Archiv

Neuer Atwood-Roman
Hüte Dich vor der Magd

Rund 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung erfuhr Margaret Atwoods Roman-Dystopie "Der Report der Magd" einen ungeheuren Popularitätsschub. Das lag auch an der Serienverfilmung und an der politischen Situation in den USA. Heute stellte die Kanadierin den Nachfolgeroman "Die Zeuginnen" in London vor.

Von Friedbert Meurer |
Die kanadische Autorin Margaret Atwood
Die kanadische Autorin Margaret Atwood stellte heute in London ihr neues Buch vor (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
Der Schauplatz der globalen Präsentation ist die British Library, die Nationalbibliothek. Sie liegt nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Bahnhof King's Cross, wo auch 20 Jahre nach Erscheinung der ersten Harry Potter Romane der Rummel immer noch kein Ende findet. Waren es Margaret Atwoods Fans, die wie bei Harry Potter auf alle möglichen Sequels und Prequels drängten?
"Es gab viele Anfragen. Ich habe immer Nein dazu gesagt. Aber im Lauf der Zeit habe ich meine Meinung geändert, auch weil sich unsere Realität eher auf Gilead zubewegt, zum Beispiel in den USA. Gilead ist verschwunden, es gibt das Reich nicht mehr. Das lasse ich von innen, von außen und von einer Gründerin erzählen."
Inspiration von Leni Riefenstahl
Gilead ist das theokratische Reich der Unterdrückung, in dem Frauen als Gebärmaschinen gehalten und vergewaltigt werden.
"Wie wird man so? Wie kommt man an die Macht? Wie rechtfertigen sie das alles vor sich selbst? Ich bin Jahrgang 1939 und habe die Tagebücher von damals gelesen, von mächtigen Leuten. Dazu gehören auch die Tagebücher von Joseph Goebbels."
Atwood sagt, die Idee mit den Kleider und Outfits habe sie von Leni Riefenstahl aus deren Film "Triumph des Willens" übernommen. Überraschend meint die kanadische Autorin zum Thema Hoffnung, ihr Roman "The Handmaid's Tale" sei doch schon optimistisch gewesen.
"Erstens weil ich die Hauptfigur nicht habe sterben lassen. Und am Ende gibt es ein Symposium, was klar macht: Gilead gibt es nicht mehr. Es gibt Gründe, bei diesen Regimen optimistisch zu sein, denn sie haben eine Tendenz, nicht zu überdauern."
Utopie in der Dystopie und umgekehrt
Als Atwood zu Beginn die Bühne betrat, wurde sie von zwei Mägden in Silber schimmernden Kostümen und weißen Hauben begleitet. Es sind die Perlenmägde, die trotz des Untergangs weiter für Gilead werben.
Ein wenig erinnert das zwar jetzt an die Harry Potter-Kostüme vom Bahnhof nebenan. Aber Margaret Atwood will mit den verschiedenfarbigen Kostümen eine Schlüssel-Erkenntnis mitteilen - über das Verhältnis zwischen Dystopie und Utopie. "Jede Dystopie enthält in sich ein wenig eine Utopie. Und in jeder Utopie steckt auch eine kleine Dystopie. Das ist unbezweifelbar so."
Nationalsozialismus, Bolschewismus, die Roten Khmer waren Utopien, bevor sie zu mörderischen Regimen wurden. Atwood erwähnt, dass sie 1984 kurze Zeit in West-Berlin lebte. Sie habe sich gefragt, ob die Deutschen in ihrem geteilten Land wohl verstehen würden, wenn Gilead in den USA spiele.
Die Schattenseiten der USA
"Bis zum Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs präsentierten sich die USA als Alternative zum Reich des Bösen. Sie zeigten nicht ihre Schattenseiten. Als dann der Kontrahent verschwand, konnte auftauchen, was immer schon da war."
Die weiß-silbernen Perlenmägde nehmen jetzt wieder Aufstellung neben dem Podium auf. Die Zeit der Präsentation ist vorbei. Margaret Atwood sei ein literarischer Rockstar, meint noch die Moderatorin. Atwood gibt zum Abschluss den Journalistinnen und Journalisten einen guten Rat. Wir sollten uns vor den Mägden hüten, den Missionarinnen, bevor wir plötzlich von ihnen konvertiert werden.