"Als ich ins Gymnasium ging, habe ich mir zwei Biografien ausgedacht für mich. Die eine war der geradlinige Weg: Studium an der Universität, Germanistik, Romanistik, Mittelschullehrer und dann schauen wir weiter. Und die zweite Biografie wäre die gewesen, auf irgendeine Art von und mit meinen Ideen leben. Und als ich zweiundzwanzig war, habe ich so ein musikalisch literarisches Einmann-Programm gemacht und hatte einen sehr guten Anfangserfolg, dass ich mich für ein Jahr von der Universität mal verabschiedet habe, um zu schauen, wie das geht. Und dieses Jahr dauert heute noch an und das ist jetzt die zweite Franz-Hohler-Biografie, in der ich immer noch drinstecke und mit der ich eigentlich sehr glücklich bin."
Zu diesem Glück mag der Umstand beitragen, dass es Franz Hohler immer wieder gelingt, sich ein altes poetisches Prinzip auf ganz eigene Weise anzuverwandeln: Nämlich so in die Welt hineinzuschauen, dass sie in Bewegung gerät, sei es fantastisch oder aufschlussreich, komisch oder anrührend.
"Ich versuche schon immer das sogenannte Normale als eine Art erste Welt anzuschauen, hinter der immer noch eine zweite Welt lauert. Und diese zweite Welt hervorzulocken hinter der ersten, das hat mich immer gereizt. Und das macht für jeden Menschen das Leben spannend, sich auszumalen, was noch sein könnte oder was wäre wenn (...) "
Spannend wird es auch für die Altenpflegerin Isabelle, die Heldin von Hohlers neuem Roman, als sie durch eine unverhoffte Begegnung mit einer anderen Welt in Berührung kommt, von der sie vorher nichts geahnt hat.
Eine kurze Episode als Ausgangspunkt
"Der Roman beginnt damit, dass ein Mann einer Frau den Koffer hochträgt. Die beiden kennen sich nicht, er bietet das an, weil er sieht, dass sie etwas Mühe hat auf dem Bahnhof und oben bricht er tot zusammen. Man weiß zunächst nicht, wer er ist und diese Frau, die zunächst eigentlich in die Ferien wollte, verpasst den Flug und beginnt sich nun mit dem Schicksal dieses Menschen zu beschäftigen."
So geschieht es auf dem Bahnsteig Gleis 4 des Bahnhofs Oerlikon. Natürlich ist Isabelle betroffen vom plötzlichen Tod des hilfsbereiten Fremden. Doch eigentlich hat sie damit nichts zu tun. Bis sie durch ein Klingeln bemerkt, dass im Durcheinander dessen Handy in ihrem Koffer gelandet ist. Und dass ein unbekannter Anrufer seltsam feindselige Äußerungen von sich gibt. Eins kommt zum anderen und binnen Kurzem beschließt Isabelle, auf ihre Ferien zu verzichten und stattdessen das Rätsel um diesen Mann zu lösen. Detektivisch macht sie sich ans Werk, der zweiten Wirklichkeit, die sich da verbirgt, auf die Spur zu kommen.
"Letztlich möchte ich einfach den Menschen eine zweite Welt erzählen. (...) Wir erfinden die andere Welt und ich hoffe einfach, dass das die Leute belebt, dass es sie anregt, selbst auf die Suche zu gehen nach diesen anderen Welten ... dass sie ihrer Fantasie vertrauen und dass das auf irgendeine Art auch wirksam wird, wenn es zum Beispiel um politische Fragen geht."
Tatsächlich geht es in diesem Fall nicht um einen erfreulichen, die Fantasie beflügelnden Blick über die Realität hinaus, sondern um eine düstere Geschichte, von durchaus politischer, sozialer Dimension. Denn dieser Mann, der als Jüngling nach Kanada weniger ausgewandert als geflüchtet war, gehörte zu einer Menschengruppe, für deren schlimmes Schicksal sich die Schweizer Justizministerin erst kürzlich öffentlich im Namen der Regierung entschuldigt hat.
