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Neuer Antisemitismus (3/6)
Anders, als alle dachten

Vor vier Jahren erschien Mirna Funks Roman "Winternähe". Als ihre liebste Äußerung aus den ersten Monaten auf Lesereise notierte sie: "Ich habe noch nie Antisemitismus erlebt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es das gibt." "Möglicherweise, weil sie kein Jude sind", war ihre Standardantwort.

Von Mirna Funk |
Die Autorin Mirna Funk in den Straßen von Berlin Mitte.
Die Autorin Mirna Funk in den Straßen von Berlin-Mitte (imago images | tagesspiegel)
Vor vier Jahren erschien Mirna Funks Roman "Winternähe", in dem sie den Antisemitismus in Deutschland zum Thema machte. Protagonistin Lola, eine deutsche Jüdin, fragt: "Wie viel von mir selbst steckt in meiner eigenen Biografie? Wie lässt sich die Gegenwart mit meiner Vergangenheit in Einklang bringen?" Und: "Wer bestimmt darüber, wer wir sind?"
Das Buch konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit Antisemitismus in Deutschland, dem Krieg in Israel im Sommer 2014 und der Frage nach Identität in einer globalisierten Welt. Mirna Funk über die Resonanz: "Damals wunderten sich noch alle Journalisten, wie ich auf so ein Thema überhaupt kommen kann, weil ist doch alles prima."
Seitdem ist viel passiert, die Flüchtlingskrise und die AfD zum Beispiel. Das hat auch die Debatten rund um den Antisemitismus verändert. Es hat die Perspektive auf Israel verändert, aber auch auf jüdisches Leben in Europa.
In ihrem Essay beschäftigen Mirna Funk die Fragen: "Wie ist das so als Jude in Deutschland zu leben?" und "Was wurde in Bezug auf die Erinnerungskultur sträflich vernachlässigt?"
Mirna Funk, 1981 in Ostberlin geboren, studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin und lebt in Berlin und Tel Aviv. Für den Roman "Winternähe" wurde sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet. 2018 produzierte der BR ihr Hörspiel "Auf einem einzigen Blatt Papier".
(Teil 4, "Arabischer Antisemitismus im globalen Spannungsfeld" von Strefan Weidner, am 7.7.2019)
Anders, als alle dachten
Genau vier Jahre ist es her, dass mein Roman "Winternähe" erschien. Ein Roman, indem es um Antisemitismus in Deutschland geht, den Israel-Palästina-Konflikt und die Identitätssuche einer ostdeutschen Vaterjüdin in einer immer komplexer und gleichzeitig feindseliger werdenden Welt.
Ich selbst bin diese ostdeutsche Vaterjüdin und trotzdem unterscheide ich mich von meiner Protagonistin Lola und ihrer Familienhistorie grundlegend. So ist das im Roman. Da treffen Fiktion und Biografie aufeinander und gehen eine von Außenstehenden kaum objektiv zu beurteilende Beziehung ein. Wo beginnt das echte Leben und wo hört die Fantasie auf - es ist selbst für mich schwer nachzuvollziehen.
Rückblickend jedenfalls.
Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, an dem meine jüdische Identität zum ersten Mal außerhalb meiner Familie ein Thema wurde. Das war der Tag, als mich meine Geschichtslehrerin als Jüdin im Unterricht outete. Wir behandelten gerade den Nationalsozialismus. Meine jüdische Großmutter war Lehrerin in Berlin-Pankow. Ich selbst ging in Pankow zur Schule und wie das mit Lehrerkindern und Lehrerenkelkindern so ist, über die weiß man immer ein bisschen mehr als über die anderen.
Zu diesem Zeitpunkt war ich schon zweimal mit meinem Vater in Israel gewesen, um meine Familie zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt besaß ich längst eine Kette mit Davidstern, die ich aber nie trug. Und zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, was es bedeutete, einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter zu haben. Das sollte ich viele Jahre später erst erfahren.
Eine lange Zeit wurde meine Identität vor allem durch die Zuweisungen der anderen definiert. Durch die Vorstellungen meiner jüdischen, aber auch meiner nichtjüdischen Familie, durch Juden und Nicht-Juden, die von meiner Familiengeschichte erfuhren und natürlich durch die Medien, die immer irgendeine Position vertraten. Von meinem Vater, der vor 20 Jahren ins Ausland ging, hatte ich einen tiefsitzenden Deutschland-Hass geerbt, der dazu führte, dass ich mich fast 20 Jahre weigerte, wählen zu gehen. Und von meiner jüdischen Großmutter hatte ich gelernt, dass alles jederzeit wieder genauso kommen kann wie noch vor 70 Jahren.
