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Neuer nordkoreanischer Raktentest
"Von Aufregung wie in Hokkaido ist hier keine Spur"

Nach dem Flug einer nordkoreanischen Rakete über die japanische Insel Hokkaido sei in Tokio mehr Betroffenheit als Aufregung spürbar, beobachtet Thomas Awe von der dortigen Konrad-Adenauer-Stiftung. Die abwartende Haltung von Regierung und Militär erklärte er im Dlf mit deren Furcht vor einer Überreaktion.

Thomas Awe im Gespräch mit Dirk Müller |
    Japans Premier Shinzo Abe im Gespräch mit Journalisten nachdem Nordkorea erneut eine Rakete gezündet hat.
    Japans Premier Shinzo Abe im Gespräch mit Journalisten. (picture alliance / MAXPPP)
    Dirk Müller: Eine nordkoreanische Rakete, die über Japan hinwegfegt – unser Thema mit Thomas Awe von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Guten Abend nach Tokio!
    Thomas Awe: Ja, guten Abend! Ich grüße Sie.
    Müller: Herr Awe, sind Sie auch von einem Nachtalarm geweckt worden?
    Awe: Nein, bin ich nicht. Ich habe relativ durchgeschlafen.
    Müller: Wie haben Sie heute Morgen davon erfahren?
    Awe: Über meine Sekretärin, die mir mitteilte, dass zum ersten Mal sie selber auch von Freunden angerufen worden ist aus Hokkaido, dem Norden Japans, und gemerkt hat, dass es etwas anderes als sonst ist, wenn Raketen das japanische Territorium streifen beziehungsweise irgendwo, wie sie sagte, in den Ozean fallen. Es war über unserem Land. Und sie klang besorgt, beeindruckt besorgt, nicht panisch.
    "Große Aufregung ist ein dehnbarer Begriff"
    Müller: Herr Awe, das hat es ja vor ein paar Jahren schon einmal gegeben, also kein Novum.
    Awe: Richtig.
    Müller: Aber dennoch, wenn wir das richtig verstehen, auch in den Reporterberichten, die wir hier nachlesen können, auch im Internet große Aufregung in Japan.
    Awe: Ja. – Große Aufregung ist ein dehnbarer Begriff. Wenn Sie Japan trennen, haben Sie im Norden die Aufregung, die Betroffenheit. In dem guten Bericht eben waren ja alle Mosaiksteine einer etwaigen Beschreibung bereits enthalten: Betroffenheit, Wut, Ärger, Angst. Bei uns in Tokio selber ist es eher die Betroffenheit über die Frage, wann hört es auf, wie weit geht man noch, sowohl in den USA als auch in Pjöngjang, und man fragt sich, wo die Eskalationsstufe hinführt, wie sollte man die oder wie wird man sie zurückdrehen. Das ist eine eher theoretische, wohl rationaler klingende Frage. Von Aufregung in dem Sinne, wie sie in Hokkaido vermeldet worden ist, hier noch keine Spur.
    Müller: Weil die Politik auch noch keine richtige adäquate Antwort gefunden hat?
    Awe: Ja, das könnte man jetzt perfide mit dem berühmten Begriff der strategischen Geduld beantworten – für mich ein Euphemismus für, wir wissen auch nicht, wie es weitergeht. Man hat lange gewartet darauf. Ich habe selber 13 Jahre lang in Südkorea in unmittelbarer Nähe der entmilitarisierten Zone – wieder so ein schöner Euphemismus – gelebt und man gewöhnt sich dort an ein gewisses, man wird irgendwo immer wieder bedroht, und dann damit aber doch ein einhergehendes Weiterleben. Während in Japan die Einzelereignisse anders wahrgenommen und auch anders registriert werden, und in diesem Falle, glaube ich, ist das Wort "unangekündigt", ein "unangekündigter Raketentest", keine Vorwarnzeit, keine Vorwarnung, das wichtigere Wort. Das gab es so noch nicht in letzter Zeit.
