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Neuer Büchner-Preisträger
"Ich bedaure Autoren, die nur Romane schreiben"

Gerne nimmt sich der neue Georg-Büchner-Preisträger Marcel Beyer der Nachkriegszeit in Bundesrepublik und DDR an - stets mit Rückbezügen auf die NS-Zeit. Auslöser, sich mit Geschichte zu befassen, war Beyer zufolge die Fernsehberichterstattung über den Fall der Mauer. "Geschichte ist etwas, was sich ganz akut in dieser Sekunde vollziehen kann", sagte der Schriftsteller im Deutschlandfunk.

Marcel Beyer im Gespräch mit Angela Gutzeit |
    Der Schriftsteller Marcel Beyer
    Marcel Beyer: "Geschichte ist nicht etwas, was die Großeltern betrifft." (Deutschlandradio / Bettina Straub)
    Angela Gutzeit: Ich habe Marcel Beyer vor der Sendung erreicht, er lebt seit 1996 in Dresden. Ich habe ihn zuerst gefragt, wie wichtig es für ihn sei, immer wieder von einem Genre zum anderen zu wechseln. Inwiefern würde das sein Schreiben befruchten?
    Marcel Beyer: Ich habe mit 14 angefangen zu schreiben und schrieb Gedichte, und aus der Arbeit an Gedichten hat sich dann der Reiz ergeben, auch Prosa zu schreiben. Auch heute, wenn ich Prosa schreibe oder auch wenn ich Essays schreibe, ist einfach die Dimension der menschlichen Stimme, die Vorstellung, dass ich einen Text vortrage, immer ganz stark dabei, dass ich also gewissermaßen Gedichtwerkzeuge und eine Gedichtaufmerksamkeit auch immer beim Prosa- und Essayschreiben oder natürlich beim Schreiben von Opernlibretti immer mit einbeziehe.
    Gutzeit: Also es ist sozusagen wichtig, auf diesen verschiedenen Feldern sich auszuprobieren für Sie.
    Beyer: Das ist mir sehr wichtig, und ich genieße das natürlich auch sehr. Ich bedaure Autoren, die nur Romane schreiben. Was ist denn, wenn man eine Idee hat, die vielleicht so eine kleine Erkundung wäre, die so 10, 15, 20 Seiten weit trägt, das können ja dann diese Kollegen gar nicht schreiben. Ich nehme mir dann die Notizen beiseite und denke, wenn ich mal zu einem Vortrag eingeladen bin oder eingeladen, einen Essay zu schreiben, dann kann ich da dieser Spur folgen.
    Gutzeit: Marcel Beyer, Sie stehen für einen forschenden Blick, wie es ja auch immer wieder heißt, auf die jüngere deutsche Geschichte. Das zeigt sich in allen Ihren Arbeiten, vor allen Dingen in Ihren Romanen, die ich jetzt noch besser kenne – "Flughunde", "Spione" und "Kaltenburg". Die Romane haben so etwas, wenn man das mal behaupten darf, wie eine innere Korrespondenz – ,also Sie blicken auf die Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland, im Roman "Kaltenburg" spielt auch die DDR eine Rolle –, und das jeweils mit Rückbezügen auf die Nazizeit. Nun kann man ja sagen, als ein 1965 geborener Autor wie Sie hat in den 80er-Jahren, als Sie anfingen zu publizieren, Geschichte eigentlich keine so bedeutende Rolle für Ihre Generation gespielt. Wo war denn für Sie so die Zäsur, der Wendepunkt, um sich mit Geschichte zu befassen?