Ich selbst sehe mich als Deutsche und als Jüdin. Ich sehe mich als deutsche Jüdin. Und dass ich das heute an dieser Stelle so schreiben und sagen kann, habe ich den letzten vier Jahren zu verdanken. Das Schreiben meines Romans half dabei. Die Veröffentlichung meines Romans half dabei. Und besonders halfen mir all die Briefe und Emails, die ich von Vaterjuden, Juden und Nichtjuden bekam. Sie halfen mir, mich zu emanzipieren und endlich die sein zu dürfen, für die ich mich immer selbst hielt, unabhängig davon, was andere dachten, fanden, fühlten und sagten.
Erinnerungskultur auf Abwegen?
Manchmal fühlt es sich an, als seien diese vier Jahre eigentlich 40 Jahre. Denn so viel ist seitdem passiert. Viele der Journalisten, mit denen ich über die von mir im Buch geschilderten antisemitischen Vorfälle sprach, vermuteten, dass ich singuläre Ereignisse überhöhe, um Aufmerksamkeit zu generieren. Denn Deutschland hatte kein Antisemitismusproblem. Nicht im Juli 2015. Deutschland empfand sich selbst als offen, liberal und vor allem verantwortungsvoll. Ja, es würde Stimmen geben, die schlecht über Juden redeten, aber das seien nur Neonazis, die man sowieso nicht ernstnehmen könne, sagten mir die Journalisten. Und ja, es würde auch Stimmen geben, die Israel harsch kritisieren, aber, mal ehrlich Frau Funk, nach 70 Jahren müssten wir das doch auch langsam mal dürfen, oder? Haben wir uns nicht dieses Recht erarbeitet und erkämpft, fragten die Journalisten. Durch unsere Gedenktage und Gedenkstätten und Mahnmale und natürlich all unsere wichtigen und bedeutungsvollen Reden, die Jahr für Jahr am 09.11. zur Erinnerung an die "Reichspogromnacht" und am 27.01. zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in ganz Deutschland gehalten werden. Durch die Kranzniederlegungen und Beileidsbekundungen. Durch das ganze Geld und die Panzer, die wir seit Jahrzehnten nach Israel schicken.
Und ich dachte, ah, ihr meint euer ritualisiertes Gedenken, das ihr der ganzen Welt als Aufarbeitung verkauft.
Rückblickend wirkt es schon wahnwitzig, dass ich im Juli 2015 mit diesem alten deutschen Selbstverständnis konfrontiert wurde – der Antisemitismus sei überwunden, eine tiefe Freundschaft würde zwischen Deutschland und Israel existieren, die Geschichte sei verinnerlicht und aus Schuld war Verantwortung geworden. Schließlich hatte im Sommer 2014 der Konflikt im Gazastreifen längst gezeigt, dass sich etwas unter der geschichtsbewussten, vergangenheitsbewältigten Decke zusammenbraute. Wie konnte man die marschierenden Menschenmassen übersehen haben, die antisemitische Parolen auf Deutschlands Straßen brüllten und laut "Juden ins Gas!" riefen? Wie war es möglich, die hasserfüllten Kommentare unter Online-Artikeln und Social-Media-Posts zu ignorieren, die das Internet während des gesamten Gaza-Krieges fluteten?
Ganz offensichtlich war etwas hervorgebrochen, das lange Zeit nur im Privaten stattgefunden hatte. Aber trotz dieses Sommers 2014, der einen offensichtlichen Paradigmenwechsel ankündigte, wenn man genau hingeschaut hatte, brauchte es noch den Sommer 2015. Da kam die sogenannte "Flüchtlingskrise". Und diese bot die letzte Legitimation für all jene, die eine paranoide Angst um ihr Leibeswohl heimgesucht hatte.
