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Neue Studie zu sexuellem Missbrauch
"Unrecht muss als Unrecht benannt werden"

Betroffene sexualisierter Gewalt möchten, dass jemand Verantwortung übernimmt für die Taten, dass Akteneinsicht gewährt und Entschädigung gezahlt wird. "Mitleid wollen die Betroffenen nicht", sagt die Soziologin Barbara Kavemann, Autorin einer neuen Studie.

Barbara Kavemann im Gespräch mit Monika Dittrich |
Schatten einer Hand einer erwachsenen Person und der Kopf eines Kindes an einer Wand eines Zimmers.
Wenn Kinder Opfer sexualisierter Gewalt werden, begleitet sie das häufig ihr ganzes Leben lang (dpa / Patrick Pleul )
Monika Dittrich: Seit 2016 gibt es die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs". Ihre Aufgabe ist es, Art und Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder in der Bundesrepublik und der DDR aufzudecken. Egal, wo Kinder zu sexuellen Handlungen genötigt wurden – in der Familie, im Sportverein, im Ferienlager, in kirchlichen Institutionen. Ausdrückliches Ziel ist es, das Leid und das Unrecht, das den Betroffenen widerfahren ist, anzuerkennen – und durch Aufarbeitung und Öffentlichkeitsarbeit Kinder in Zukunft besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen.
Die Professorin Barbara Kavemann ist Mitglied dieser Kommission; sie ist Soziologin und Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen in Freiburg. Sie hat ein Forschungsprojekt geleitet zur Frage, welche Erwartungen Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch an die gesellschaftliche Aufarbeitung haben. Heute werden die Ergebnisse der Studie veröffentlicht und ich kann schon jetzt mit Barbara Kavemann darüber sprechen. Guten Morgen nach Berlin!
Barbara Kavemann: Guten Morgen Frau Dittrich.
Dittrich: Frau Kavemann, das ist eine lange und ausführliche Untersuchung, die Sie heute veröffentlichen werden. Was ist das wichtigste Ergebnis – also: Was ist für Menschen, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt haben, heute die wichtigste Erwartung beim Thema Aufarbeitung?
Kavemann: Die wichtigste ist, dass die Gesellschaft sich anstrengt. Dass sie ernst genommen werden, dass ihre Probleme gesehen werden, dass Unrecht als Unrecht benannt wird. Und dass sie die Unterstützung bekommen, die sie heute brauchen, damit es ihnen besser geht.
"Schuld ist ein problematischer Begriff"
Dittrich: Was bedeutet das, wenn Sie sagen, "dass Unrecht als Unrecht benannt wird"? Von wem erwarten die Menschen das?
Kavemann: Das ist unterschiedlich, je nachdem, wer getan hat, was getan worden ist. Wenn es zum Beispiel um sexuelle Übergriffe, sexuelle Gewalt, in Familien geht, dann wünschen sich Betroffene sehr stark eine Unterstützung, dass die Familie sich bekennt dazu, dass sie nicht geschützt hat. Ist die sexuelle Gewalt in Institutionen ausgeübt worden – wie zum Beispiel in kirchlichen Institutionen, in pädagogischen Institutionen -, dann erwarten Betroffene, dass diese Institution Verantwortung übernimmt für das, was passiert ist. Auch, wenn es bereits länger zurückliegt. Dass sie ernst genommen werden mit dem, was ihnen getan wurde. Und auch, dass Täter und Täterinnen zur Verantwortung gezogen werden.
Dittrich: Das sind ja zwei Sachen. Einmal das Bekenntnis zur Schuld – und das individuelle Zur-Verantwortung-Ziehen. Habe ich das richtig verstanden, dass es für viele Betroffene auch besonders wichtig ist, dass eine Institution wie die Kirche offiziell und öffentlich sagt: Wir haben Verantwortung, wir haben weggesehen, wir haben dieses Unrecht nicht verhindert?
Kavemann: Genau das ist es, genau darum geht es. Es geht um die öffentliche Verantwortungsübernahme. Von Schuld wird nicht immer gesprochen, Schuld ist ein problematischer Begriff, aber von Verantwortungsübernahme. Und Verantwortung bedeutet eben auch, dafür Sorge zu tragen zum Beispiel, dass Betroffene eine Einsicht bekommen in ihre Akten, wenn sie das wünschen – dass das zugänglich gemacht wird, dass das nicht verhindert wird. Dass die Institution offenlegt, was damals passiert ist und auch wirklich Anstrengungen und finanzielle Mittel da rein investiert, offenzulegen, was passiert ist.
