Fabian Elsäßer: Print ist nicht immer nur am Ende, es kann auch der Anfang sein. Das ursprünglich aus Kanada stammende, heute in den USA ansässige Vice-Magazin wurde 1994 gegründet und ist nicht nur immer noch auf dem Markt - es ist eines der am schnellsten wachsenden Medienunternehmen der Welt, allerdings im Netz: mit diversen Internetseiten und einem Videokanal, außerdem im guten alten Medium Fernsehen. Und zu den Geschäftsfeldern zählen noch Werbung, Filmproduktion, sogar ein Buchverlag, ein Pub in London und, und, und.
Die deutsche Onlineausgabe von Vice bekommt nun mehr Personal - im Laufe des Jahres soll von acht auf zwölf Mitarbeiter aufgestockt werden - und eine neue Chefin, Laura Himmelreich, 32 Jahre alt. Bekannt wurde sie Anfang 2013, als sie im Stern über anzügliche Bemerkungen des damaligen FDP-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, Rainer Brüderle, berichtete. Heute tritt Laura Himmelreich ihren neuen Posten bei Vice an und wir sind jetzt mit ihr verbunden. Hallo.
Laura Himmelreich: Hallo. Guten Tag.
Elsäßer: Frau Himmelreich, die Arbeitsweise von Vice wurde gerne, man muss es sagen, in anderen Medien als Gonzo-Journalismus bezeichnet, also subjektives Beschreiben in der Tradition von Hunter S. Thompson oder auch mal als "Drauf-los-Journalismus". Ist das in Ihren Ohren Schelte oder Lob?
Himmelreich: Überhaupt nicht. Also es ist erstmal eine Tatsachenbeschreibung, dass es durchaus auch Bestandteil dessen ist, was wir tun: Dass wir sehr subjektiv berichten, dass wir da hingehen, wo wir glauben, dass die spannenden Geschichten passieren, dass wir da hingehen wo wir glauben, dass zu wenig andere Journalisten sind. Dass wir auch transparent machen: Wie sind wir zu den Geschichten gekommen? Wie war unsere Recherchemethode? Und auch unseren ganz persönlichen Eindruck mit in die Geschichte einarbeiten. Das gehört zu Vice, das ist essentieller Markenbestandteil, das ist so wie wir arbeiten und das wird auch so bleiben.
Sprache der jungen Leute
Elsäßer: Wer noch mit "klassischen Medien" aufgewachsen ist, der greift wahrscheinlich im Internet eher zu deren Ablegern. Könnte sich dann auf einer jüngeren Seite - also sie sprechen ja ein sehr junges Publikum, oder zumindest junges Publikum an - sich manchmal etwas ratlos fühlen? Was zum Beispiel sind "Hangover-News"?
Himmelreich: Hangover-News sind Nachrichten die wir am Montag nach dem Wochenende bringen, wenn man sozusagen noch ein bisschen verkatert ist und sich orientieren muss. Was ist denn überhaupt am Wochenende passiert und was muss ich wissen, um wieder fit und einigermaßen informiert in die Woche zu starten, deswegen Hangover-News. Die Nachricht an sich ist gar nicht so anders als wenn man sie nicht Hangover-News nennen würde. Nur was wir damit sagen wollen: dass wir wissen wie man sich am Montagmorgen nach so einem Wochenende fühlt, wenn man jung ist.
Elsäßer: Muss man dazu auch eine, ich sag mal, mitunter reißerische Sprache pflegen? Also zum Beispiel war die Überschrift der Hangover-News diese Woche: "Sahra Wagenknecht hat eine Torte ins Gesicht bekommen, in Brasilien ist eine 16-jährige von 30 Männern vergewaltigt worden und Bushido erzählt in einem Video, dass die Telekom sich ficken kann".
Himmelreich: Die Sprache ist die Sprache, die wir glauben, dass sie die jungen Leute sprechen, oder die wir selber sprechen. Also wir verstellen uns da nicht oder wir verwenden keine Worte, um besonders jung oder innovativ oder kontrovers zu sein sondern wir reden halt so, wie wir mit unseren Freunden reden. Und ich würde nicht sagen, dass es reißerisch sein muss, es muss halt so sein, wie wir halt sprechen und wie mein Team spricht und wie die Leser sprechen.
Elsäßer: Und diese Leser, Verzeihung, User heißt das ja heute eigentlich, die sind ja auch nicht immer nett. Gut, das sind sie heute selten, wenn man sie zu Wort kommen lässt. Aber einer schrieb zum Beispiel unter exakt diese Hangover-News "das ist halt echt BILD-Journalismus vom feinsten. Echt schade, was aus der Vice geworden ist, aber es funktioniert: Die Mittelklasse-Hipster finden das alles so spannend". Lesen Sie sowas überhaupt oder frustriert das?
Himmelreich: Sie kennen sicher die Kommentare auf Facebook beim Deutschlandfunk, ich glaube die nehmen sich vom Niveau her nicht so viel.
"Sich ein dickes Fell zulegen"
Elsäßer: Deswegen frage ich. Wie gehen Sie damit um? Lassen Sie sich da überhaupt drauf ein?
Himmelreich: Klar! Man liest sich Kommentare durch und bildet sich dann ein Urteil. Und die, die produktiv sind und eine gute Anregung bringen, die kann man natürlich auch in die Arbeit einbeziehen. Aber da ist der Deutschlandfunk genauso betroffen wie der Stern oder Vice. Dass, wenn man eine Kommentarfunktion hat und die offen lässt und auf Facebook Feedback einholt, dass da nicht alles unbedingt dem Niveau entspricht auf dem man sich jetzt auf eine Diskussion einlassen kann, aber das ist nun mal so im Internet.
