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Neue Volksmärchen der Deutschen

Die Brüder Grimm mögen recht gehabt haben: Märchen sind nichts für Erwachsene. Nur Kinder haben das Vermögen, das am Märchen zu akzeptieren, was nach den "Kinder- und Hausmärchen" als der Inbegriff dieser Gattung gilt, die Selbstverständlichkeit des Wunders. Mit Zwergen, Elfen, Hexen, Gespenstern, guten und bösen Geistern stehen die Figuren des Märchens auf du und du, und die Erzählung verlangt einen Zuhörer, der sich über diesen Austausch zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der wirklichen und der Fabelwelt nicht wundert.

Hannelore Schlaffer |
    Benedikte Naubert, eine Vorgängerin der Brüder Grimm im 18. Jahrhundert, schrieb die vier Bände ihrer "Neuen Volksmärchen der Deutschen" noch für ein erwachsenes Publikum, das dem Treiben der Fabelwesen und Spukgestalten mit Skepsis zusah und zumindest gelegentlich Erklärungen haben wollte, wie denn nun doch eine unerwartete Erscheinung mit menschlichem Verstand zu fassen sei. Wenn der Heiligen Ottilie Grab sich vor den Augen ihres verzweifelten Vaters öffnet, fühlt sich die Autorin aufgerufen, eine denkbare Lösung dafür zu finden, warum Vater und Tochter, die sich noch nie gesehen haben, einander sogleich erkennen und sich in die Arme stürzen:

    0 Natur, wie mächtig ist deine Stimme! Was anders, als dein Ruf konnte Rörichen bewegen, die Niegesehene beim ersten Anblick als Tochter in die Arme zu schließen? Wer anders als du lehrte Ottilien denjenigen mit der heißen Zärtlichkeit eines Kindes umfangen, der weder durch seinen Anblick, noch durch seine Taten Liebe zu erregen vermochte.

    Dem heutigen Leser, der mit den Grimmschen Märchen aufgewachsen ist, fällt freilich sogleich auf, dass die Geschichte der Ottilie gar kein Märchen ist, sondern eine Legende. Was man in der Neuauflage der vier Bände von Nauberts "Märchen" zu lesen bekommt, ist eine Sammlung volkstümlicher Geschichten, Sagen, Legenden, Historien, Fabeln, die noch dazu innerhalb einer einzigen Erzählung Motive und verschiedene Genres miteinander vermischt. So etwa hat im Heiligenleben der Ottilie ein Verführer seinen Part, der nicht als teuflischer Versucher der Legende gedeutet werden kann, sondern ganz den Charakter eines bösen Gnoms aus dem Märchen hat.

    Benedikte Naubert, die 1756 in Leipzig geboren wurde, ist eine der vielgelesenen Autorinnen des 18. Jahrhunderts. Sie hat fast achtzig Werke und Übersetzung hinterlassen, alle veröffentlicht unter Pseudonym. Ihre "Neuen Volksmärchen" erschienen in vier Bänden 1789 bis 1796, wenige Jahre nach der erfolgreichsten Sammlung volkstümlicher Erzählstoffe in diesem aufgeklarten Jahrhundert, Johann Karl August Musäus' Volksmärchen der Deutschen. Nicht nur durch den Titel wollte Naubert den Eindruck erwecken, als handle es sich um eine Fortsetzung dieser Sammlung durch denselben, vielgerühmten Autor. Im zweiten Band etwa wählt sie für eine Erzählung den Untertitel: "Ein Nachtrag zu den Legenden von Rübezahl". Musäus hatte seine Sammlung mit den Geschichten von Rübezahl beginnen lassen, so dass es den Anschein haben musste, als sei Nauberts Erzählung vom Waldgeist eine Fortsetzung aus der Feder Musäus', ein Stückchen Volksgut, das er nachträglich aufgespürt hat und nun hinterhersendet.