"Verschweigen, Manipulation, Verleugnen"
Dass geschaut wird: Wie können Betroffene heute eine Unterstützung bekommen, dass sie mit den Folgen, die angerichtet wurden durch die Gewalt selbst, durch das lange Verschweigen, durch die Manipulation, durch das Verleugnen der Institution oder das Verleugnen von Familien, dass alles auf ihnen abgeladen wurde. Wie können sie heute eine Unterstützung bekommen, die angemessen ist und die ihnen tatsächlich weiterhilft? Manche fordern schlicht und einfach, sie sagen: Anerkennung wäre für mich, wenn die Gesellschaft dafür zahlt, dass ich jetzt Therapie brauche. Andere sagen: Anerkennung wäre für mich, wenn ich eine Entschädigung bekomme. Und andere sagen: Anerkennung wäre für mich, wenn die sich endlich entschuldigen.
Illustration: Ein Mann liegt auf einer Couch und spricht mit einer Therapeutin.
Opfer, Betroffene und Überlebende von Kindesmissbrauch sind auf mitunter langwierige Therapien angewiesen (imago/Ikon Images)
Dittrich: Das heißt, für viele geht es tatsächlich auch um eine finanzielle Wiedergutmachung.
Kavemann: Das ist durchaus für einige ein Thema. Wir haben eine qualitative Untersuchung geführt, keine – in dem Sinne – quantitative. Das heißt, wir haben vor allem das große Spektrum deutlich gemacht, wie unterschiedlich es sein kann, was Menschen brauchen. Und deshalb ist das Allerwichtigste, dass ihnen zugehört wird. Dass nicht, sagen wir mal, irgendwie geschaut wird: Ach, wir denken uns jetzt aus, was könnte für die Leute gut sein. Sondern dass sie angehört werden, das ist ja auch eine ganz wichtige Aufgabe der Kommission, und dass gehört wird, was sie sagen, was sie brauchen – und sie brauchen Unterschiedliches. Und da muss darauf reagiert werden. Das heißt, in alle Prozesse einer Institution, wenn aufgearbeitet wird, müssen Betroffene unmittelbar einbezogen werden und müssen ihre Sicht der Dinge einbringen können als leitend für den Prozess der Aufarbeitung.
Aufarbeitung ist immer ein Prozess, und zwar auf zwei Ebenen: Die Betroffenen müssen auf der einen Seite – und das haben sie uns gegenüber sehr deutlich gemacht -, sie müssen ihre eigene Geschichte bewältigen. Sie müssen bewältigen, was ihnen passiert ist damals, als Kind. Und sie müssen bewältigen, was das als Folgen alles nach sich gezogen hat. Und gleichzeitig haben sie den Blick auf die Gesellschaft und sagen: Und hier muss Verantwortung übernommen werden. Und wir müssen gesehen werden, wir müssen ernst genommen werden, wir müssen einbezogen werden.
"Gerechtigkeit - ein ganz großes Thema"
Dittrich: Kann das ein Ersatz sein für strafrechtliche Verfolgung, wenn Verjährungsfristen schon verstrichen sind? Kann es dann trotzdem ein Gefühl von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung geben?
Kavemann: Die Frage nach der Gerechtigkeit haben wir auch gestellt. Und da wird dann auch gerne gesagt: Oh, das ist aber eine schwere Frage. Gerechtigkeit, ein ganz großes Thema. Spontan wurde in den Interviews häufig geantwortet: Nein, Gerechtigkeit kann es nicht geben, man kann die Vergangenheit nicht ändern, man kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist.
Und trotzdem gibt es immer wieder Überlegungen dazu, wie könnte es sein, wenn Gerechtigkeit nicht erreichbar ist, aber dass doch zumindest die Verhältnisse etwas gerechter werden? Und da gibt es viele Möglichkeiten. Das hängt auch wiederum zusammen zum Beispiel mit einer Entschädigung. Das heißt, zu deutsch, mit einem Nachteilsausgleich. Wenn mir so viele Nachteile entstanden sind im Leben durch das, was mir getan wurde, weil ich so leiden musste unter den Folgen, dass mir ein Ausgleich gegeben wird. Oder aber Gerechtigkeit im Sinne von Strafe. Viele halten sehr viel von Strafe. Gleichzeitig dass sie sagen: Was wäre gerecht? Der müsste genau so leiden wie ich gelitten habe. Aber was würde das für einen Sinn machen? Das würde nur ein neues Opfer schaffen.
Deswegen ist die qualitative Arbeit, also die Interviewarbeit, hier so wichtig: Wir haben es mit einem Nachdenken über ganz zentrale gesellschaftliche Probleme zu tun. Und hier können wir sehr viel draus ziehen, was muss passieren? Und es dreht sich im Kern immer wieder um das Ernst-Nehmen, Anhören, Anerkennung geben.
Dittrich: Wenn Sie Anerkennung sagen, was ist der Unterschied in dem Fall zwischen Anerkennung und Mitleid? Also, auch in Ihrer Studie geht es ja sehr oft um Anerkennung von Leid und Unrecht – wo ist da die Grenze zwischen Anerkennung und Mitleid?
