Dass es in der arabischen Welt und unter Arabern im Exil einen weit verbreiteten Antisemitismus gibt, ist in den letzten Jahren häufig und teils kontrovers thematisiert worden. Stefan Weidners Radioessay geht der Frage nach, wie der arabische Antisemitismus entstanden ist, aus welchen islamischen, christlichen und säkularen Quellen er sich speist und in welche globalen Konfliktlinien er sich heute einschreibt. Der Beitrag zeigt auf, wie die aus diesem Diskurs gewonnenen Erkenntnisse nicht nur dazu beitragen können, Antisemitismus und Rassismus einzudämmen, sondern wie sie auch die politischen Rahmenbedingungen erhellen und neue Lösungsstrategien für den Nahost-Konflikt aufzeigen.
Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt veröffentlichte er "Jenseits des Westens. Für einen neuen Kosmopolitismus" (2018) und "1001 Buch. Die Literaturen des Orients" (2019). Im Deutschlandfunk wurde 2019 Weidners Radioessay "Unsere Freiheit, von außen gesehen" gesendet.
(Teil 5, Rap-Zerrbild der Gesellschaft? von Marcus Staiger am 14.7.2019)
Der Mord an Leon Klinghoffer
Im Oktober 1985 kaperten vier palästinensische Terroristen das italienische Kreuzfahrtschiff Achille Lauro. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, suchten sie amerikanische und jüdische Passagiere heraus, die sie der Reihe nach töten wollten. Am 8. Oktober wurde der 69 Jahre alte Leon Klinghoffer erschossen. Der Mord trägt unverkennbar antisemitische Züge. Die einzige Verbindung, die Klinghoffer zu Israel und den Palästinensern hatte, bestand darin, dass er ein Jude war.
Der amerikanische Komponist John Adams, der Theatermacher Peter Sellars und die Librettistin Alice Goodman griffen die Ereignisse auf der Achille Lauro auf und machten daraus die Oper "Klinghoffers Tod", die 1991 in Brüssel uraufgeführt wurde.
Adams und seine Mitstreiter begreifen den Stoff als einen unlösbaren Konflikt nach Art einer griechischen Tragödie. Chöre, die jeweils die palästinensische und die jüdische Position repräsentieren, nehmen in dem Stück einen breiten Raum ein.
Der Mord an Klinghoffer erscheint als Folge einer tragischen Verstrickung. Dass das Opfer unschuldig ist, ändert im Stück nichts daran, dass beide Seiten in dieser Auseinandersetzung legitime Positionen vertreten. Die Frage nach dem Antisemitismus wird hingegen außen vor gelassen.
Genau deswegen warfen verschiedene jüdische Organisationen den Opernmachern vor, antisemitisch zu sein und den Terrorismus zu verklären. Noch 2014 führte eine Inszenierung an der Metropolitan Opera New York zu massiven Protesten. Als Zugeständnis wurde die übliche Übertragung der Met-Aufführungen in Kinosäle in der ganzen Welt ausgesetzt. Die Oper blieb aber auf dem Spielplan.
Statt die Oper für antisemitisch zu halten, könnte man ebenso gut die Meinung vertreten, das Stück setze Leon Klinghoffer und mit ihm allen unschuldigen Opfern des Nahostkonflikts ein Denkmal. Dass der Mord an einem an den Rollstuhl gefesselten alten Mann kein Ruhmesblatt des palästinensischen Widerstands darstellt und diesen allein durch die Thematisierung dieser verabscheuenswerten Tat diskreditiert, dürfte auf der Hand liegen.
Reden über arabischen Antisemitismus: verharmlosen oder dramatisieren
Während es unstreitig ist, dass es arabischen Antisemitismus gibt, ist das Reden darüber unweigerlich einem doppelten Verdacht ausgesetzt: Entweder zu verharmlosen oder zu dramatisieren. Die weltpolitische Kontextualisierung des arabischen Antisemitismus, wie sie in der Klinghoffer-Oper vorgenommen wird, kann als Verharmlosung und Verständnis gewertet und daher ihrerseits als antisemitisch aufgefasst werden.
Betont man dagegen den arabischen Antisemitismus ohne den Kontext des Nahostkonflikts, könnte man sich umgekehrt dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die Kritik an der israelischen Politik und die Anliegen der Palästinenser pauschal als nicht legitim abzutun. Wer beim Reden über den arabischen Antisemitismus die Skylla des Antisemitismusvorwurfs umschiffen will, läuft Gefahr, an der Charybdis des Vorwurfs von Islamophobie, Rassismus oder Orientalismus zu scheitern.