Interesse gilt sich selbst und ausschließlich sich selbst
Man sagt, der Antisemitismus sei der Gradmesser einer Gesellschaft, er erzähle - mehr jedenfalls als über die Juden, die in ihr leben - über versteckte Störungen. Ich denke, in den letzten Jahren konnten wir Zeugen dieses Phänomens werden. Denn mit dem Antisemitismus erstarkte auch der allgemeine Rassismus. Und nur fünf Jahre nach dem Gaza-Krieg sitzen die angeblich so verfeindeten Muslime und Juden in Deutschland im selben Boot. Außer natürlich, sie werden von einer bestimmten Seite instrumentalisiert und für deren jeweilige politische Zwecke benutzt. Dann sitzen sie selbstverständlich in unterschiedlichen.
So schwören Islamophobiker einen neuen Antisemitismus herauf, der ihren geliebten Juden den Garaus machen würde. Sie behaupten sogar, dass das, was Hitler begonnen habe, jetzt durch syrische Flüchtlinge zu Ende gebracht werden würde. Vermutlich aus irgendeiner Turnhalle heraus oder einem Flüchtlingsheim. Antisemiten und Verschwörungstheoretiker auf der anderen Seite erklären ungefragt jedem, dass die armen Flüchtlinge Opfer der Israelis seien, die selbstverständlich den gesamten syrischen Bürgerkrieg orchestrieren, um Europa in eine Krise zu stürzen und so - finally- die Weltherrschaft an sich zu reißen. Auf wen auch immer man trifft, das geheuchelte Interesse gilt niemals der Minderheit, für die sich angeblich so leidenschaftlich eingesetzt wird, sondern einzig und allein dem Zweck, den Grund der Ablehnung auch beweisen zu können. Das Interesse gilt sich selbst und ausschließlich sich selbst.
Keinen Juden und keinen Flüchtlingen.
Einige Jahre sind seit dem Paradigmenwechsel ins Land gegangen. Heute muss ich keinem deutschen Journalisten mehr vom brodelnden Antisemitismus erzählen. Heute ist Antisemitismus "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen. Ich sage gerne, dort war er nie weg, er wurde nur totgeschwiegen. Aber immerhin führt man mittlerweile alle zwei Monate eine neue Antisemitismusdebatte, man hat einen Antisemitismusbeauftragten in der Regierung sitzen, es gibt Symposien zu Antisemitismus und wie man diesen bekämpfen solle. Man könnte meinen, ich hätte den Antisemitismus zum Trend gemacht, dabei habe ich ihn - wie alle anderen Juden auch - nur früher gespürt, weil er uns eben betrifft.
Meine allerliebste Äußerung aus den ersten Monaten auf Lesereise ist und bleibt: "Ich habe noch nie Antisemitismus erlebt. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass es das gibt." "Well, möglicherweise, weil Sie kein Jude sind", war meine Standardantwort. Empathie ist keine deutsche Erfindung. So viel ist klar.
Schulbesuch mit Romanlesung
Vor einigen Wochen wurde ich von einer Bildungsinitiative in eine Schule eingeladen, um aus meinem Roman zu lesen und anschließend mit den Schülern in eine Diskussion zu gehen. Es handelte sich um ein Gymnasium in Anklam. Anklam liegt in Mecklenburg-Vorpommern. Der Landesverband der NPD hat hier seine Geschäftsstelle. Zur Bundestagswahl 2016 holte die AfD 20,6% der Stimmen. Als man kurz vor der Wahl eine U18-Wahlparty organisierte und die Jugendlichen wählen ließ, waren 42% für die AfD.
Es war 10:00 Uhr morgens und ich saß an einem kleinen Tisch in der Aula vor 60 Jugendlichen zwischen 15 und 16 Jahren. Offensichtlich hatte kein Schüler einen migrantischen Hintergrund. Vorab hatte ich die Lehrer darum gebeten, den Schülern den Prolog und das erste Kapitel des Romans zum Lesen zu geben und anonym Fragen auf einen Zettel zu schreiben. Ich wollte, dass die Schüler die Möglichkeit haben, auch Fragen zu stellen, die sie sich nicht vor Publikum oder vor mir trauen würden laut zu äußern. Das tue ich, weil ich an das offene Äußern von Fragen glaube, denn nur auf eine ehrliche Frage kann ich eine ehrliche Antwort gegeben.
1. Sehen Sie sich eher als Deutsche oder Israelitin?
2. Haben Sie persönlich etwas mit dem Thema Faschismus zu tun?
3. Sie haben in Israel recherchiert. Dort gab es Krieg. Warum sind Sie nicht nach Deutschland zurückgekehrt, obwohl es dort sicherer ist?