    Musäus wurde von den gebildeten Lesern als Antipode der Brüder Grimm noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch gern gelesen und bis heute von der Literaturwissenschaft als deren Vorgänger geschätzt. Sein witziger Ton, der die Lektüre der Geschichten aus der Zauberwelt zu einem Spaziergang durch einen Groteskensaal macht, wurde als heiteres Spiel genossen, das von der ernsten Rührung entlastete, zu der der warmherzige Kinderton der Grimms verpflichtet. Benedikte Naubert glaubt an die Traumwelten ebenso wenig wie ihr Vorbild Musäus, und doch wahrt sie vor ihnen so etwas wie Respekt. Die Menschen aus dieser unserer Welt und die Geister aus der anderen gehören bei ihr viel weniger zusammen als bei Musäus und den Brüdern Grimm. Bei diesen Autoren ist jedem Leser offenbar, dass es sich hier wie dort um Erdichtungen handelt. Bei Benedikte Naubert ist man versucht, die Menschen mindestens so ernst zu nehmen wie die in einem Bildungsroman. Meist sind ihre Geschichten kleine Lebensläufe, in denen die jenseitigen Besucher eine sittliche Funktion übenehmen.

    In den Figuren aus der Menschenwelt liegt nicht selten eine Spannung des Gemüts, die den Leser zur Identifikation herausfordert. Liebe ist bei Naubert nicht ein Movens, das zu einer märchenhaften Hochzeit von Prinz und armer Magd führt, Liebe ist ein Gefühl, das mitempfunden sein will: "Liebende machen aus allen Dingen", so räsoniert der Erzähler im "Nachtrag" zum Rübezahl, "Vorzeichen, und die Gedanken, welche Erdmann und Marie [...] hegten, wurden durch eine herzliche Umarmung, die erste, welche von den unschuldigen Seelen noch gewagt worden war, ausgedrückt." Wo es bei den Grimmschen Märchenfiguren nur Stolpern und Missgeschick gibt, fühlen die Naubertschen deutlich ihr Unglück, erschrecken, leiden Seelenqualen, grämen sich und trauern viel.

    Die tiefe historische Zäsur aber, die Nauberts Märchenromane von oft fast hundert Seiten Länge von den Märchen-Poesien des 19. Jahrhunderts trennt, wird in der Sprache spürbar. Nicht allein, dass bei Benedikte Naubert Zauberformeln, einprägsamen Verse und Rechenexempel fehlen, die die Brüder Grimm als die Muttersprache der Völker erkannt haben. Auch der einschmeichelnde Singsang ist eine Erfindung ihres romantischen Poesieverständnisses, von dem Benedikte Naubert noch nichts ahnt. Das heißt aber nicht, dass ihr Stil nicht beliebt wäre bis zum heutigen Tag - nur ist er nun vom Buch in den Film umgezogen. Eigentlich nämlich sind diese Märchenromane nichts anderes als die Historiengemälde des Kinos.

    Zwar lehnt das Ohr heute den altertümelnden Stil, den Naubert wenn nicht erfunden, so doch gepflegt und ausgeprägt hat, ab; das Auge aber kann sich nicht satt sehen an historischem Kostüm, heldischem Gehabe und pathetischen Gesten. Das Kostüm legt bei Naubert nicht, wie im Kino, der Körper an, sondern die Sprache. Vergessene Wendungen gelten ihr als poetisch, veraltete Amtssprache als Zeitkolorit, verschwundene Wörter als Reliquien:

    Auf dem Schlosse Neuhaus in Böhmen lebte zu Ende des sechzehenden Jahrhunderts [...] ein alter reicher Baron, dermalen einiger Besitzer der rosenbergischen Güter, in welche sich nach seinem Tode eine Menge von Enkeln und Urenkeln [...] teilen sollten, die nicht sonders bemittelt waren. Dem ohngeachtet rechnete ihrer keiner auf das Ableben des alten Herrn [...] Es war seit zwanzig Jahren [...] Herkommens bei ihm, daß allemal um Osterzeit sich alle Neuhause und Rosenberge [...] auf seinem j Schlosse versammelten, um daselbst drei bis vier fröhliche Wochen zu ^ verleben und dann wohl beschenkt von dann zu ziehn. [... der] Baron \ Mathias [war] reich genug sie zu bewirten und zu begaben.

    Der durchaus schwierige, ganz unkindliche Stil, der am ehesten an den der Marie von Ebner-Eschenbach erinnert, wird zur bevorzugten Mode des 19. Jahrhunderts, dessen beliebtestes Genre die Historienerzählung war. Benedikte Naubert hat das allgemeine Bewusstsein von Geschichte vor allem des frühen 19. Jahrhunderts mehr geprägt als so mancher Historiker: Geschichte ist tiefste, märchenhafte Vergangenheit. Mehr als die Helden des Vaterlandes liebte dieses Jahrhundert Könige, die mit Gnomen Umgang hatten.