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Neue Vokalmusik aus Estland
Der Komponist Cyrillus Kreek

In der baltischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts steht Cyrillus Kreek als ein besonderer Komponist: Jahrzehntelang hat er Volksmusik seiner Heimat Estland gesammelt und neu arrangiert. Das Vokalensemble Vox Clamantis aus Tallin hat Kreek jetzt beim Label ECM ein klingendes Denkmal gesetzt.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre |
    Eine Gruppe von festlich gekleideten Männern und Frauen stehen zusammen gewürfelt in einem museal anmutenden Raum
    Kongeniale Interpreten: die estnische Formation Vox Clamantis (Kitfox Valentin / ECM Records)
    Musik: Cyrillus Kreek - "Päeval ei pea päikene"
    Im baltischen Klangraum Estland hat vor allem Volksmusik eine lange Tradition, die Komponisten dieser Region nachhaltig prägt. Neben Arvo Pärt, Veljo Tormis oder Erkki-Sven Tüür hat sich ein weiterer Name in die estnische Musikgeschichte eingeschrieben: Cyrillus Kreek, 1889 geboren. Bis heute ist er ein sehr geschätzter Komponist, der die Volksmusik seiner Heimat in großem Umfang über Jahrzehnte gesammelt und bearbeitet hat. Etwa 1300 Lieder, geistlichen und weltlichen Ursprungs hat Kreek zusammen getragen, dokumentiert, transkribiert und somit für die Nachwelt erhalten.
    Mit Vokalkompositionen hat er die Grundlage für einen spezifischen Chorgesang geschaffen, der die Atmosphäre seines Heimatlandes facettenreich wiederspiegelt und auch nachfolgende Komponistengenerationen beeinflusst hat. Bearbeitungen seiner Volkslieder, Hymnen sowie Psalmvertonungen stehen im Zentrum der kürzlich beim Label ECM erschienen CD unter dem Titel "The Suspended Harp of Babel", deutsch: "Die schwebende Harfe aus Babel". Die Aufnahme mit dem Ensemble Vox Clamantis unter der Leitung von Jaan-Eik Tulve entstand 2018 in der orthodoxen "Transfiguration Church" in Tallinn. Die klanglich faszinierende, zutiefst packende Interpretation in estnischer Sprache eröffnet mit "Psalm 121" a-cappella und entführt unmittelbar in den hoch auratischen wie meditativen Klangkosmos von Cyrillus Kreek.
    Musik: Cyrillus Kreek - "Päeval ei pea päikene"
    Stilles Leuchten
    Archaisch anmutende Klänge aus einem zunächst nicht lokalisierbaren Raum umhüllen beim ersten Hören mit schlichten melodischen Verläufen. Diese Gesänge bergen eine zurückhaltende Schönheit, der man sich bereits nach wenigen Minuten ergibt. Es dominiert eine gelassene Leichtigkeit, die aber in keinem Moment banal anmutet. Nichts scheint konkretisiert, alles fließt oder schwebt und doch ist es etwas ganz Spezifisches, was das Ohr umgarnt. Es sind die luziden Melodieverläufe mit sich mikroskopisch ändernden dynamischen Prozessen, die eine Sogwirkung auslösen und unmittelbar Neugier auf mehr wecken. Cyrillus Kreeks Musik lässt sich trotz hörbarer Anknüpfungspunkte an eine musikalische Tradition nicht in bestimmten Begrifflichkeiten fassen und das macht sie so faszinierend.
    Die Biographie von Cyrillus Kreek nimmt in dem kleinen estnischen Dorf Saanika, wo er als Sohn einer Lehrerfamilie geboren wird, ihren Anfang. Seine Studienjahre fallen in eine Zeit, da Estland noch unter zaristischer Herrschaft steht und so studiert er zunächst in St. Petersburg am Konservatorium Posaune, Musiktheorie und Komposition. Sein Interesse gilt darüber hinaus ähnlich wie Bela Bartòk oder Zoltan Kodàly dem Sammeln und Erforschen des heimischen weltlichen und geistlichen Volksliedgutes, das er in zahlreichen eigenen Kompositionen vorwiegend für Chorgesang verarbeitet. Bis heute ehrt man ihn in Estland mit einem alljährlichen Festival für sein Bemühen zur Bewahrung des heimatlichen Liedguts. 1962 stirbt er an der estnischen Westküste in Haapsalu, wo er seit 1916 lebte und ihm ein Museum gewidmet ist.
    Wenn man sich erstmals mit Musik von Cyrillus Kreek konfrontiert, begegnet man Klangwelten, die von selbstverständlich eindringlicher Intensität und Klarheit zeugen und nie forciert wirken. Es ist eine gewisse Schlichtheit, die den Hörer unmittelbar in den Bann zieht und fasziniert. Verströmt wird eine Art hymnischer Glanz, der sich über die sehr subtilen Feinheiten der einzelnen Stimmen ausbreitet, so wie in "Jacob’s Dream". Cyrillus Kreek greift hier auf ein Runenlied zurück, eine alte Tradition, die Estland und Finnland gemeinsam haben.