Ich stellte mich kurz vor und las dann ein Kapitel aus meinem Roman vor. Darin wird eine Szene geschildert, in der meine Protagonistin Lola auf ihren Bekannten Toni trifft. Dieser äußert im Gespräch unterschiedliche Positionen zu Israel. Zum Beispiel "Israel ist ein Apartheidstaat, und jeder, der etwas anderes behauptet, lügt. Wie können die Juden den Palästinensern nur ein solches Unrecht zufügen? Gerade sie sollten es ja besser wissen. Aber was da in Gaza und hinter der Mauer der Westbank passiert, ist nicht besser als Auschwitz." Und auf Lolas Frage, ob Toni schon einmal in Israel gewesen sei, antwortet er: "Ich muss nicht dort gewesen sein, um das Unrecht zu beurteilen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Auch mit der Gehirnwäsche, der man uns Deutsche seit dem Ende des Krieges unterzieht. Immer müssen wir uns schuldig fühlen. Was habe ich denn damit zu tun, was mein Großvater getan hat? Nichts. Absolut gar nichts. Immer sind es die armen Juden, und man darf nichts gegen Israel sagen. Sofort ist das dann Antisemitismus. Dabei will ich doch nur ein Land von vielen kritisieren dürfen. Wieso bin ich da gleich Antisemit?"
Diese Szene aus meinem Buch ist autobiografisch. Toni gibt es. Und Toni hat vor fünf Jahren in einem Restaurant in Berlin genau diese Dinge zu mir gesagt. Toni ist kein Idiot. Toni ist auch kein AfD-Wähler, von dem man solche Argumente erwartet. Toni wählt Die Grünen, kauft im LPG-Markt ein und schaut gerne Dokumentationen. Toni ist ein durchschnittlich gebildeter und überdurchschnittlich politisch interessierter Mann. Er hat Abitur gemacht und studiert. Er sieht sich liebend gerne das Comedy-Programm von Oliver Polak an, weil der so lustig ist. Der Antisemitismus ist nicht erst zu Toni hervorgedrungen, er hat in Tonis Kindheit stattgefunden: Im Wohnzimmer, in der Schule und vor dem Fernseher. Während ich diese zehnseitige Szene vorlas, beobachtete ich die Jugendlichen. Ich konnte sehen, dass ich ihre Gedanken vorlas, dass Toni ihre Gedanken aussprach und dass sie sich ertappt fühlten.
Die erste Frage kam von einem Jungen namens Christian: "Wo ist das Problem an Israelkritik?" Ich verzog meinen Mund, bewegte meinen Kopf hin und her, murmelte, stimmt, wo ist eigentlich das Problem? Und fragte dann, ob jemand Portugalkritik kenne, oder Myanmarkritik, oder Antarktiskritik, oder Kongokritik. Aber die Schüler schüttelten ihre Köpfe, weil sie von dieser Kritik noch nie gehört hatten. Ich versuchte ihnen zu vermitteln, dass politisches Denken wichtig ist, zu zweifeln ist wichtig und Zusammenhänge zu hinterfragen auch, aber, es sei doch auffällig, wenn es für kein anderes Land dieser Welt eine solche Wortschöpfung gibt, obwohl überall auf der Welt Ungerechtigkeit und Leid passiert.
Christian war nicht zufrieden. Er stocherte weiter. "Gut. Dann anders. Sie haben in Israel gelebt", fragte er, "Ich würde gerne wissen, wer aus Ihrer Sicht schuld am Konflikt ist?" Ich konnte Christians Frage schon wieder nicht befriedigend beantworten. Das sah ich sofort an seinem Gesicht, denn ich sagte, dass es nicht um Schuld gehe. Wir alle sind schuldig. Jeder einzelne macht sich schuldig, jeden Tag. Menschen machen sich schuldig. Länder machen sich schuldig. Keiner ist nie unschuldig. Ich sagte auch, dass es sich um einen geopolitischen Konflikt handle, der sich nicht auf das Gebiet, das man Israel nennt, oder einen bestimmten Zeitraum beschränken lässt. Und ich sagte ihm, dass ich keine Israel-Expertin sei, sondern Schriftstellerin. Aber Christian ließ nicht locker. Seine nächste Frage, die er sofort im Anschluss an meine anscheinend ungehörten Antworten stellte, war "Wie kann der Konflikt ihrer Meinung nach gelöst werden?" Auch hier versuchte ich Christian den Unterschied zwischen einfachen und komplexen Wahrheiten nahezubringen und ihn davon zu überzeugen, dass meine Meinung, würde ich eine haben, meine Meinung bliebe und noch lange keine Wahrheit wäre. Ich ermutigte Christian mit seinen Fragen in die Welt zu treten und Antworten darauf in sich selbst zu finden. Indem er lesen, reisen und sich entdecken solle.