Die Annahme, arabischer Antisemitismus sei ein von den Umständen unabhängiges Phänomen und lasse sich ohne Kontext thematisieren, kommt einer Mystifikation und Hypostase antisemitischer Einstellungen gleich: Antisemitismus erscheint dann wie eine angeborene, genetische Disposition, die in manchen Völkern, etwa Deutschen und Arabern, besonders häufig auftritt. Eine solche Ansicht vertritt etwa Daniel Goldhagen in verschiedenen Büchern.
Selbst wenn man diese Ansicht für überzeugend hält, hat sie den Nachteil, dass sie den Kampf gegen den Antisemitismus mit Argumenten und im Sinne der Aufklärung von vornherein als aussichtslos darstellt. Wenn es aber unmöglich ist, dem Antisemitismus argumentativ entgegen zu treten, bleibt als einzige Option, ihm die Machtfrage zu stellen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen, wie uns der Nahostkonflikt bis heute vorführt. Daher scheint es ein Gebot der Klugheit, auch und gerade im Fall des arabischen Antisemitismus für die andere Hypothese zu plädieren und ihn im größeren politischen Kontext zu betrachten - wie es die Klinghoffer-Oper getan hat. Wenn der Antisemitismus, und der arabische zumal, nicht außerhalb der Geschichte steht, sondern ebenso wie alles eine Geschichte hat, warum sollte diese Geschichte nicht auch eines Tages enden können und vielleicht sogar ohne Gewalt?
Die Anfänge kann man klar benennen
Wo liegen also die Anfänge und was sind die Kontexte des arabischen Antisemitismus? Drei können wir klar benennen: Die traditionellen Vorbehalte gegen die Juden in der islamischen Tradition; die mit der Staatsgründung Israels 1948 anhebende Geschichte des Nahostkonflikts; und der in den Holocaust mündende europäische Antisemitismus.
Waren die Juden in Europa die einzigen Andersgläubigen, mit denen das Christentum auf eigenem Territorium konfrontiert war, so hatten die Juden in der islamischen Welt denselben Status wie die Christen: Sie waren eine anerkannte Glaubensgemeinschaft mit eingeschränkten, aber allgemein anerkannten, vom Propheten selbst gewährten Grundrechten. Insgesamt ist sich die historische Forschung - auch von jüdischer Seite - einig, dass Juden in der islamischen Welt sicherer lebten und besser integriert waren als im vormodernen Europa.
Allerdings finden sich auch im Islam seit frühester Zeit Vorbehalte gegen die Juden. Da sie die Bekehrungsversuche des Propheten ablehnten, wurden sie von ihm phasenweise bekämpft. Diese Auseinandersetzungen schlugen sich auch in mehreren antijüdischen Koranversen nieder, auf die sich diejenigen Muslime, die gegen die Juden vorgehen wollten, berufen konnten. Die Möglichkeit der antisemitischen Interpretation islamischer Quellen war also seit jeher gegeben, ist jedoch erst unter europäischem Einfluss systematisch genutzt worden. Die Geschichte des heutigen arabisch-muslimischen Antisemitismus beginnt daher nicht mit dem Islam, sondern im 19. Jahrhundert im Kontext der europäischen Kolonialbestrebungen.
Bernard Lewis schreibt über die Entwicklungen im 19. Jahrhundert:
"Eine spezifische Kampagne in der unverkennbaren Sprache des europäischen christlichen Antisemitismus […] trat erstmals im 19. Jahrhundert unter den [arabischen] Christen in Erscheinung. Die ersten antisemitischen Pamphlete in arabischer Sprache erschienen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurden aus den französischen Originalen übersetzt - Teil der kontroversen Literatur zur Affäre Dreyfus."
Auch die Deutschen spielten dabei eine höchst unrühmliche Rolle. Sie sahen Araber und Muslime als Verbündete gegen England und Frankreich und versuchten, Aufstände gegen die englisch-französische Vorherrschaft in der arabischen Welt anzuzetteln. Den Antisemitismus zu schüren, zählte vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenlehre selbstverständlich dazu. Vor diesem Hintergrund ist auch der vieldiskutierte Aufenthalt von Amin al-Husseini, des Muftis von Jerusalem und einer der Führer der Palästinenser, während des Kriegs in Berlin zu verstehen. Er ließ sich bereitwillig für die Nazi-Propaganda einspannen - gegen die englische Mandatsherrschaft in Palästina ebenso wie gegen die Juden.