Elsäßer: Ich finde es manchmal etwas frustrierend. Wie geht es Ihnen da? Das muss man aushalten?
Himmelreich: Ich bin da abgehärtet worden durch die Debatte 2013 und bekomme bis zum heutigen Tage noch diverse Hassmails, Hasskommentare auf Twitter et cetera. Ich glaube, man muss da ein dickes Fell sich zulegen, wenn man in der öffentlichen Funktion oder eine Arbeit vollbringt, die öffentlich ist und erreichbar ist über das Internet, dann hat man leider keinen Filter, den man einbauen kann, durch den man nur die sinnvollen, produktiven diskursfreundlichen Sachen durchlassen muss. Das heißt: Es gibt keine Alternative dazu.
Elsäßer: Sie haben gerade diese Debatte angesprochen, es gab damals die Onlinekampagne #aufschrei. Und einer der Auslöser war eben Ihr Portrait über Rainer Brüderle mit der Überschrift "Herrenwitz". Das war eine sehr wichtige Debatte. Andererseits hat jetzt Vice eine ganze Rubrik namens "Not safe for work". Da geht es ausschließlich um Sex, mit Berichten aus der Pornoindustrie, aus Stripclubs, oder - nochmal Zitat - "Die Höhen und Tiefen des jungen Swinger-Daseins". Wie passt das zusammen?
Himmelreich: Da sehe ich überhaupt keine Probleme damit. Also die Aufschrei-Debatte ging darum, der ganze Kern der Debatte war, dass viele junge Frauen - ich eingeschlossen - das Gefühl hatten, wir werden nicht mit dem Respekt behandelt, den wir verdienen, in der beruflichen Welt aber auch außerhalb. Dass Vice über Sex berichtet und tabulos über Sex berichtet, finde ich kein Problem, solange wir klarmachen, dass Sex eine Sache ist, die auf Augenhöhe stattfinden sollte. Über Sex zu berichten heißt ja nicht zwangsläufig, dass man sexistisch ist.
Sex als wichtiger Bestandteil
Elsäßer: Es ist Ihnen also auch nicht zu viel "Sex sells"? Es ist ja immerhin eine komplette Rubrik.
Himmelreich: Sex wird immer zu Vice gehören, weil das einfach zum Leben von Menschen dazugehört und auch zum Leben von jungen Leuten. Und das ist jetzt auch kein unwichtiger Teil, Liebe und Sexualität. Unser Anspruch oder mein Anspruch ist auch, dass wir über alles berichten können und sei es so, dass manche irgendwie rot werden beim Lesen, aber dass sie es auf eine schlaue Art und Weise machen. Dass es, wenn wir über Sex berichten oder von mir aus irgendeine Sexualpraktik oder über eben Swinger Clubs, dass wir zeigen, warum wir darüber berichten, was die gesellschaftliche Relevanz des Ganzen ist. Aber dann möchte ich, dass da keiner von meinen Mitarbeitern ein Blatt vor den Mund nimmt und die Worte nimmt, die halt irgendwie angemessen sind und alles beschreibt, was er sieht.
Elsäßer: Verraten Sie uns doch mal, Frau Himmelreich, was Sie sonst noch so mit der Vice vorhaben, auf die Gefahr hin, dass sie jetzt gleich Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen verschrecken.
Himmelreich: Ach, überhaupt nicht, die wissen doch was ich vorhabe und die freuen sich drauf. Wir kriegen mehr Personal und das ist das Tollste und deswegen freuen sich auch alle auf die nächsten Wochen und Monate. Dass wir dadurch natürlich ganz anders in Qualität, in Recherche, in Texte Zeit investieren können, weil wir einfach wachsen. Wir werden dadurch Geschichten detaillierter erzählen können, aufwändiger erzählen können. Ich komme aus dem klassischen Politikjournalismus, das heißt: Die Themen werden weiterhin zu meinem Leben dazugehören, ich bin ein politisch denkender Mensch. Und Vice ist auch ein politisches Magazin. Wir hatten jetzt vor eineinhalb Wochen eine riesige, investigative Recherche darüber, wie Zwangsarbeiter aus Nordkorea in Polen in Werften und auf Baustellen arbeiten. Eine Riesengeschichte, wahnsinnig toll recherchiert. Ich möchte weiter, dass Vice weiter solche Themen macht, über die Leute sprechen, die aufwühlen, wo wir Sachen aufdecken, über die bisher noch nicht berichtet worden ist. Damit verschrecke ich definitiv niemanden in meinem Team. Wir freuen uns darauf, dass wir mehr Ressourcen kriegen und mehr die Geschichten machen können, für die wir ohnehin schon stehen.
Elsäßer: Heute tritt die ehemalige Stern-Reporterin Laura Himmelreich ihren neuen Posten an als Chefin der deutschen Onlineausgabe des Vice-Magazins. Und wir sprachen darüber mit ihr im Corso-Gespräch. Herzlichen Dank Frau Himmelreich.
Himmelreich: Herzlichen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Korrekturhinweis: Im Vorspann und der Bildunterschrift dieses Beitrags wurde eine Richtigstellung vorgenommen. Laura Himmelreich ist nicht die neue Chefredakteurin von "Vice", sondern die neue Chefredakteurin des deutschen Online-Angebots "Vice.com".