    Beyer: Also meine Eltern sind Jahrgang '44 und '47, das sind also Nachkriegskinder. Umso weniger stand für mich beim Aufwachsen deutsche Geschichte im Vordergrund. Die wirkliche tagesgenaue Zäsur war die Berichterstattung im Fernsehen über den Fall der Mauer in Berlin. Das war der Moment, an dem ich mir sagte, Geschichte ist nicht etwas, was die Großeltern betrifft, sondern Geschichte ist etwas, was ganz akut in dieser Sekunde sich vollziehen kann. In der Folge, als dann von deutschsprachigen Schriftstellern erst der große Wenderoman, dann der große Wiedervereinigungsroman gefordert wurde, gab es sicher bei mir auch so ein wenig ein Trotzmoment. Ich dachte, ich kann mir doch die Geschichte nicht nur von den vorherigen Generationen erzählen lassen. Ich muss sie mir doch auch selber erzählen. Ich muss mir doch mit meinem popsozialisierten Blick, den ich einfach habe, und als jemand, der mit englischsprachigem Radio aufgewachsen ist, mit BFBS, muss ich mir doch mein ganz eigenes Bild machen und muss der ganzen Sache noch mal neu nachgehen. So bin ich dann in diese Zeit- und in die Mediengeschichte des Nationalsozialismus hineingerutscht oder fast gestolpert.
    Gutzeit: Wir haben es eben schon erwähnt: Die Nazizeit spielt in Ihren Werken eine wichtige Rolle, wenn auch auf eine besondere Art, so wie zum Beispiel in Ihrem jüngsten Roman "Kaltenburg" – ist jetzt auch schon ein bisschen her, das ist der Roman von 2008. Wenn ich jetzt mal eben kurz zusammenfasse: Im Zentrum steht da ein prominenter Zoologe, Ludwig Kaltenburg, der das Verhalten von Tieren studiert und der immer wieder seine Spekulationen auf die Beschaffenheit des Menschen anwendet, und in Posen, soweit ich mich erinnere, hat dieser Wissenschaftler während der Nazizeit offensichtlich in einer Klinik für psychisch Kranke gearbeitet, und sein Schüler weiß nicht so recht, was er dort getrieben hat, und wir Leser erfahren das auch nicht so ganz genau. Ich habe immer so darauf zu gelesen, dass ich dachte, jetzt kommt irgendwo vielleicht mal was Näheres über diese Tätigkeit, aber was immer mitschwingt, wir ahnen es. Worauf ich hinauswill: Bei Ihnen gibt es keine einfachen Erklärungen oder Wahrheiten und auch kein Ausfüllen der blinden Flecken. Was ist das für Sie – Erinnerung, auch so in der Literatur, mit der Literatur? Schwierig, aber ...
    Beyer: Nein, ich finde das gar nicht so schwierig. Für mich liegt gerade in den blinden Flecken ein großer Reiz beim Schreiben. Ich finde, man muss diese Spannung auch aushalten, dass es Bereiche gibt, in die man nicht hineinleuchten kann. Das setzt ja enorme psychische Prozesse auch in Gang. Was nun konkret diese Tätigkeit des Ludwig Kaltenburg in Posen im Militärlazarett angeht, geht das ja zurück auf eine reale Figur, auf Konrad Lorenz, den Verhaltensforscher, der damals in Posen arbeitete. Es ist einfach so, dass man tatsächlich nicht weiß, was er dort genau gemacht hat, weil die Unterlagen vernichtet wurden, glaube schon in den 40er-Jahren.
    "Die klare Antwort, die gibt es nie dort, wo es wirklich interessant wird"
    Gutzeit: Aber vielleicht ist ja diese konkrete Figur gar nicht so wichtig.
    Beyer: Ja, die konkrete Figur ist für mich natürlich ... also Konrad Lorenz war für mich nur so etwas wie ein Sprungbrett, um eine eigene Figur zu entwickeln –,
    Gutzeit: Genau.
    Beyer: – aber mich interessiert ja gerade so etwas wie der dunkle Fleck im Leben dieser Figur, und aus diesem dunklen Fleck ergibt sich eine bestimmte Perspektive auf die Welt und ergeben sich auch einfach Handlungen – worauf reagiert er, worauf reagiert er nicht, wo weicht er aus und so weiter –, und diese Prozesse, die im Dunkeln liegen und diese Momente aus seiner Biografie, die wiederum mit der Historie zusammenfallen, das sind doch ganz starke Antriebsmomente. Das heißt man kann Figuren folgen in ihren mitunter wirren, unerklärlichen Bewegungen und kann dann nicht mehr tun als zu spekulieren darüber, was steckt dahinter. Das könnte wirklich am Ende ein Psychoanalytiker vielleicht herausarbeiten.
