In Kulumani, einem kleinen Dorf im Norden von Mozambik, greifen seit einiger Zeit Löwen die Dorfbewohner an, in erster Linie Frauen. Ein internationaler Erdölkonzern, der vor der Küste nach Öl bohrt, beauftragt deshalb den Jäger Arcanjo Baleiro, das mörderische Treiben der Löwen zu unterbinden. Der Jäger und der Schriftsteller Gustavo Regalo, der im Auftrag des Konzerns eine Reportage über die Jagdexpedition schreiben soll, reisen daraufhin in das entlegene Nest.
So viel zum Anfang des Romans, in dem abwechselnd eine Frau und ein Mann zu Wort kommen. "Das Wort war meine erste Waffe in einer Welt von Männern und Jägern", sagt Mariamar. Sie wehrt sich mit Worten gegen eine patriarchalische Dorfgemeinde, in der sich Frauen nicht entfalten können, weder in der Familie, noch im Ältestenrat, der Shitala.
Mariamar verstößt schon mit einer simplen Flussfahrt im Einbaum gegen den Verhaltenskodex des Dorfs, den ihr ihr Vater Genito Mpepe aufzwang.
"Ich bin eine Frau, eine Reise konnte mir vom Schicksal nie bestimmt sein. ( ... ) Ich fliehe vor dem Hausarrest, den Genito Mpepe, mein Kerkermeister seit meiner Geburt über mich verhängt. Um Kulumani zu entkommen, helfen weder Landstraßen noch Busch. Auf der Landstraße lauert mein Vater. Im Busch lauern die Mörderlöwen."
Der Jäger Arcanjo Baleiro schreibt, weil ihm das gehaltlose Geplapper von Gustavo Regalo auf den Geist geht. Beim Schreiben konfrontiert er sich nach und nach mit seiner traumatischen Familiengeschichte, die er lange Zeit verdrängt hatte. Mariamar und Arcanjo Baleiro hatten sich Anfang der 90er-Jahre kurz vor Ende des Bürgerkriegs kennen gelernt. Mariamar – sie war damals noch ein blutjunges Mädchen - hatte sich Hals über Kopf in den Jäger verliebt und von einem gemeinsamen Leben in der Stadt geträumt.
Doch dazu kam es nicht, da sich Arcanjo Baleiro sang- und klanglos aus dem Staub machte. In tagebuchähnlichen Aufzeichnungen halten die beiden Rückblick auf ihr Leben, erzählen bruchstückhaft von ihren zutiefst gestörten Familien, dem verheerenden Bürgerkrieg und einer Kolonialgeschichte, die bis in die Gegenwart hineinwirkt. Die beiden beziehen sich zwar nie direkt aufeinander, dennoch sind ihre Erzählfragmente zaghafte Annäherungsversuche an die Welt des Anderen. Man spürt auch, dass hier zwei Fremde zu Wort kommen, die sich weder in ihren Familien noch in Mosambik aufgehoben fühlen.
Mariamar, die Außenseiterin des Dorfs, sucht nach Entfaltungsmöglichkeiten und eckt dabei überall an. Arcanjo Baleiro, der Mulatte aus der Hauptstadt, der Sohn portugiesischer Einwanderer ist vom Lebensgefühl her der ewig Fremde. Er braucht lang, bis er kapiert, dass die Angst vor den tödlichen Angriffen der Löwen nur das Symptom tiefer liegender Konflikte einer patriarchalischen Dorfgemeinschaft ist, die Frauen ausgrenzt, demütigt und häufig mit Gewalt in ihre Schranken verweist. Mariamar und ihre Schwester wurden als Mädchen von ihrem Vater missbraucht. Mariamar verlor darüber den Verstand und verbrachte zwei Jahre im Krankenhaus der portugiesischen Mission.
"Mir war als Strafe die vollständige, absolute Verbannung bestimmt. Nicht aus Kulumani, sondern aus meinem Verstand und aus meiner Sprache. Ich wurde zur Verrückten erklärt. Verrücktsein ist die einzige vollkommene Abwesenheit. Mit meinem Wahnsinn war ich
sichtbar, aber unzugänglich; krank, doch ohne Wunden; verletzt, doch ohne Schmerz."
sichtbar, aber unzugänglich; krank, doch ohne Wunden; verletzt, doch ohne Schmerz."
Rolando, Arcanjo Baleiros ältester Bruder, wurde vor Jahren in die Psychiatrie eingewiesen. Er hatte den Vater ermordet, um den Tod der Mutter zu rächen. Sie war an einer Infektion gestorben, weil ihr der Vater vor einer Reise die Vagina zugenäht hatte.
Mia Couto hat mit der Könnerschaft des Meisters die beiden Erzählstränge zu einem Textgewebe verarbeitet, in dem die rätselhafte Dorfwelt im dunklen Glanz erstrahlt. Unter anderem auch deshalb, weil der Autor von der animistisch geprägten Vorstellungswelt der Dorfbewohner ausgeht, in der es keine starren Grenzen zwischen Leben und Tod, Mensch und Tier, Traum und Wachzustand gibt. Alles ist im Fluss und ständigem Wandel unterworfen. Genial, wie in diesem bewegenden Roman die Metamorphosen der Löwen aus unterschiedlichen Perspektiven die Geheimnisse des Dorfes enthüllen sowie die äußerst brüchige und fragile Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei.
"Alles, was wir im Lauf der Jahrhunderte so sorgfältig aufgebaut haben, um uns von unserer animalischen Natur zu entfernen, alles, was die Sprache mit Metaphern und Euphemismen zugedeckt hat (Schoß, Gesicht, Taille) kann im Bruchteil eines Augenblicks in seine nackte, ungeschönte Substanz zurückverwandelt werden: Fleisch, Blut, Knochen.
Der Löwe frisst nicht nur Menschen. Er verschlingt auch unser Menschsein."
Der Löwe frisst nicht nur Menschen. Er verschlingt auch unser Menschsein."
Mariamar kann über den Missbrauch, der ihr als junges Mädchen widerfuhr und die zahlreichen Gewalt Erfahrungen anderer Frauen erst schreiben, nachdem sie sich in eine Löwin verwandelt hatte.
"Tatsächlich hat mir die Dunkelheit offenbart, was ich seit jeher gewesen bin: eine Löwin. Ja, das bin ich, eine Löwin in einem menschlichen Körper. Meine Gestalt war die eines Menschen, doch mein Leben sollte eine langsame Metamorphose sein, die Füße sich in Tatzen verwandeln, die Nägel in Klauen, das Haar in eine Mähne, das Kinn in ein Maul. Die Verwandlung hat diese ganze Zeit überdauert. Sie hätte schneller vonstatten gehen können. Doch ich war an meinen Ursprung gebunden. Und ich habe eine Mutter gehabt, die nur für mich gesungen hat. Ihr Wiegenlied hat meine Kindheit beschützt und das Tier in mir zurückgehalten."
Mia Couto: "Das Geständnis der Löwin", aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner, Unionsverlag, Zürich.