Christians Unzufriedenheit nahm mit jeder meiner Antworten zu. Ein Lehrer schaltete sich ein, der zu Christians Verteidigung ausholte und von mir forderte, ich als Halbjüdin wäre doch genau die Richtige meine deutsch-jüdische Position zur Siedlungspolitik Israels zu äußern. Und man habe mich schließlich aus diesem Grund eingeladen. Nämlich hier mal eine jüdische Position zu Israel zu erfahren.
Ich als Halbjüdin. Dieser Satz hallte in mir nach, ohne dass ich mich auf die Sätze konzentrieren konnte, die weiterhin aus dem Mund des Lehrers sprudelten. Als er fertig war, erklärte ich ihm zu allererst, dass Halbjüdin ein nationalsozialistischer Begriff ist, den ich mir verbitte, und dass ich nicht die deutsch-jüdische Entität bin, sondern lediglich Mirna Funk. Dass ich mich weigere, für eine pluralistische Gruppe zu sprechen, die zu dem Konflikt so viele Positionen hat wie Gehirne.
Der Lehrer entschuldigte sich nicht dafür, mich Halbjüdin genannt zu haben. Aber das kenne ich schon. Er hörte auch nicht auf, mich zu einer Position zu Israel zu drängen. Auch das kenne ich. Enttäuschtes Raunen ging durch den Saal, noch mehr Köpfe wurden geschüttelt. Ich spürte, wie sie dachten, diese nutzlose Jüdin. Was will die eigentlich von uns. Zurück mit ihr nach Palästina.
Ich behielt meine Fassung. Auch, weil ich in den letzten Jahren gelernt habe, meine Fassung niemals zu verlieren. Unter keinen Umständen. Denn, dann wäre ich nicht nur eine nutzlose Jüdin, sondern auch noch eine wütende. Eine verbitterte. Eine hysterische.
Ich schaute auf meine Uhr und teilte ihnen mit, dass ihnen noch 30 Minuten blieben, um mir weitere Fragen zu stellen. Und dann kamen noch mehr Fragen zu Israel, dem Mossad und der Siedlungspolitik. Keiner war bereit, die eigene offensichtliche Obsession wahrzunehmen. Obwohl genau jene Obsession in meinem vorgelesenen Kapitel reflektiert worden war. Keiner war bereit, Komplexitäten anzuerkennen. Und keiner war bereit, sich mit seinem eigenen Antisemitismus, seinem totalen Unwissen zur jüdischen und israelischen Lebenswelt und seiner deutschen Geschichte auseinander zu setzen.
Was dort in dieser Schule passierte, ist nicht Anklam, nicht 20,6% AfD, nicht Mecklenburg-Vorpommern, und schon gar nicht Ostdeutschland. Was dort passierte, ist deutscher Standard. Die Fragen, die sie mir stellten, das Unwissen, dem ich ausgesetzt war, die Aggression und Brutalität mir gegenüber, weil sie nicht die Antworten bekamen, die sie von mir hören wollten, ist seit vier Jahren meine Lebenswelt. Jede Lesung sieht so aus. Egal ob ich vor 80jährigen oder 18jährigen spreche. Egal ob in Mecklenburg-Vorpommern oder Nordrhein-Westfalen. Noch vor acht Wochen saß ich quasi vor den Großeltern dieser Kinder in einer westdeutschen Kleinstadt. Wenn ich vom säkularen Tel Aviv erzählte, wo man unkoschere Scampi-Pasta an jeder Ecke bekommen kann, schaute man mich ungläubig an und schüttelte energisch mit dem Kopf, und als ich diese Menschen fragte, ob sie denn schon mal in Tel Aviv gewesen seien, schüttelten sie wieder mit dem Kopf. Ein bisschen verschämt zwar, aber trotzdem nicht überzeugt von meiner Antwort. Sie wollten mit mir über die Mauer sprechen. Und ob mir als Ostdeutsche diese israelische Mauer nicht furchtbar vorkäme. Sie wollten über die Westbank sprechen und über Gaza.