    Gutzeit: Das heißt Sie verweigern ganz konkret eine Begründung oder Sie wollen auch nicht irgendwie andeutungsweise auch nur bewältigen sozusagen oder dazu beitragen – das ist jetzt sowieso ein etwas schwieriges Wort –, aber Sie vermeiden es ja, und das macht ja gerade diese Sogwirkung aus Ihrer Literatur, dass man immer wieder meint, man wird jetzt zu einer Erklärung hingeführt, aber sie kommt eigentlich nicht.
    Beyer: Ja, ich glaube, das hat damit zu tun, dass es für mich wirklich beim Schreiben ganz konkret wie ein Motor ist, den dunklen Partien meiner Figuren zu folgen. Ich sehe das einfach in der Realität auch so. Wenn heute Prozesse geführt werden gegen sehr alte Herren, die im Wachdienst im Konzentrationslager gearbeitet haben, wo dann der eine ein ganz großes Schuldbewusstsein hat und der andere aber bis heute nur sagt, er habe nur Befehle ausgeführt, dann merkt man doch, wie weit auch die Spanne ist der Reaktion darauf oder sagen wir der Einrichtung des eigenen Lebens. Die klare Antwort, die gibt es nie dort, wo es wirklich interessant wird.
    Gutzeit: Marcel Beyer, in Ihrem Werk spielen Stimmbilder, Fotos, vielleicht kann man auch Blicke ergänzen, eine große Rolle. In "Flughunde" stand ein Stimmforscher im Zentrum – ich weiß ja, dass Sie sich seit Langem mit Musik beschäftigen, mit bildender Kunst, mit Medien. Sind das entscheidende Inspirationen?
    Beyer: Ja, natürlich sind Medien für mich entscheidende Inspirationen, einfach weil sie zu meiner ganz selbstverständlichen Lebensumwelt gehören, seitdem ich wahrnehme. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater, der damals Romanistik studierte Ende der 60er-Jahre, sich ein Tonbandgerät gekauft hat, um Vokabeln zu lernen und selber aufzunehmen, wissen Sie, wenn man Aussprachübungen macht. Das heißt so ein tatsächliches Tonbandgerät, das im Wohnzimmer steht und das benutzt wird, gehört für mich von Anfang meines bewussten Lebens an dazu, und wenn man ins 20. Jahrhundert zurückschaut, sieht man natürlich, dass etwa solche Bewegungen oder Horrorwelten wie der Nationalsozialismus ganz, ganz stark auf die Wirkung technischer Medien gezählt hat.
    Gutzeit: Und die Musik? Ich meine, das wird ja auch immer wieder gesagt, auch durchaus zu recht, dass dieses Gewebe, was Sie dort gerade in Ihren Romanen, aber natürlich auch in Ihrer Poesie herstellen, etwas Musikalisches hat. Also das muss einem ja nicht unbedingt bewusst sein als Schriftsteller, sage ich mal so, aber Sie beschäftigen sich ja seit langer Zeit damit, und das ist ja so etwas wie eine wirklich sehr raffinierte Komposition, die Sie dort leisten.
    Beyer: Ja, Musik ist für mich in meinem Leben einfach ungeheuer wichtig. So etwas wie eine Gegenwelt, das ist für mich eben die Welt, wo ich nicht so auf die Worte und den Sinn achte, aber zugleich eine ganz große Inspiration beim Schreiben. Ich lasse auch beim Schreiben Musik laufen oder höre mir Schallplatten wirklich so genau an, dass ich bestimmte Strukturen erkenne und auch überlege, wie sich sowas parallel auch im Schreiben übernehmen lässt.
    Gutzeit: Ihr letzter Roman liegt jetzt acht Jahre zurück. Verraten Sie uns, ob Sie jetzt wieder an einem neuen sitzen?
    Beyer: Ich arbeite nicht an einem neuen Roman, sondern im Moment an einem Libretto für den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa und bin dabei, die Frankfurter Poetikvorlesung, die ich im Januar und Februar gehalten habe, zu einem Buch zu machen.
    Gutzeit: Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Marcel Beyer, und herzlichen Glückwunsch noch mal zum Georg-Büchner-Preis!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.