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Neuer Baustein beim Lernen

Bonner Forscher haben das Zusammenspiel von Hemmung und Erregung im Gehirn untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass die gezielte Verstärkung von Dendriten, also den Antennen von Nervenzellen, ein wichtiger Baustein des Lernens ist. Außerdem spiele die Hemmung von Nervenzellen eine wichtige Rolle bei der Speicherung von Inhalten im Langzeitgedächtnis.

Von Leonie Seng |
    In unserem Gehirn herrscht reges Treiben: Permanent übertragen zahllose winzige Nervenzellen elektrische Signale. Doch nicht nur die Signalweiterleitung ist wichtig, um gelernte Inhalte langfristig im Gedächtnis zu speichern. Auch die Unterdrückung oder Hemmung von Nervenzellen spielt eine wesentliche Rolle beim Lernen.

    "Also man weiß, dass es im Gehirn erregende und hemmende Netzwerke gibt, und die spielen zusammen. Das kann man sich so ungefähr vorstellen wie vielleicht dieses Yin und Yang - dieses Symbol -, und die sind sehr gut ausbalanciert. Und bisher wurden diese beiden Systeme häufig unabhängig voneinander untersucht."

    Professor Stefan Remy vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn untersuchte den Hippocampus von Mäusen. Diese Hirnregion ist beim Speichern von Inhalten im Langzeitgedächtnis beteiligt. Ein Mäusehirn hat zwar nur etwa ein Zehntel der Anzahl menschlicher Gehirnzellen - ihre Funktion und Kommunikation untereinander ist aber recht ähnlich. Remy und seine Kollegen konzentrierten sich auf die Dendriten, sozusagen die Antennen einer Nervenzelle, über die sie Signale von anderen Nervenzellen empfängt. Die Wissenschaftler entdeckten, dass die Dendriten Signale besser weiterleiten können, wenn die Mäuse viel Neues und Ungewohntes erleben. In solchen Momenten treffen viele erregende Signale gleichzeitig an den Dendriten im Hippocampus ein.

    "Das kann man sich vorstellen, wie wenn man mit seinem Internet-Browser online ist und Informationen empfangen kann und auch raussenden kann, und das macht der Hippocampus auch. Das heißt, man nimmt mit den Augen wahr, mit den Ohren, man fühlt, man orientiert sich, und in diesem Onlinemodus liegt zum Beispiel im Hippocampus eine ganz bestimmte Frequenz, Feuerrate von Neuronen vor. Man nennt das Theta."

    Und in diesem Theta-Modus entstehen viele neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen - das ist eine wichtige Voraussetzung für den Lernprozess. Außerdem ist die Hemmung der Nervenzellen im Hippocampus beim Lernen schwächer. Das liegt daran, dass sich sogenannte schwache Dendriten plötzlich zu starken verwandeln. Das heißt, dass die Ionenkanäle an der Dendritenoberfläche mehr erregende Botenstoffe durchlassen und gleichzeitig hemmende Stoffe abblocken. Die fürs Lernen relevanten Signale werden leicht weitergeleitet.

    "Wir nennen das intrinsische Plastizität. Plastizität bedeutet, dass die Eigenschaften des Dendriten sich verändern können und diese Veränderung, die ist in dem Fall so, dass die Verstärkung der Signale besonders gut ausgeprägt wird oder stärker ausgeprägt wird. Und das führt dazu, dass nur wenige Signale, die auf einem bestimmten Dendrit ankommen, schon ausreichen, um die Nervenzelle dazu zu bringen, sich im Schaltkreis einzuschalten und zu beteiligen."

    Beim Lernen schalten sich sehr viele Nervenzellen gleichzeitig ein, sie feuern. Dann sprechen die Forscher von einem Aktivitätsmuster. Diese Muster können aber nur entstehen, wenn parallel andere Nervenzellen gezielt gehemmt werden. Wird ein solches Muster oft genug im Gehirn aufgerufen, werden die Verbindungen zwischen den beteiligten Zellen immer stärker. Der entsprechende gelernte Inhalt ist dann fest im Gedächtnis verankert.

    Bislang kannten die Forscher nur die synaptische Plastizität als neuronales Kennzeichen für das Lernen. Dabei werden die Verbindungen zwischen zwei Nervenzellen stärker. Nun haben die Wissenschaftler die dendritische Plastizität und die Hemmung von Nervenzellen als einen neuen Baustein des Lernprozesses im Gehirn identifiziert. Remy:

    "Ob Gedächtnisinhalte gespeichert werden können oder abgerufen werden können, hängt aber ganz besonders von diesem zeitlichen Zusammenspiel dieser beiden Systeme ab, und wenn es da zu einer Störung kommt, dann spielt es keine Rolle, ob da mehr Hemmung vorliegt oder mehr Erregung - die Abrufung der Inhalte ist auf jeden Fall aus dem Gleichgewicht geraten, und das stellt man sich bei Alzheimer auch so vor, dass das passiert."

    Remy hofft, dass er mithilfe dieser neuen Erkenntnisse bald komplett verstehen wird, was beim Lernen und Erinnern auf neuronaler Ebene passiert. Dann würden die Forscher auch besser begreifen, wie Hemmung und Erregung im Gehirn von Alzheimer- und Epilepsiepatienten ablaufen - und wie sich diese Prozesse regulieren lassen.