Die Allianz zwischen Nazis und arabischen Regimen setzte sich nach dem Krieg teilweise fort. 1956 wurde ein ehemaliger Mitarbeiter von Goebbels und ein Freund von Amin al-Husseini, der nach dem Krieg in Ägypten lebte, von der ägyptischen Regierung angeheuert und verbreitete über ägyptische Radiostationen antisemitische Propaganda. Offensichtlich stand er auch dem Ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser nah, der sich 1952 an die Macht geputscht hatte.
Historikerthesen und literarische Stellungnahmen
In einer Rede vom Oktober 2015 behauptete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Amin al-Husseini habe Hitler, der die Juden nur hätte vertreiben wollen, zur Vernichtung der Juden überredet. Der Historiker Wolfgang Schwanitz gab Netanjahu in einem Artikel für die "Jerusalem Post" vom 04.11.2015 Recht.Stimmt diese These, zählten die Araber zu den Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Dies wiederum kommentierte der israelische Historiker Amnon Raz-Krakotzkin mit den Worten:
"Der israelische Versuch, die Palästinenser für den Holocaust verantwortlich zu machen, geht folglich mit dem deutschen Wunsch einher, die Verantwortung für das Verbrechen anderen zu übertragen."
Die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust gehört zum Standard-Repertoire des arabischen Antisemitismus. Besonders deutlich zeigte sich dies im Fall des ehemals kommunistischen französischen Intellektuellen Roger Garaudy, der wegen seines 1995 publizierten Buchs "Die Gründungsmythen der israelischen Politik" als Holocaustleugner verurteilt wurde. Genau wegen dieser Haltung wurde er in der arabischen Welt hofiert.
Besonders die schiitische Hisbollah im Libanon ist durch massive antisemitische Propaganda aufgefallen. Der hochproblematische Umstand, dass der arabisch-palästinensische Widerstand gegen Israel wenig Berührungsängste gegenüber dem Antisemitismus aufweist, hat eine Reihe von arabischen Intellektuellen auf den Plan gerufen. Sie beziehen den Holocaust in ihre Überlegungen zum arabisch-jüdischen Verhältnis gezielt mit ein.
Zu ihnen zählt der 1972 in Beirut ermordete palästinensische Autor Ghassan Kanafani. Er thematisierte den Holocaust bereits 1969 in seinem Kurzroman "Rückkehr nach Haifa". Die polnische Jüdin Miriam, deren Vater und Bruder von den Deutschen ermordet wurden, adoptiert einen palästinensischen Säugling als Ziehsohn. Als seine leiblichen Eltern 18 Jahre später nach Haifa zurückkehren, entscheidet sich der Sohn, der seinen Militärdienst für Israel ableistet, für seine jüdische Identität.
Edward Said schrieb über die arabische Begeisterung für den Holocaustleugner Roger Garaudy 1998 in "Le monde diplomatique":
"Die Behauptung, der Holocaust sei nur eine Erfindung der Zionisten, ist in unerträglicher Weise immer noch im Umlauf. Wie sollen wir von der Welt erwarten, dass sie die Leiden der Araber zur Kenntnis nimmt, wenn wir […] nicht fähig sind, das Leid anderer anzuerkennen?"
Und im vielbeachteten, 1998 publizierten Roman "Das Tor zur Sonne" des libanesischen Autors Elias Khoury stellt der Erzähler einen Veteranen des palästinensischen Widerstands zur Rede:
"Was habt ihr seinerzeit, als das Ungeheuer Nationalsozialismus die Juden in Europa vernichtete, von der Welt gewusst? […] Sag, habt ihr in den Gesichtern derer, die zur Vernichtung abtransportiert wurden, keine Ähnlichkeiten mit euch selbst wahrgenommen?"
Doch wirken diese Bemühungen arabischer Intellektueller nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein des Nahostkonflikts. Indem seit der Gründung des Staates Israel das Arabische als Gegensatz per se zum Jüdischen gedacht wird, scheint es durch seine schiere Existenz eine Ursache des Antisemitismus zu sein. Diese Sichtweise wird von den Akteuren, die an diesem Konflikt ein Interesse haben und die es auf beiden Seiten gibt, nach Kräften befördert. Vom Konflikt leben die palästinensischen und arabischen Widerstandsorganisationen ebenso wie die antiisraelische Rhetorik den autokratischen arabischen Regimen nutzt. Der arabisch-israelische und damit arabisch-jüdische Konflikt ist für beide Seiten zu einem identitätsstiftenden Faktor geworden.
