Ein paar Bücher auf dem Fußboden, ein karger Schreibtisch mit Laptop drauf. Das Büro vom neuen NZZ-Deutschland-Chefredakteur Marc Felix Serrao ist zurzeit noch ein Provisorium. Und auch was die Schweizer für den deutschen Markt künftig genau machen wollen, ist noch nicht entschieden. "Was wir noch alles anbieten können an Produkten, das werden wir in den nächsten Monaten diskutieren. Und sobald wir da mehr sagen können, werden wir es tun."
Klar ist: die NZZ will mit ihrem speziell auf deutsche Leser ausgerichteten Angebot expandieren. Dafür hat das Schweizer Medienhaus mit dem Ex-Springer Mann Jan-Eric Peters einen eigenen Geschäftsführer für den deutschen Markt eingesetzt. Inzwischen arbeiten zehn Journalisten in München, Frankfurt und vor allem in Berlin für die NZZ. Tendenz steigend, sagt Serrao. "Wir haben einfach gemerkt, dass es ein rege wachsendes Interesse gibt in Deutschland am Journalismus der NZZ. Wenn dieses Interesse offenkundig da ist, dann schauen wir doch mal, ob wir den Deutschen nicht ein Angebot machen können, für das sie vielleicht auch bereit sind zu zahlen. Und das versuchen wir, dieses Angebot zu unterbreiten seit einigen Jahren, und das läuft erfreulich gut."
Dieses Angebot umfasst derzeit mehr genuine Inhalte über Deutschland auf der Website, wenn man aus Deutschland auf sie zugreift. Außerdem den wöchentlichen Newsletter "Der andere Blick". 32.000 Leser waren Ende 2020 bereit, dafür zu zahlen. Etwa 70 Prozent mehr als im Vorjahr. Für Serrao, der 2017 als Korrespondent bei der NZZ angefangen hat, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Haltung der Zeitung: Er bezeichnet sie als immer wieder und gern als liberal. "Die gemeinsame Klammer ist, dass die NZZ und Mitarbeiter der NZZ davon überzeugt sind, dass die Selbstverantwortung des Einzelnen ganz zentral ist und dass der Staat sich auf seine Kernfunktionen beschränken sollte und seine Bürger weitestgehend in Ruhe lässt."
"Eine Frage der Haltung"
Ein sehr schlanker Staat also. Hinzu kommt: der Blick von außen nach Deutschland. Jeden Freitag ganz konkret in Form des Newsletters samt Editorial namens "Der andere Blick". In Kolumnen mit Titeln wie "Migration darf kein Tabuthema sein" oder "Wie unliebsame Meinungen diskreditiert werden" kommentiert NZZ-Chefredakteur Eric Gujer die deutsche Innen- und Außenpolitik. "Das ist ein wirklich klassisch liberaler Blick auf die Dinge, es ist ein Blick von außen, aus der Schweiz. Da glauben wir, nehmen wir schon eine etwas besondere Rolle auf dem deutschen Medienmarkt ein."
Daran ändere auch nichts, dass die meisten von Serraos Berliner Kollegen Deutsche und nicht Schweizer sind. "Der andere Blick ist aus unserer Sicht keine Frage der Nationalität, sondern sozusagen der Haltung. Also ob man sich wirklich diesen klassisch liberalen Werten verpflichtet fühlt, und ob man dann auch von außen auf dieses Land schaut. Also Sie werden bei uns beispielsweise keine Kommentare lesen, wo von "wir" und "uns" die Rede. ‚Wir müssen jetzt dieses tun‘, ‚unser Interesse ist dieses oder jenes‘. Sondern wir versuchen wirklich, die Vogelperspektive einzunehmen."
Fischen im rechten Rand?
Der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger macht ebenfalls genau diesen vermeintlich unverstellten Blick auf Deutschland verantwortlich für den Erfolg der NZZ: "Deutsche konservativ-etablierte Mediennutzer empfinden das als besonders erfrischend und befreiend, wenn hier sozusagen ein Auslandsmedium - wie das Westfernsehen für die DDR - hier mal jemand praktisch unzensiert, wie frei von der Leber weg, jemand das sagt, was er schon immer sagen wollte."
Auf dem politischen Spektrum positioniert sich die NZZ Deutschland ähnlich wie das Polit-Magazin "Cicero" und das Springer-Blatt "Welt", meint Krüger. Konservativ-liberal-bürgerlich. "NZZ betont sehr stark die individuelle Freiheit, und die steht im Widerspruch zu Bemühungen bei Antidiskriminierung und andererseits bei Bemühungen, ökologisch-nachhaltig zu leben. Das geht natürlich nicht ohne Verbote, und hier kann die NZZ auch super polemisieren gegen eine Verbotskultur einerseits sprachlicher Art, andererseits im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit. Bei diesen Themen, wo sich ein privilegiertes Publikum eingeengt fühlt – in dieser Nische, da punktet die NZZ."
Immer mal wieder wurde vor allem den Kolumnen des Chefredakteurs Eric Gujer vorgeworfen, dass sie im rechten Spektrum fischten. Medienwissenschaftler Krüger teilt diese Einschätzung: "Die NZZ geriert sich in ihren Meinungsbeiträgen für Deutschland bisher rhetorisch nicht populistisch oder sie distanziert sich immer wieder von der AfD, von rechts. Und andererseits spielt sie aber auch ganz bewusst mit Begrifflichkeiten, die dort anschlussfähig sind. Es kommen Begriffe vor wie 'Gesinnungspolizei', 'Redeverbote', 'Tugendwächter' und so weiter. Das sind alles Signale dafür, dass man sich auch an ein Publikum richtet, dass sich AfD nah fühlt zum Beispiel."
Serrao: Offener gegenüber Stimmen aus breiterem Spektrum
Serrao weist eine Nähe zur AfD entschieden von sich. Das decke sich auch gar nicht mit der tatsächlichen Leserschaft der NZZ. "Wir haben eine Allensbach-Umfrage gemacht, wo dann auch unsere Leser gefragt wurden, wie denn so ihre parteipolitischen Präferenzen sind, da haben wir im Vergleich mit deutschen überregionalen Medien überproportional viele Grünen-Anhänger gehabt. Was unterproportional dabei war sind AfD-Sympathisanten."
Auch wenn Serrao nicht von vermeintlichen Redeverboten spricht: Sein Blatt sei eben doch offener gegenüber Stimmen aus einem breiteren politischen Spektrum, anders als die hier etablierten Medien. "Stimmen in Debatten nicht gleich mit Etiketten zu belegen und aus Debatten auszugrenzen, sondern zu sagen, wir hören uns auch erstmal die Argumente an. Das ist auch eine Grundüberzeugung, die wir haben. Das ist nicht gleichbedeutend mit: Wir machen uns die Argumente zu eigen, aber wir hören sie erstmal an. Da gibt es vielleicht in Deutschland eine Tendenz, hier und da doch etwas vorschnell zu sagen: Die gehören gar nicht mit an den Tisch."