    Musik: Cyrillus Kreek - "Jakobi unenägu"
    Magische Schönheit
    Der Zauber dieser Musik ist auch von der außergewöhnlichen Interpretation des klanglich einzigartigen, hoch präzise intonierenden Vokalensembles Vox Clamantis gezeichnet. Das Kollektiv aus 12 Sängern hat sie sich 1996 in Tallinn unter ihrem künstlerischen Leiter Jaan-Erik Tulve zu einem der bekanntesten Vokalensembles auf baltischem Boden formiert. Im Mittelpunkt seines Repertoires steht die Tradition der frühen europäischen Vokalmusik sowie die Aufführung zeitgenössischer baltischer Komponisten, etwa von Arvo Pärt, Helena Tulve oder Erkki-Sven Tüür, die auch eigens Werke für das Ensemble geschrieben haben.
    Neben Tourneen durch Europa und das internationale Ausland erarbeiten die Sänger immer wieder Projekte mit unterschiedlichen Instrumentalisten und Instrumentalensembles. Ihre CD-Aufnahmen haben zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, u.a. den Grammy für das 2013, ebenfalls beim Label ECM erschienene Album "Adam’s Lament" mit Werken von Arvo Pärt. Darüber hinaus haben sie zahlreiche Werke der neueren Chorliteratur aus Estland uraufgeführt oder erstmals eingespielt.
    Musik: Cyrillus Kreek - "Kilda, mu hing, Issandat"
    Spirituelle Tiefe
    Die sinnliche Eindringlichkeit von Kreeks Gesängen manifestiert sich in weitgehend kurzen Stücken, die inhaltlich die Schöpfung des Herren oder den Opfertod Jesu preisen.
    Dass Cyrillus Kreek erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, mag auch daran liegen, dass er mit seinem russisch-orthodoxen Glauben im überwiegend lutheranisch geprägten Estland eine Sonderstellung einnahm. Auch der künstlerische Leiter von Vox Clamantis, Jaan Eik Tulve ist zum Katholizismus konvertiert, aus musikalischen Gründen, wie er betont.
    Für atmosphärisch klangliche Erweiterung der volksliedhaften Sakralmusik sorgen auf dieser Aufnahme instrumentale Ergänzungen des Gesangs oder eigens komponierte Zwischenspiele durch zwei seltene Instrumente: die schwedische Nyckelharpa, die dem Korpus der Viola d’amore gleicht und die estnische Kannel, eine griffbrettlose Kastenzither. Die Solisten Marco und Angela Ambrosini (Nyckelharpa) und Anna-Liisa Eller (Kannel-Zither) fügen sich mit den Instrumentalfantasien geradezu selbstverständlich in die fast introvertierten Gesänge des Cyrillus Kreek.
    Musik: Cyrillus Kreek - "Ma tulen taevast ülevelt"
    Ungreifbare Sehnsucht
    Auch wenn die Kompositionen im 20. Jahrhundert entstanden sind, so tragen sie wegen ihres spirituellen Tiefgangs eine gewisse Zeitlosigkeit in sich. Es handelt sich um Musik, die in ihrer Schlichtheit kein zeitlich begrenztes Terrain betritt und zugleich deutliche Anknüpfungspunkte an die Musikgeschichte erkennen lässt. Dass Johann Sebastian Bach für Cyrillus Kreeks Arrangements mehrfach Pate gestanden haben dürfte, wird in den harmonisch raffinierten und farbigen Psalmgesängen a capella mehrfach hörbar. Diese Aufnahme zelebriert mit ihren Arrangements einen geradezu unerwartet vielschichtigen Umgang mit traditionsreichen Melodien. Das kaum in Worte zu fassende Faszinosum dieser CD wurzelt in einer unter die Haut kriechenden Klanglichkeit, mit der die Melodien auch ohne estnische Sprachkenntnis sehr subtil berühren.
    Musik: Marco Ambrosini - "Vilmane tants" - Marco und Angelo Ambrosini
    Nach diesem instrumentalen Zwischenspiel für zwei Nyckelharpas des Italieners Marco Ambrosini fällt der Blick abschließend auf den Volkshymnus "Oh Jesus, they pain", der nach zwei Versen von der estnischen Kastenzither Kannel abgelöst wird und in ein mittelalterliches Liebes-und Tanzlied von Guillaume de Machaut übergeht. Hymnus und Liebeslied schließen hier trotz unterschiedlicher melodischer Ursprünge einander nicht aus, zumal sie ein melancholischer Gestus verbindet. Am Ende mündet der sich in vielen Registern bewegende vierstimmige Vokalsatz in den Choralsatz "Oh Haupt voll Blut und Wunden" aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach.
    Musik: Cyrillus Kreek - "Oh Jeesus, sinu Valu"
    Soweit abschließend ein Ausschnitt aus "Oh Jesus, they pain" - basierend auf einem estnischen Volkshymnus, aufgezeichnet und bearbeitet von Cyrillus Kreek. Vorgestellt wurden Ihnen heute Vokalwerke des aus Estland stammenden Komponisten Cyrillus Kreek. Neben dem Ensemble Vox Clamantis unter der Leitung von Jaan-Eik Tulve spielen Marco und Angela Ambrosini (Nyckelharpa) sowie Anna-Liisa Eller (Kannel". Unter dem Titel "The Suspended Harp of Babel" ist die Aufnahme beim Label ECM erschienen.
    Cyrillus Kreek: The Suspended Harp of Babel
    Vox Clamatis, Leitung: Jaan-Eik Tulve.
    Angela und Marco Ambrosini, Nyckelharpa
    Anna-Liisa Eller, kannel
    CD ECM 2620, LC 051N
    EAN:028948190416