Mit Bezug auf die Nakba - arabisch für "Desaster" - wie die Palästinenser die Niederlage im ersten arabischen-israelischen Krieg von 1947 und die damit einhergehende Vertreibung nennen, weisen die Historiker Bashir Bashir und Amos Goldberg auf folgenden Umstand hin:
"In ihrer Eigenschaft als vorherrschende nationale Narrative dienen sowohl der Holocaust als auch die Nakba dazu, einander ausschließende Identitäten innerhalb der beiden Gruppen zu festigen. In aller Regel erachtete jede der beiden Gruppen ihre eigene Katastrophe als einzigartiges Ereignis und strebt danach, die Katastrophe der anderen Gruppe abzuwerten oder sie sogar zu leugnen."
Den Konflikt aufzugeben, würde auf beiden Seiten dem Zusammenbruch des eigenen Weltbildes gleichkommen. Das trifft nicht nur auf die eigentlichen Akteure des Konflikts zu, die Araber und die Juden, sondern auch auf ihre Verbündeten und auf die Sichtweise zahlreicher politisch interessierter Menschen im Westen und anderswo auf der Welt, für welche der arabisch-israelische Konflikt eine unveräußerliche politische Orientierungsgröße darstellt, welche vermeintlich dafür sorgt, dass Gut und Böse klar unterscheidbar sind.
Zwei dominante Narrative
Dies wird durch den Umstand verstärkt, dass der Nahostkonflikt als ein globaler Stellvertreterkonflikt aufgefasst werden kann. Dabei prallen zwei dominante Narrative aufeinander, die der Historiker Charles S. Maier in einem Aufsatz bereits im Jahr 2000 beschrieben hat.
Das eine Narrativ geht von Holocaust und Gulag, also den Verbrechen der Nazis und der Kommunisten aus. Daraus wird die moralische Überlegenheit und der politische Führungsanspruch des liberalen Westens abgeleitet. Vor dem Hintergrund des Holocausts fühlt sich auch Israel diesem westlichen Narrativ zugehörig. Die westliche Solidarität mit Israel ist das Symbol dafür.
Das andere, entgegengesetzte Narrativ zweifelt die moralische und politische Überlegenheit des Westens an und beruft sich dabei auf die Verbrechen, die der Westen zur Zeit des Kolonialismus begangen hat, sowie auf die wirtschaftliche Ungleichheit und anhaltende Ausbeutung des globalen Südens. Dafür ist die Situation der Palästinenser symbolisch, und die Anhänger dieses postkolonialen Narrativs, das den Westen kritisiert, sind mit den Palästinensern solidarisch.
Damit stellt sich die Frage nach dem arabischen Antisemitismus komplexer dar, als es zunächst schien. Festzustellen, dass es ihn gibt, ihn zu verurteilen und sich ihm entgegenzustellen, dürfte kaum ausreichen. Und es reicht sicher nicht, um ihn zu überwinden. Mehr noch als der ältere europäische ist der arabische Antisemitismus "nur" - in Anführungszeichen - ein Symptom für tiefergehende Verwerfungen und Zusammenhänge. Sie reichen historisch und geographisch über den Nahost-Konflikt hinaus.
Zu hinterfragen wäre zum Beispiel die weit verbreitete Ansicht, Jüdisches und Arabisches, Juden und Araber stünden in einer Art Erbfeindschaft zueinander, was wiederum die Araber regelrecht dazu prädestinieren würde, Antisemiten zu sein.
Der jüdisch-marokkanische Dichter Sami Shalom Chetrit lebt in Israel und schreibt auf Hebräisch. In einem Text gibt er ein Gespräch zwischen sich und einer amerikanischen Freundin wieder. Sie fragt ihn, ob er Jude oder Araber sei, und reagiert ungläubig, als er sich als 'arabischen Juden' bezeichnet. Um dies zu erklären, weist er darauf hin, dass es ja auch amerikanische und europäische Juden gebe. Darauf kommt es zu folgendem Dialog:
"- Du kannst arabische und europäische Juden nicht vergleichen; ein europäischer Jude ist etwas anderes.