"Mitleid schreibt die Betroffenen auf einen Opferstatus fest"
Kavemann: Mitleid ist eine Haltung von oben herab – so wird es zumindest sehr oft empfunden. Mitleid schreibt die Betroffenen fest auf einen Opferstatus. Das ist etwas anderes als Mitgefühl oder als Empathie. Mitleid hat leicht etwas sehr Hierarchisches. Anerkennung bedeutet: Ich bin in einer Position, dass ich dir etwas geben muss. Dir ist etwas versagt geblieben, man hat dich nicht ernst genommen, man hat keine Konsequenzen gezogen. Man hat gesagt: Ach, ist alles lange her, ist alles vorbei. Man hat nicht gesehen, wie sehr du gelitten hast und zum Teil heute noch leidest – das gilt ja nicht für alle, aber für viele. Das heißt, Anerkennung bedeutet schlicht und einfach, Tatsachen zu sehen und entsprechend angemessen darauf zu reagieren.
Dittrich: Wenn wir bei den Tatsachen sind, würde ich gerne auch mit Ihnen über den Begriff "sexueller Missbrauch" sprechen. Der hat sich inzwischen durchgesetzt – obwohl er umstritten ist. Zum einen, weil er vorgibt, es würde auch einen zulässigen sexuellen Gebrauch von Kindern geben, zum anderen, weil die Gewalt, die damit verbunden ist, in diesem Begriff ja nicht vorkommt. Was sagen die Betroffenen dazu: Sind Sie mit dieser Formulierung einverstanden oder wäre es nicht auch eine Form der Anerkennung zu sagen: Man muss sagen, was ist – und im Zweifelsfall hat das eben mit Gewalt zu tun, man muss vielleicht gegebenenfalls auch von Vergewaltigung sprechen?
Kavemann: Ja, ich denke, wenn Vergewaltigung passiert, sollten wir auch von Vergewaltigung sprechen. "Sexueller Missbrauch" ist ja nun erst mal ein juristischer Begriff. Unser Strafgesetzbuch kennt das so – von daher benennt das eine Straftat, das ist nicht schlecht. Gleichzeitig ist es aber so: Wir führen diese Diskussion wirklich seit den frühen 80er-Jahren. Es ist schwer, das, was die sexuelle Gewalt, die sexuellen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche bedeuten, in einen passenden Terminus zu fassen. Kinder zum Beispiel können viel anfangen mit dem Begriff "sexueller Missbrauch".
"Gewalt" - Kinder und Jugendliche würden dann ganz häufig sagen, unter "Gewalt" verstehen sie etwas anderes, schwere körperliche Gewalt zum Beispiel. Betroffene selbst halten sehr viel von dem Begriff – also erwachsene Betroffene, entschuldigen Sie...
Dittrich: … die in der Kindheit das erlebt haben?
Kavemann: Ja, die das in der Kindheit erlebt haben. Die halten sehr viel von dem Begriff "sexuell Gewalt". Manche bevorzugen "sexualisierte Gewalt". Aber stärker noch wird eigentlich die Diskussion unter den Betroffenen geführt um den Opferbegriff. Soll man sie "Opfer" nennen? Oder sind das "Betroffene"? Oder sind das "Überlebende"? Und auch hier haben wir ein ganz breites Spektrum, je nachdem, was bevorzugt wird. Das hat viel mit der eigenen Situation zu tun. Also wenn sehr stark gekämpft wird zum Beispiel darum, endlich die Therapie finanziert zu bekommen oder endlich eine Entschädigung zu bekommen, dann steht der Opferstatus im Vordergrund.
Die Soziologieprofessorin Barbara Kavemann
Barbara Kavemann hat sich intensiv mit Opfern, Betroffenen und Überlebenden von Missbrauch auseinandergesetzt (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs)
Wenn Betroffene das hinter sich gelassen haben und haben gesagt, okay, das ist Teil meiner Vergangenheit, das bestimmt meine Gegenwart nicht mehr, bezeichnen sie sich als Betroffene. Einzelne entscheiden sich dafür und sagen: Ich bin Überlebende. Weil es hätte echt sehr gut sein können, dass ich es nicht geschafft hätte. Und so viele sind auf der Strecke geblieben und so viele haben sich das Leben genommen – ich bin Überlebende.
Das ist etwas sehr Persönliches. Und man kann natürlich jetzt gesellschaftlich oder medial nicht auf alle diese persönlichen Bevorzugungen reagieren, aber es ist ganz wichtig – und das hat unsere Untersuchung sehr deutlich gezeigt: Betroffene sind mehr als das "Opfer", und wenn sie in den Medien befragt werden, wenn sie im Interview sind, wenn sie in Talkshows sind, es ist nicht in Ordnung, die einzige Information zu ihnen zu geben: "Missbrauchsopfer". Das ist stigmatisierend.
Dittrich: Sagt die Soziologin Barbara Kavemann, sie ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Ihre Studie über die Erwartungen Betroffener an die gesellschaftliche Aufarbeitung wird heute veröffentlicht. Frau Professor Kavemann, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit heute Morgen!
Kavemann: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.