Dörte Hinrichs: Er ist noch druckfrisch, der gerade zwischen CDU/CSU und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag. Seine Überschrift klingt verheißungsvoll: "Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land". Was den letzten Punkt, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft betrifft, so hat sich zumindest in der Forschung dazu schon einiges getan. Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung haben Psychologen und Soziologen Menschen in ganz Deutschland dazu befragt. Herausgekommen ist eine Art Atlas des Zusammenhalts, der das Ausmaß und die unterschiedlichen Ausprägungen in den verschiedenen Regionen und auch im Bundesländervergleich sichtbar macht. Die Psychologin Dr. Regina Arant von der Jacobs University Bremen war maßgeblich an der Studie beteiligt und forscht auch aktuell weiter über den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit ihr habe ich kurz vor der Sendung gesprochen und wollte zunächst von ihr wissen, wie sich Zusammenhalt überhaupt messen lässt.
Regina Arant: Wir messen Zusammenhalt anhand von neun verschiedenen Dimensionen. Das heißt, wir gehen nicht davon aus, dass Zusammenhalt ein eindimensionales Konstrukt ist, sondern haben Zusammenhalt insgesamt über drei Bereiche definiert, die zum einen die sozialen Beziehungen umfassen, dann die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und die Gemeinwohlorientierung. Diese drei Bereiche lassen sich dann jeweils noch mal aufschlüsseln in einzelne Dimensionen. Bei den sozialen Beziehungen sind es zum Beispiel die sozialen Netze, das Vertrauen in die Mitmenschen, aber eben auch, inwieweit die Menschen Diversität oder Vielfalt in der Gesellschaft akzeptieren.
Großes Gefälle zwischen Bundesländern
Hinrichs: Warum ist eigentlich sozialer Zusammenhalt so wichtig?
Arant: Da gibt es ganz verschiedene Gründe für. Wir haben unterschiedliche Studien durchgeführt, und zwar haben wir verschiedene Länder miteinander verglichen und haben dann aber auch in Deutschland die Bundesländer verglichen, wie Sie schon eben gesagt haben, auch verschiedene Regionen und haben auch ganz kleinräumiges Gemeinwesen, in dem Fall zum Beispiel die Stadt Bremen und die Nachbarschaften dort, angeschaut und konnten in all diesen Studien feststellen, dass dort, wo der Zusammenhalt besonders stark ist, die Menschen glücklicher und zufriedener sind, und dass es auch Indikatoren dafür gibt, dass sie dort gesünder sind.
Hinrichs: Wie viele Menschen haben Sie befragt in dieser Studie?
Arrant: In der Bremer Studie haben wir insgesamt 2.605 Menschen befragt in 78 Ortsteilen, das ist die kleinste Einheit, die man noch messen kann in dieser Stadt, und für die Regionalstudie, die gerade erschienen ist, haben wir gut 5.000 Menschen in der gesamten Bundesrepublik verteilt auf 79 Regionen untersucht und befragt.
Hinrichs: Und wie ausgeprägt ist nun der Zusammenhalt in den verschiedenen Regionen Deutschlands?
Arant: Insgesamt kann man sagen, dass es um den Zusammenhalt in Deutschland sehr gut bestellt ist. In der neuesten Studie haben wir eine Skala angewendet von 0 bis insgesamt 100 Punkten, und da liegen eigentlich alle Bundesländer so im Mittelfeld, zwischen 57 und 63 Punkten. Deswegen kann man sagen, dass es eigentlich ganz ordentlich bestellt ist, trotzdem gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern.
Armut schwächt Zusammenhalt
Hinrichs: Was sind das für Unterschiede?
Arant: Zunächst kann man sagen - und das haben wir eben auch schon in der vorigen Studie des Bundesländervergleichs von 2012 herausgefunden -, dass es ein Ost-West-Gefälle gibt. Das heißt, der Zusammenhalt ist insgesamt in den ostdeutschen Bundesländern schwächer ausgeprägt als in den westdeutschen Bundesländern. Aber auch im Westen durchmischen sich die Bundesländer. Da kann man also nicht sagen, dass die alle sehr stark ausgeprägt sind, sondern es gibt eben von sehr, sehr starken Bundesländern, was zum Beispiel das Saarland, Baden-Württemberg und Bayern sind, hin zu Nordrhein-Westfalen, was so eine Scharnierfunktion hat zu den ostdeutschen Bundesländern, die dann eben etwas schwächer ausfallen.
Hinrichs: Wie erklären Sie sich die Unterschiede?
Arant: Wir konnten finden, dass wirtschaftliche Prosperität ein wichtiger Faktor ist, dass hohe Arbeitslosigkeit abträglich ist genauso wie eine hohe Armut oder Armutsgefährdung, die wir natürlich auch in Ostdeutschland sehen. Dazu kommt, wenn wir uns dann die Regionen noch detaillierter angucken, dass auch eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine Überalterung von verschiedenen Regionen ebenfalls abträglich für den Zusammenhalt sind.
