichtigste war, dass die Sowjetunion nicht in den Krieg gezogen wird"
Adler: Verstehe ich Sie richtig, dass das keine Form von Kollaboration war?
Chlewnjuk: In bestimmtem Sinne schon, aber jedes Land verfolgt seine Interessen. Hitler wollte sein Hinterland sichern bei dem Überfall auf Polen, Stalin wollte dieses neue Territorium in Polen. Das Wichtigste aber war, dass die Sowjetunion nicht in den Krieg gezogen wird. Deutschland, Frankreich und England sollten sich gegenseitig bekämpfen und darüber die Sowjetunion vergessen.
Adler: Oleg Chlewnjuk, Sie haben fünf Jahre an der neuen Stalin-Biografie gearbeitet. Wie nötig war sie für Russland? Es scheint doch so, dass alles bekannt ist.
Chlewnjuk: In Russland ist es die erste neue wissenschaftliche Stalin-Biografie seit 30 Jahren. Wir konnten dafür eine riesige Menge von Archivmaterial nutzen, Erinnerungen verschiedener Personen und Dokumente. Und all das musste jemand zusammenführen.
Adler: Gab es dabei Überraschungen?
Chlewnjuk: Wir haben all die Jahre geglaubt, dass die Massenerschießungen viel geheimer und weniger offen vonstattengingen. Aber wir haben Dokumente gefunden über die Planung, wie viele Menschen in den Regionen verhaftet und erschossen werden mussten. Dann wurden die Pläne von Moskau geändert, neue Vorgaben gemacht. Es war wie ein Produktionsplan von Brot, Möbeln oder Kohle. Interessant waren auch die Briefwechsel mit seinen engsten Mitarbeitern. Er hat Katz und Maus mit ihnen gespielt, sich urplötzlich in ihre Zuständigkeiten gemischt, Fehler gesucht und ihnen vorgehalten. Kleinste Fehler bauschte er auf. Interessant sind die Informationen über seinen Gesundheitszustand. Er hatte oft Angina, Magenbeschwerden, er litt an Arthritis und an Sklerose, woran er letztlich starb, er hatte einen Schlaganfall.
"Es gibt Dokumente, die beweisen, dass er persönlich Folter angeordnet hat"
Adler: Gab es versuche, ihn umzubringen?
Chlewnjuk: Nein. Wir wissen zwar von einigen Situationen, die hätten gefährlich werden können, aber es waren nicht wirklich Anschläge gegen ihn.
Adler: Die wichtigste Frage, die sich einfache Leute und vielleicht auch Experten stellen, ist doch die, warum er so brutal war.
Chlewnjuk: Er wusste genau, was vor sich ging, und es gibt Dokumente, die beweisen, dass er persönlich Folter angeordnet hat. Seine Kindheit war überhaupt nicht hart, er war das einzige Kind, die Mutter liebte ihn, er konnte lernen, wo andere Kinder arbeiten mussten. Die Revolution, die vielen Gefängnisaufenthalte und Verbannungen haben ihn hart gemacht, vor allem der Bürgerkrieg, in dem er an Erschießungen teilgenommen hat. Besonders brutal ging er gegen die Bauern vor, das war ein Dogma der Sozialisten, denn sie glaubten, dass man mit Bauern keinen Sozialismus errichten könne. Und seine Vorstellung, dass es im Land viele Feinde gibt, die man vernichten muss, bevor sie einen selbst vernichten. Der Mensch, das Leben war kein Wert für ihn, das einzig Wertvolle war der Staat. Wer dem Staat nicht dient, den kann man töten.
Adler: In Deutschland hat die Aufarbeitung rund 20 bis 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Wie wichtig ist es, dass Russland mit der Aufarbeitung dieser Zeit beginnt?
Chlewnjuk: Das wäre wichtig, aber es kann nicht stattfinden wie in Deutschland, denn die Sowjetunion hat gegen die Nazis gewonnen. Es gab Institutionen wie den Geheimdienst, der Verbrechen begangen hat, aber er gilt dennoch nicht als verbrecherische Organisation insgesamt. Denn die Mitarbeiter waren zwar an den Repressionen beteiligt, haben aber auch an der Front gekämpft und haben die Nazis besiegt. Somit wurde das System nicht verurteilt, sondern es wurde sogar legitimiert.
Adler: Was sollen die Leser aus Ihrem Buch lernen?
Chlewnjuk: Die Leute sollen wissen, was in der Sowjetunion in den 30er- bis 50er-Jahren geschah. Dass Stalin wieder so populär ist, liegt an fehlendem Wissen über diese Zeit. Die Leute denken sich aus, wie gut dieser Stalin wohl war, wie gut man unter ihm gelebt hat, wie sozial gerecht es zuging, dass er von einem Sieg zum anderen eilte, dass es Beamte gab, die nicht stahlen. Wer aber weiß, wie Stalin und seine Zeit tatsächlich waren, möchte sie nicht mehr zurück haben. Die Beamten haben auch unter Stalin viel besser gelebt als der Durchschnitt, die Nomenklatura war nicht weniger schrecklich, denn sie hatten alle Macht, um über Leben und Tod eines x-beliebigen Bürgers zu entscheiden. Sie dagegen waren juristisch praktisch unantastbar. Stalin interessierte der Kampf gegen Korruption überhaupt nicht, ihm ging es ausschließlich um politische Säuberungen, alles war politisch motiviert.
Heinemann: Sabine Adler im Gespräch mit dem russischen Historiker Oleg Chlewnjuk. Seine Stalin-Biografie erscheint Ende des Monats in deutscher Sprache.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.