    "Das ist schon eine neue Qualität an permanenter Bedrohung"
    Müller: Deswegen hat das japanische Militär, wie wir jedenfalls informiert sind, gar nicht reagiert?
    Awe: Ja, das Militär reagiert nicht offensichtlich oder in dem Sinne evoziert damit keine erneute Reaktion, dass man sagen würde, sie würden nun plötzlich anders reagieren als noch vor 14 Tagen. Aber die Reaktionen gibt es seit Jahren. Es gibt auch die Vorwarnzeiten, es gibt Übungen. Wir allerdings sind jetzt zum ersten Mal aufgefordert worden, in den nächsten Wochen uns auch mit für Ausländer in englischer Sprache formulierten Luftschutzübungen – ich dachte, diese Zeit sei vorbei, und ich hätte sie von meinen Eltern einst gehört – vertraut zu machen. Das ist schon eine neue Qualität an permanenter Bedrohung, die man so, wenn man Tokio erlebt und in Tokio lebt, nicht wahrnimmt, wohl aber nach diesen unmittelbaren Ereignissen, dass eine Rakete über das Territorium fliegt. Die hätte ja auch zerfallen, die hätte auch herunterfallen können, die hätte auch explodieren können. Und dann fragt man sich, warum nimmt das Kim Jong-un billigend in Kauf, was will er damit bezwecken und in welcher Form reagiert er nach diesem Test mit einer weiteren Stufe. Es geht ja immer weiter.
    Müller: Sie haben das in unserem Gespräch schon zwei-, dreimal angedeutet. Sie sagen, da gibt es zumindest ja eine gefühlte Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen Norden und Süden. Dennoch ist Japan ja ein Land und steht in dieser umstrittenen Nordkorea-Frage grundsätzlich auch zusammen. Was sich viele jetzt in Europa fragen ist erstens: Warum hat das Militär denn nicht entsprechend reagiert, im Grunde Machtpotenzial demonstriert, und diese Rakete abgeschossen?
    Awe: Weil man nicht weiß, was passiert. Zwei Dinge dazu. Erstens: Was ist, wenn das funktioniert und wenn es nicht funktioniert? Es kann ja sein, dass die Raketen-Abschussrampen, die noch nicht getestet worden sind – man würde sagen in Gedanken (Gott sei Dank), wenn das nicht funktioniert -, was wäre dann, in welcher Form würde Japan und das Militär dann dastehen. Und zweitens: Das Abschießen – so habe ich mir das auch erklären lassen – von Raketen klingt gut, klingt einfach, klingt linear, ist es aber nicht. Die herunterfallenden Teile, das Explodieren oder Implodieren der Raketen gefährden wiederum andere Landstriche und insofern ist man wohl davon ausgegangen, in der Hoffnung, die Rakete fliegt über das Land hinweg, dass man noch nicht zu Gegenreaktionen aktiv greifen muss. Und drittens weiß man nicht, in welchem Status und in welchem Zustand tatsächlich die Raketenabwehrsysteme, die wiederum Gott sei Dank noch nicht getestet worden sind, sich wirklich befinden.
    "Wir wissen nicht, in welcher Form die nächste Eskalationsstufe gezündet wird"
    Müller: Aber wenn Sie sagen, dass diese Bedrohungsszenarien und auch die Androhungen ja in den vergangenen Wochen, Monaten, im Grunde auch Jahren zugenommen haben, hat sich die militärische Elite wie auch die politische Elite nicht neu, anders darauf eingestellt?