Dabei geht es in meinem Roman nicht um Israel. Jedenfalls nicht ausschließlich. Es geht um eine junge Jüdin der Dritten Generation und ihr Leben in Deutschland. Und obwohl die meisten Personen, vor denen ich lese oder spreche, nichts übers Judentum oder jüdisches Leben wissen, wollen sie mit mir ausschließlich über Israel sprechen. Halt, sie wollen mit mir nicht über Israel sprechen. Sie wollen etwas zu Israel sagen. Wenn ich etwas in den letzten vier Jahren gelernt habe, dann, dass ihre Überzeugungen, ihre Positionen und ihre Vorstellungen von Israel nicht zu verändern sind. Sie werden genau so bleiben. Auch nach meiner Lesung und den anschließenden Diskussionen. Sie müssen bleiben, weil sie ein Teil der notwendigen Abwehr sind. Die Position zu Israel ist ein Baustein eines sehr komplexen Gebäudes, das nur ein Ziel hat, sich nicht mit den eigenen unangenehmen Gefühlen zur deutsch-jüdischen Geschichte auseinandersetzen zu müssen. Es geht nicht um das Leid der Palästinenser, das ohne Zweifel existiert, es geht nicht um Ungerechtigkeiten und Gewalt, die beide Seiten seit Jahrzehnten heimsucht, es geht nicht um die komplizierten politischen Allianzen, die den gesamten Mittleren Osten prägen. Die Wenigsten wissen irgendetwas über die Gesamtsituation. Wenn ich Zahlen nenne und Bevölkerungsgruppen aufzähle, die in Israel leben, sind alle immer ganz erstaunt.
Wenn ich von den furchtbaren Diskriminierungen gegenüber Palästinensern im Libanon, Syrien oder Ägypten erzähle, reagieren die meisten irritiert. Wenn ich erkläre, dass es sich beim israelisch-palästinensischen Konflikt um kein Fußballspiel handele, wo es Gewinner und Verlierer gibt, dass es weder um gut und böse noch um richtig oder falsch geht, unterstellt man mir eine pro-israelische Position. Dabei habe ich die nicht einmal.
Als ich einer Freundin, die meinen Roman kennt, zwei Tage später von der Lesung in Anklam erzählte, fragte sie mich, ob ich es nach vier Jahren nicht eigentlich leid bin. Immer dieselben Fragen gestellt zu bekommen, immer dieselben Diskussionen führen zu müssen, ja, mit alledem immer wieder konfrontiert zu werden, um das es in meinem Roman schließlich geht. Ich würde das Geschriebene reproduzieren, ja, ich steckte in meinem eigenen Buch fest, erklärte mir meine Freundin. Und dann begriff ich das erste Mal, das ich genau das tat. Mit jeder Lesung, jedem Podium, jedem Panel reproduziere ich die Ereignisse, die in meinem Roman beschrieben werden. Ich höre dieselben Zuschreibungen, dieselben antisemitischen Ressentiments und immer gleichen Behauptungen. Mit jeder öffentlichen Auseinandersetzung zu diesem Thema reproduziere ich also ein Leben, dem ich eigentlich hatte entfliehen wollen als ich im Herbst 2014 meinen Aliyah-Antrag, also meine Einbürgerung nach Israel, stellte.
Ein Buch kann nicht die Welt verändern
Wie eine gesprungene Platte ist mein Leben und gleichzeitig passieren mir persönlich keine antisemitischen Anfeindungen mehr. Das heißt, ich habe mir als Person Mirna Funk einen antisemitismus- und "israelkritikfreien" Raum geschaffen, indem ich einen Roman über diese Themen schrieb. Aber die Schriftstellerin Mirna Funk habe ich in einen Raum gesperrt, der Winternähe heißt. Aus irgendwelchen Gründen wird die Schriftstellerin nicht müde, auf diese gesprungene Schalplatte zu reagieren und die Person Mirna Funk hat sich gegen die Aliyah entschieden. Retrospektiv werde ich das irgendwann analysieren können.