- Wie das?
- Weil "Jude" nicht zu "Araber" passt, es passt einfach nicht, es klingt sogar falsch.
- Hängt von deinem Gehör ab.
- Sieh mal, ich hab nichts gegen Araber. Ich hab sogar Freunde, die Araber sind, aber wie kannst du "arabischer Jude" sagen, wenn alle Araber die Juden vernichten wollen?
- Und wie kannst du "europäischer Jude" sagen, wo die Europäer doch längst die Juden vernichtet haben?"
- Wie das?
- Weil "Jude" nicht zu "Araber" passt, es passt einfach nicht, es klingt sogar falsch.
- Hängt von deinem Gehör ab.
- Sieh mal, ich hab nichts gegen Araber. Ich hab sogar Freunde, die Araber sind, aber wie kannst du "arabischer Jude" sagen, wenn alle Araber die Juden vernichten wollen?
- Und wie kannst du "europäischer Jude" sagen, wo die Europäer doch längst die Juden vernichtet haben?"
Die Fragen von arabischer und jüdischer Identität
Der kurze Text spielt zum einen darauf an, dass die arabische und die jüdische Identität mehr als 1000 Jahre lang keinen Gegensatz darstellten, sondern sich in ein und demselben Menschen verkörpern konnte, und zwar in Gestalt der Juden in Andalusien und ebenso in Palästina, in Syrien, im Irak, im Jemen. Ferner macht der Text deutlich, dass die Auffassung, Jüdisches und Europäisches passe besser zusammen, von Geschichtsvergessenheit zeugt.
Der Staat Israel verdankt seine Gründung Einwanderern aus Europa. Die Araber erschienen ihnen als die anderen und damit als Gegner. Diese negative Sicht auf die Araber färbte sogar auf die arabischen Juden ab, die mehrheitlich erst nach der Staatgründung von 1948 einwanderten.
Der in Haifa lehrende Literaturwissenschaftler Reuven Snir beschreibt in einem autobiographischen Text, welchem Anpassungsdruck die arabischen Juden in Israel ausgesetzt waren.
"Meine Eltern wurden in Bagdad geboren. Sie wanderten 1951 ohne große Begeisterung nach Israel ein. Zwei Jahre später wurde ich geboren. Als ein sabra - ein geborener israelischer Jude - im israelisch‑zionistischen Bildungssystem wurde mir beigebracht, dass sich Arabertum und Judentum gegenseitig ausschließen. Weil ich als Kind versuchte, der herrschenden ashkenasisch-zionistischen Norm zu entsprechen, wie die meisten, wenn nicht alle Kinder mit diesem Hintergrund, schämte ich mich für das Arabertum meiner Eltern. […] Ich verbot ihnen, in der Öffentlichkeit Arabisch zu sprechen und in ihrem eigenen Haus arabische Musik zu hören."
Snir fährt fort:
"Gleichzeitig waren die arabischen Juden, die nach der Gründung Israels dorthin immigrierten, dem hegemonialen hebräisch-zionistischen Establishment preisgegeben, das seine Interpretationsnormen allen kulturellen Gemeinschaften aufbürdete […] Die Verfechter der am Westen orientierten kulturellen Identität beklagten auch die 'Gefahr' der 'Orientalisierung' und 'Levantinisierung' der israelischen Gesellschaft."
Was sich heute als arabisch-jüdischer Gegensatz darstellt, entpuppt sich so gesehen als Zweig der europäisch-christlichen Auseinandersetzungen mit den Arabern seit der Zeit der Kreuzzüge. Und es erklärt, warum der arabisch-muslimische Antisemitismus so häufig mit einem anti-westlichen Ressentiment einhergeht. Dies bestätigt wiederum die These von Charles S. Maier, die besagt, dass der arabisch-jüdische Gegensatz die zwei einander entgegengesetzten globalen Narrative spiegelt, die einerseits von Holocaust und Gulag, andererseits von der kolonialen Unterdrückung und der globalen Ungleichheit ausgehen.
Maier blendet jedoch aus, dass diese Narrative an eine ältere Vorgeschichte anschließen. Es ist die Geschichte der christlich‑europäischen Auseinandersetzung mit dem Orient. Und zu diesem Orient wurden Araber und Juden gleichermaßen gezählt. Zu dieser Vorgeschichte der heutigen Konflikte zählt der europäisch‑christliche Antisemitismus ebenso wie die europäisch‑christliche Islamfeindschaft. Der Antisemitismus richtete sich gegen den vermeintlichen Feind im Inneren Europas, die Juden. Die Islamfeindschaft richtete sich gegen den Feind an den Grenzen, Araber und Türken.