"Der war in seiner Jugend ein sogenanntes Verdingkind. So nannte man in der Schweiz Kinder, die aus auseinandergebrochenen Familien oder aus zerrütteten Verhältnissen in Pflegefamilien platziert wurden und zwar vornehmlich bei Bauern und dort normalerweise gnadenlos ausgenützt wurden (...) sie wurden geschlagen, sie hatten niemanden, der ihnen half. Die ganzen Strukturen zwischen Pfarrer und Lehrer und Sozialarbeiterinnen haben meistens versagt. Solche Schicksale gab es sehr viele und das war noch meine Generation (...) und das gehört zu den Schatten der Schweizer Sozialgeschichte für mich."
Wie Isabelle das alles herausbekommt, soll nicht verraten werden, das gehört zum Spannungsbogen des Romans. Nur so viel: Wie fast jeder klassische Krimi-Detektiv als genauer Gesellschaftsbeobachter agiert, so fängt auch der Blick von Isabelle und ihren Helferinnen viel Stoff aus dem sozialen Leben ein. Damit gibt sie als Romanheldin ihrem Autor reichlich Gelegenheit, die Leser durch seine unverwechselbare, stets pointierte Sicht auf die Welt in Bann zu schlagen.
Farbige Beschreibungen mit einfachen Mitteln
"Es war immer auch wichtig für mich, das was ich sehe, das was ich vorfinde erst mal zu beschreiben. Ich habe ja etliche Bände mit kleinen Alltagsgeschichten oder auch Wanderungen und Spaziergänge, die für mich eine Art Besichtigung des Alltags sind, und in denen ich versuche, den Blick auf einen oder zwei Punkte zu lenken, die eigentlich, in Anführungsstrichen normal sind, aber die genau betrachtet etwas höchst Bemerkenswertes enthalten."
Die Alltagswelt dieses Romans ist weit gespannt: Sie reicht von Gleis 4 des Oerlikoner Bahnhofs bis zum Sankt-Lorenz-Strom in Kanada, sie umfasst Ämter, Altenheime und Wohnungen, es treten neben der Romanheldin auf die kanadische Witwe des Toten, alte Frauen mit düsteren Erinnerungen, durch Schuld und Kaltherzigkeit verhärtete Männer und als erfrischendes Temperamentsbündel Isabelles Tochter Sarah, die dank ihres verschwundenen afrikanischen Vaters braune Haut und gemischte Identitätsgefühle besitzt. Wieder erweist sich Franz Hohler hier als ein Stilist, in dessen Sätzen Empathie, feiner Humor, kritische Schärfe und ein spielerischer Geist zusammenfließen, so unangestrengt, als wäre dies das einfachste der Welt.
"Wenn das so ist, dann will ich dem gar nichts hinzufügen, außer dass ich schon gerne so schreibe, dass es nicht nur lustig oder nicht nur traurig oder nicht nur politisch oder nicht nur moralisch ist, sondern dass es zu etwas verschmilzt, das gar nicht so leicht zu trennen ist oder wo auch die Form vom Inhalt nicht leicht zu trennen ist.
Was und wie viel Franz Hohler kann, das zeigt sich eben nicht nur in seinem vielseitigen Werk insgesamt, es wird auch jeweils im Einzelnen, wie in seinem Roman "Gleis 4" erkennbar.
"Wichtig war mir, überhaupt etwas zu machen, (...) was meinen Vorstellungen von Diversität eigentlich entsprach. Ich habe mich immer gern in verschiedenen Feldern bewegt, ich bin eine Art literarischer Allgemeinpraktiker. (...) Und das war eigentlich für mich die Hauptsache, dass ich immer darauf geachtet habe, welches ist meine nächste Idee, die gern verwirklicht werden möchte und in welcher Form."
Franz Hohler: Gleis 4. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 220 Seiten, 17,99 Euro.