    Awe: Ja, innenpolitisch. Das hört sich paradox an, aber durch die dauernde Bedrohung entsteht in der Innenpolitik Japans das Gefühl, nun endlich Schluss zu machen mit dem ebenfalls euphemistisch klingenden Wort der Selbstverteidigung, Self-Defense Forces, SDF und gleichzeitig gegenüber Nordkorea eine härtere Gangart anzuschlagen, wobei – das war ja in diesem wirklich guten knappen Bericht eben von Ihnen auch zu hören – man nicht genau weiß, wie und in welcher Form die sogenannten weiteren Sanktionen nun bestehen sollen – so genannt, weil man sie nicht formulieren kann, weil man die roten Linien zwar als rote Linien bezeichnet, sie aber nicht nennt, und so ist es Kim Jong-un bisher gelungen, genau wie seinem Vater, ihm allerdings in vielfach anderer Potenz, jede rote Linie, die genannt worden ist, zu überschreiten beziehungsweise sich soweit an sie zu nähern, dass eine nächste rote Linie gezogen worden ist. Und insofern gehen die Punkte, wenn man das so nennen kann, eindeutig aus nordkoreanischer Sicht zu dem Diktator Kim Jong-un, der immer wieder weiter die rote Linie zu dem hinschiebt, der sie eigentlich ziehen sollte und ziehen wollte, aber bisher noch nicht hat überschreiten lassen von Kim Jong-un, und wir wissen nicht, in welcher Form die nächste Eskalationsstufe – und das ist eben das Problem – gezündet im wahrsten Sinne des Wortes werden wird.
    Müller: Bleiben wir, Herr Awe, noch einmal bei dieser japanischen Sicht, die wir doch relativ selten auf diesen Konflikt haben. Meistens reden wir mit den amerikanischen Experten darüber oder auch mit den südkoreanischen. Jetzt haben wir die Gelegenheit, mit Ihnen über die japanische Sichtweise noch etwas ausführlicher zu reden. Sie haben auch eben gesagt, noch mal dieses Stichwort, Diskrepanz zwischen Nord und Süd. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das so: Tokio ist wohltuend gelassen in dieser Auseinandersetzung? Das heißt, die Regierung reagiert da rational und nicht unbedarft spontan?
    Awe: Es ist gefährlich, wenn ich sage, die Mentalität ist entscheidend. Ich kenne die Hokkaido-Mentalität nicht im Sinne von, dass sie sich nun weit unterscheiden würde von der Tokioer. Nur es ist eben nicht das passiert, was man auch bei Fukushima gesehen hat: Die unmittelbare Betroffenheit führt zu einer unmittelbaren, wenn man so will, irrationalen Reaktion – irrational dahingehend, als sie scheinbar plötzlich auftaucht und auch so wahrgenommen wird. Tokio scheint über ein Konzept zu verfügen, was, solange die Rakete nicht unmittelbare Bedrohung in dem Sinne ist, dass sie auf ein bestimmtes Ziel, was in Tokio ausgemacht worden ist, oder in Japan fliegt, anders reagiert als diejenigen, die von dem Raketenalarm (teilweise hat er übrigens "auch" nicht funktioniert; auch das sind ja alles Testphasen) geweckt worden sind und dann reagieren und sagen, ich bin erschrocken. Fischer oben in Hokkaido, also im Norden Japans, da sind die Reaktionen durchaus anders. Ich habe auch meine Mitarbeiterinnen hier gefragt im Büro der Adenauer-Stiftung in Tokio. Ich war eben bei anderen Freunden. Wir hatten durch Zufall, als Ihr Anruf kam und die Bitte um dieses Interview, zusammengesessen und uns gefragt, warum oder worin die Ruhe, die scheinbare Gelassenheit, Gelassenheit im Sinne von, ich lasse es einfach geschehen, der Japaner besteht. Dann kommt man in dieses gefährliche Fahrwasser der spekulativen Form von, so reagieren Japaner auf Bedrohung oder auf Katastrophen. Ich glaube, die Unsicherheit, die Betroffenheit, die Angespanntheit, die würde ich spüren im längeren Gespräch mit auch Tokiotern, aber nicht in dieser Form der Aufgeregtheit, wie es in Hokkaido der Fall war.
    Müller: Bei uns heute Mittag live im Deutschlandfunk Thomas Awe von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tokio. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Einen guten Abend!
    Awe: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.