Juden und Araber galten gleichermaßen als Semiten
Dieser zusammengehörige Komplex europäisch-christlicher Judenfeindschaft und Islamfeindschaft ist im Zuge des Kolonialismus, des Weltkriegs und vor allem im Zuge der Vernichtung, Vertreibung und Auswanderung der europäischen Juden nach Palästina in den Orient selbst exportiert worden.
So erklärt sich, dass die in ihrer - vermeintlichen - Eigenschaft als Semiten und 'Fremdkörper' aus Europa verstoßenen Juden im Orient von den Arabern als Exponenten des Westens aufgefasst werden; und warum der arabische Antisemitismus im selben Atemzug als antiwestliches Ressentiment erscheint.
Gemäß den im Europa im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Rassebegriffen galten Juden und Araber gleichermaßen als Semiten - korrekt zumindest insofern, als Arabisch und Hebräisch eng verwandte Sprachen sind und insofern der Linguistik bei der in der Zeit der Aufklärung vorgenommenen Einteilung der Welt in Sprachfamilien und später in Völker und Rassen eine entscheidende Rolle zukam.
In exakt derselben Epoche, nämlich der europäischen Aufklärung, begannen die europäischen Juden sich zu emanzipieren und zu assimilieren. Das war möglich, weil der Religion nicht mehr die alles entscheidende Rolle zukam, die sie für die Weltvorstellung der europäischen Menschen vor der Aufklärung innehatte. Damit war auch dem religiös motivierten, christlichen Antisemitismus die Spitze genommen.
In derselben Epoche jedoch, in welcher die religiöse Ausgrenzung der Juden abnahm, bildete sich unter dem Einfluss der neu entstandenen Sprachwissenschaft und Biologie die Möglichkeit einer anders gearteten Ausgrenzung heraus, die scheinbar auf rationalen, wissenschaftlichen Grundlagen stand: Es war die Ausgrenzung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anderen Rasse, der semitischen. Zwar war der säkularisierte Nationalstaat vordergründig religiös neutral; dafür aber betonte er die nationale Homogenität, die weitgehend mit der ethnischen und damit 'rassischen' Homogenität gleichgesetzt wurde.
Diese Entwicklung kulminierte im 19. Jahrhundert und brachte den modernen Antisemitismus hervor, bei dessen Entstehung Philologen und Sprachwissenschaftler, die sich mit dem Orient beschäftigten, federführend waren - wie zum Beispiel Ernest Renan in Frankreich und Paul de Lagarde in Deutschland[20]. Selbstverständlich zählten auch die Araber für diese Sprachwissenschaftler und Rassekundler zu den Semiten. Renan schreibt:
"Der semitische Geist hat sich in nur zwei wahrhaft reinen Formen manifestiert: Der hebräischen oder mosaischen und der arabischen oder islamischen. Dabei muss man freilich zugeben, dass die hebräische Form sich bald vermischt und auf erstaunliche Weise die Grenzen ihres eigentümlichen rassischen Geistes in einigen Punkten überwunden hat; und dass in Wahrheit Arabien der Maßstab für den semitischen Geist ist."
Juden und Araber galten also gleichermaßen als Semiten. Der Antisemitismus hätte sich also auch gegen die Araber richten müssen. Für die praktische Politik spielte dies jedoch keine Rolle, da es in Europa keine Araber gab und diese daher kein unmittelbares Ziel antisemitischer Aktivitäten werden konnten. Somit richtete sich der Antisemitismus in erster Linie gegen die Juden. Dass die Araber - und der Islam! - gleichwohl bei der Abwertung von allem Semitischen, die im 19. Jahrhundert um sich griff, mitgemeint waren, erhellen die Schriften von Renan zu Genüge; und dieselbe Tendenz findet sich bei zahlreichen anderen Autoren.
Die Rede vom arabischen Antisemitismus und ebenso der arabische Antisemitismus selbst haben diese rassenkundliche Vorgeschichte, die sich gegen alles Semitische gleichermaßen richtete, offensichtlich verdrängt. Zieht man sie in Betracht, ergibt sich der seltsame Befund, dass bis heute Juden wie Araber gleichermaßen die Notwendigkeit zu sehen scheinen, sich vom Semitischen abzugrenzen - was nicht verwundert, wenn man bedenkt, wie Semiten in der Literatur dargestellt wurden.