Ich antwortete auf die Frage meiner Freundin, warum ich das alles tue, warum ich nicht müde werde. Ich erzählte ihr, dass ich in dem ersten Jahr nach der Veröffentlichung fix und fertig war und alle Lesungen nach einer Veranstaltung in Magdeburg für einen Zeitraum von sechs Monaten abgesagt hatte. Ich erzählte ihr auch, dass ich irgendwann wieder Kraft bekam und meine Einstellung änderte. Ich sagte, ich halte es wie mit diesem alten jüdischen Talmudspruch, den die Juden Oskar Schindler in den Ring gravieren ließen, den sie ihm im Mai 1945 übergaben "Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt." Wenn ich nur eine einzige Person dazu bringe, sich mit den unangenehmen Gefühlen der deutsch-jüdischen Geschichte, den echten politischen Zusammenhängen des Israel-Palästina Konflikts und dem lebendigen Judentum in Deutschland auseinanderzusetzen, dann reicht mir das. Mittlerweile.
Denn ich habe gelernt, dass ich niemanden belehren, aufklären oder bekehren kann. Ich habe gelernt, dass ein Buch nicht die Welt verändern wird, auch kein Artikel, keine Dokumentation, keine Radiosendung und kein Film. Aber war das nicht überhaupt ein merkwürdiger Anspruch, den ich hatte?
Meine Aliyah habe ich nie zu Ende gemacht. 2015 verließ ich Tel Aviv als enttäuschte Zionistin und kam als kämpferische deutsche Jüdin zurück nach Berlin. Enttäuscht war ich von den innenpolitischen Problemen in Israel, nicht den außenpolitischen, die kannte ich ja längst. Ich war enttäuscht von der nicht funktionierenden Infrastruktur, heruntergekommenem Wohnraum, der zu horrenden Preisen und ohne jeglichen Mieterschutz für maximal ein Jahr vergeben wird, enttäuscht von dem schlechten Angebot im Supermarkt, der ungerechten Behandlung von Vaterjuden, die zwar israelische Staatsbürger werden können und in der Armee kämpfen sollen, aber weder heiraten noch auf einem jüdischen Friedhof neben der eigenen Familie beerdigt werden dürfen. Was es in Israel nicht gab, war Antisemitismus, aber es gab gravierende Ungerechtigkeit - wie in jedem anderen Land dieser Welt auch. Jeden Tag zwischen August 2014 und Juli 2015 fragte ich mich, ob es richtig ist, mich einfach so davon zu stehlen. Also Deutschland zu verlassen, um in einem neoliberalen Land mit radikal religiösen Kräften zu leben, nur um nie wieder hören zu müssen, dass Juden keine Steuern zahlen oder der Holocaust der Vergangenheit angehöre oder Israelis die neuen Nazis seien.
Kampf für einen Platz für jüdische Gegenwart
Ich fragte mich, ob ich als deutsche Jüdin nicht eine Aufgabe habe, nämlich dafür zu kämpfen, dass man glücklich in der Diaspora leben kann. Vielleicht auch dafür zu kämpfen, dass der Antisemitismus, den ich erlebt hatte, nicht noch stärker wird, sondern möglicherweise schwächer. Dafür zu kämpfen, dass es den jüngeren Generationen deutscher Juden, aber auch Juden, die sich entschieden haben, nach Deutschland zu gehen, um dort zu leben, besser gehen würde als mir.
Ja, ich ging zurück nach Deutschland, um zu kämpfen. Für eine andere Form von Erinnerungskultur und Auseinandersetzung mit deutsch-jüdischer Geschichte nämlich. Wenn die Politikerin Sawsan Chebli Zwangs-KZ-Besuche fordert, dann kneife ich schmerzverzerrt die Augen zusammen. Wenn der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein von Virtual Reality-Projekten faselt, in denen Zeitzeugen in deutsche Klassenzimmer projiziert werden sollen, läuft es mir kalt den Rücken runter. Und wenn stolz berichtet wird, man plane eine Briefmarke anlässlich irgendeines jüdischen Kulturjahres in Köln, muss ich mein hysterisches Lachen unterdrücken. Die Einfältigkeit, Unwissenheit, Unsicherheit und Idiotie, mit der nichtjüdische Deutsche Verständigungsarbeit "veranstalten", ist zum Verzweifeln.