Nachbarschaftsleben wichtig
Hinrichs: Wie es um den Zusammenhalt des Miteinander der Bremer bestellt ist, das haben Sie ja ganz detailliert sogar nach Stadtteilen aufgeschlüsselt und mit vielen kleinräumlichen Daten über die Stadt verglichen. Ergibt sich daraus ein Bild, welche Voraussetzungen sich positiv auf den Zusammenhalt auswirken beziehungsweise was ihn gefährdet?
Arant: Was wir für Bremen herausgefunden haben, war aber zumindest eine große Überraschung, denn wir konnten finden, dass in Ortsteilen, wo die Internetnutzung, die private Internetnutzung höher ist als in Ortsteilen mit geringerem Zusammenhalt, da ist eben der Zusammenhalt deutlich höher. Und interessanterweise konnte man da auch, wenn man sich die einzelnen Dimensionen von Zusammenhalt anschaut, sehen, dass der Zusammenhang mit den sozialen Netzen und auch der Dimension Solidarität und Hilfsbereitschaft besonders hoch war. Das heißt, das Internet ist nicht, wie manche Menschen das sagen, ein Instrument der Vereinsamung, sondern, im Gegenteil, hilft wirklich, dass die Menschen sich vernetzen können, herausfinden können, was passiert in ihren Ortsteilen, bekommen so Zugang zu Aktivitäten, Veranstaltungen und Festen vor Ort und können natürlich sich selbst auch in die Gesellschaft einbringen. Außerdem, und das finden wir auch ganz wichtig, konnten wir zeigen, dass Nachbarschaftsaktivitäten sich ganz positiv auswirken. Das mag vielleicht zunächst banal klingen, aber das ist natürlich häufig in der öffentlichen Debatte eine Frage: Gibt man Geld dafür aus, dass Nachbarschaften lebendig sind und dass vor Ort etwas passiert. Und wir konnten wirklich zeigen, die Menschen, die davon wissen, dass Nachbarschaftsaktivitäten in ihrem Ortsteil stattfinden und diese auch für gut befinden, dass genau in diesen Ortsteilen der Zusammenhalt deutlich höher ist als in Ortsteilen, wo das nicht der Fall ist. Und das sind natürlich schon mal wichtige Anhaltspunkte dafür, wie man eine Stadt oder auch wie man Gemeinden heute gestalten kann, um den Zusammenhalt zu stärken.
Zusammenarbeit mit Behörden
Hinrichs: Inwieweit werden denn die Studienergebnisse konkret auch für die Praxis genutzt? Sind Stadtverwaltung, Wohnungsbehörden, Quartiersmanager und viele andere interessiert und engagiert, um den propagierten neuen Zusammenhalt zu fördern?
Arant: Gerade bei der Bremer Studie haben wir von Anfang an auf eine Zusammenarbeit mit all diesen Akteuren, die Sie gerade genannt haben, gesetzt. Das heißt, wir hatten eine sogenannte Begleitgruppe, die sich aus Quartiersmanagern, aus Akteuren der Stadtverwaltung, der Wohnungsbaugenossenschaften und so weiter zusammengesetzt hat, um die Studie von Anfang an in der Stadt zu verankern. Und das hat sehr, sehr gut funktioniert, weil wir natürlich auch als Wissenschaftler bestimmte Themen zurückgespiegelt bekommen haben, die zentral sind, die wichtig sind, und auch noch mal auf bestimmte Punkte gestoßen worden sind, die wir anschauen konnten. Und das hat sehr, sehr gut funktioniert. Und obwohl die Studie jetzt schon über ein Jahr zurückliegt, ist es immer noch so, dass wir zu Workshops und Veranstaltungen und Diskussionsrunden in die einzelnen Ortsteile, in die einzelnen Stadtteile gehen und dort mit Akteuren vor Ort die Ergebnisse für diese Ortsteile oder auch Stadtteile eben anschauen. Und da ist das Tolle an dem Konzept, was wir verwenden, dass es eben nicht nur davon ausgeht, man hat eine Zahl für Zusammenhalt, sondern wir haben diese neun verschiedenen Dimensionen, und über diese neun Dimensionen kann man natürlich auch sehen, welche Dimension vielleicht an einem Ortsteil schon besonders stark ist und welche man vielleicht noch stärken kann. Und so ist es viel genauer möglich, gewisse Stellschrauben zu verändern, die man vielleicht hat. Man hat also ein detaillierteres Bild und vielleicht auch viel konkretere Vorstellungen, was man tun kann.
Hinrichs: Vielen Dank, Dr. Regina Arant, Psychologin an der Jacobs University Bremen und Forscherin zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.
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