Viele Araber nun grenzen sich von der Abwertung der Semiten paradoxerweise dadurch ab, dass sie den europäischen Antisemitismus übernommen haben. Viele Israelis tun etwas Ähnliches, indem sie sich, wie wir im Fall der arabischen Juden gesehen haben, gegen die Araber abgrenzen. Sie übernehmen also jenen Teils der europäischen Abwertung der Semiten, der sich, wie bei Renan, gegen die Araber und Muslime wandte und den Edward Said als "Orientalismus" bezeichnete und den er für einen "heimlichen Aspekt des westlichen Antisemitismus"hielt.
Wenn diese These stimmt und demnach die rassistischen europäischen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert bis heute fort wirken, so scheint es, als sähen sich beide Gruppen, die ehemals als Semiten gebrandmarkt worden sind, gezwungen, den Schwarzen Peter des Semitisch-Seins an die anderen abzugeben. Edward Said schreibt:
"Daher scheint der Araber heute den Juden zu verfolgen wie ein Schatten, und in diesem Schatten findet - da Araber und Juden orientalische Semiten sind - alles Platz, was der Westler traditionell an latentem Misstrauen gegenüber dem Orientalen empfindet."
Die Masken des Rassismus
Dieses europäisch-arabisch-jüdische Dreiecksverhältnis erklärt nicht nur den arabischen Antisemitismus, sondern auch die Übertragung antisemitischer Ausgrenzungsmechanismen auf Araber und Muslime, wie sie heute in Europa und teilweise in Israel Gang und Gäbe ist. Der Rassismusforscher David Theo Goldberg hat in diesem Zusammenhang von den "Masken des Rassismus" gesprochen. Eine der Masken des Rassismus ist Religion, zumal wenn diese, wie im Fall von Islam und Judentum, als semitisch gilt. Religion und Rasse sind austauschbare Variablen geworden.
Der an der Columbia University in New York lehrende Historiker Joseph Massad beschreibt die Situation so:
"Dass die Muslime in der ganzen Welt bei dieser europäischen Klassifikation unter das Stichwort des Semitischen eingeordnet sind, deren Minderwertigkeit gegenüber den Ariern immer wieder aufs neue festgeschrieben werden muss, hat dazu geführt, dass die Palästina-Frage zu einem Hauptschauplatz der Kämpfe geworden ist, wo ehemalige Semiten, die sich Europa angeschlossen haben, jene Semiten bekämpfen, die sich weigern, sich Europa anzuschließen und denen auch nicht erlaubt werden kann, sich Europa anzuschließen, selbst wenn sie es wollten."
In einer paradoxen Umkehrung der Verhältnisse des 19. Jahrhunderts wird nicht zuletzt der Antisemitismus der Araber zum Kennzeichen ihrer politischen Zurückgebliebenheit, ihres 'semitischen Charakters'. Die Araber sind zum Antisemitismus verdammt - paradoxerweise gerade weil sie Semiten sind, aber keine sein wollen und sich deshalb so vehement von denen abgrenzen, die sie dafür halten und die ihrerseits sie dafür halten: Die Juden.
Freilich, wenn die Araber zum Antisemitismus verdammt sind, dann sind auch die Europäer zum Rassismus, zum Orientalismus und zur Islamophobie verdammt. Und die Juden und Israelis, so steht zu fürchten, zur Arabophobie. Der sinnvollste Beitrag, den Europa angesichts dessen zur Bekämpfung des arabischen Antisemitismus ebenso wie des Antisemitismus überhaupt leisten kann, besteht darin, die im 18. und 19. Jahrhundert aufgebrachten rassistischen Klassifikationen und Abgrenzungsmechanismen mitsamt ihren Masken und Verkleidungen aufzuarbeiten, bloßzulegen und gründlich zu verabschieden - so viele liebgewonnene, Identitätsvorstellungen, Ordnungskonzepte und Freund‑Feind-Schemata auch damit verbunden sein mögen. Der Holocaust, der Antisemitismus und ihre Folgen im Nahen Osten lehren uns jedoch, dass wir gar keine andere Wahl haben, wenn wir die Lehren der Geschichte ernst nehmen.