Dennoch werden sie nicht müde, ihr eigenes Ding zu machen und Juden aus ihren Gedächtnistheaterprojekten auszuschließen. Sie glauben, alles alleine und besser machen zu können. Sie glauben zu wissen, wie Aufarbeitung und Integration geht. Sie glauben, sie könnten den Antisemitismus aufhalten. Aber zeigen nicht die aktuellen Ergebnisse von Studien und die politischen Entwicklungen, dass sie es eben nicht wissen und auch nicht können?
Schon ein paar Jahre plädiere ich für einen gemeinsamen Jom HaShoah, also einen Holocaust-Erinnerungstag, der mit dem offiziellen Gedenktag in Israel zusammenfällt.
Ich äußere offen bildungspolitische Ideen, die die intensive Auseinandersetzung mit der nicht-jüdischen Biografie vorsehen, um so wieder Kontakt zur eigenen Geschichte zu knüpfen. Denn während jüdische Kinder aus Post-Holocaustfamilien alles über den Aufenthalt, das Verbleiben und das Leid ihrer Urgroßeltern wissen, wissen die nichtjüdischen Kinder rein gar nichts über ihre Familienhistorie. Das Schweigen hat eine Leerstelle in der eigenen Biografie kreiert. Diese Leerstelle darf nicht bleiben, weil sie das Individuum von gesellschaftspolitischen Ereignissen entkoppelt. Diese Leerstelle muss mit realen Geschichten gefüllt werden, um den Kontakt in die Vergangenheit herzustellen. Nur so kann ein Bewusstsein entstehen, dass die Gegenwart als Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht. Nur so kann eine verantwortungsvolle Generation von Kindern heranwachsen, die sich selbst als politische Wesen begreift.
Ich plädiere außerdem dafür jüdische Kultur, jüdische Geschichte und jüdische Gegenwart im Unterricht zu lehren, um das Unwissen zu füllen, damit kein Platz für Ressentiments und Verschwörungstheorien bleibt. Ich plädiere dafür, junge Juden wie vom Projekt "Rent a Jew" in Schulen zu bringen, Bücher von jungen jüdischen Autoren im Unterricht zu lesen, um so die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata vorzustellen. Denn die findet man in Büchern von jungen Juden und auch in ihren Geschichten. Und ich plädiere für Klassenfahrten nach Tel Aviv, um anhand dieser Reisen die Komplexität des Konfliktes zu erläutern.
Es gibt so viel zu tun und so viel, dass getan werden kann. Aber nichts davon passiert, weil immer noch niemand jungen Juden und ihren Ideen in Deutschland zuhören möchte. Nein, da kommt man mit projizierten Zeitzeugen, Zwangs-KZ-Besuchen und Briefmarken um die Ecke, um den Antisemitismus aufzuhalten. Das ist grotesk.
Heute ist die AfD in den meisten Parlamenten in diesem Land vertreten. Menschen, die aus Kriegsgebieten geflohen sind, um Sicherheit zu finden, werden auf deutschen Straßen gejagt. Rapper werden trotz antisemitischer Textzeilen mit Preisen ausgezeichnet.
Eine lange Zeit glaubte Deutschland – glücklich im Delirium – es wäre Weltmeister im Verantwortungübernehmen, im Rassismusbekämpfen und aus seiner Vergangenheitlernen, bis es von der Realität eingeholt wurde. Es macht immer mehr Spaß aus einer vermeintlich moralisch unversehrten und überlegeneren Position heraus zu argumentieren. Diese Position hat Deutschland aber vor vier Jahren verloren. Das hindert weder die Kids in Anklam daran, mit mir über die rechtswidrigen Tötungsaktionen des Mossads zu diskutieren noch die Großelterngeneration in einem westdeutschen Kaff, von Gaza als einem Konzentrationslager zu sprechen. Aber vielleicht wird meine Arbeit, und die Arbeit, der vielen sehr laut gewordenen jüdischen Stimmen in Deutschland - wie Max Czollek, Sasha Maria Salzmann, Olga Grjasnowa, Fabian Wolff, Jo Frank, Alexa Karolinski und Ben Salomo, um nur einige zu nennen - langfristig Folgegenerationen lehren, dass Dinge komplexer sind als man es ihnen vorgaukelt und kein Land der Welt moralisch besser als das andere ist. Dazu müssten die deutschen Moralisten aber endlich die Bühne räumen und denen Platz machen, über die seit 70 Jahren, ohne ihre Anwesenheit, gesprochen wird.