"Hey, Landauer, du Super-GAU!
Wo ist deine Frau, du schwule Sau?
Mein Haar ist hell, mein Aug’ ist blau,
und ich erkenn’ dich ganz genau:
Schau wem trau!
Schau wem trau!"
So reimen und singen sie im Weiler Glantz. Nachts kommt die tollwütige Schar - "Oberkörper, wie der des Michelin-Männchens; Visagen, die mit einer Bratpfanne in Form gehauen worden waren" - und baut sich vor August Landauers Mühle auf. Der Mann ist ein Zugezogener und deshalb soll er weg, notfalls mit Gewalt:
"Hey, Landauer, du bist renitent,
du ungermanisches Element!
Du hast den Zug der Zeit verpennt;
August rennt!
August rennt!
Die Mühle brennt!
Die Mühle brennt!"
Noch brennt die Mühle nicht. Aber die Männerrotte, angeführt vom größten und mächtigsten Landwirt, Harms Kremser, meint es bitter Ernst.
Was ist nur passiert in der Welt des Schriftstellers Henning Ahrens? Der Spezialist für die Provinz, Sohn eines niedersächsischen Landwirts, hat das Landleben bisher zwar keineswegs als Idyll geschildert, aber doch mit viel Sympathie betrachtet. Sein Vorgängerroman "Tiertage" zum Beispiel ist ein wunderbar versponnenes Sommerprovinzmärchen. Und jetzt das: ein irrwitziges Schreckensbild des Alltags und vor allem der Bewohner in dem bloß topografisch anmutigen Weiler Glantz:
"Man könnte sagen, dass da so eine Art Entzauberung stattgefunden hat. In der Gegend, in der ich zwischen 2001 und 2013 noch einmal gelebt habe, bin ich auch aufgewachsen und bin damals noch einmal dorthin zurückgekehrt, weil wir als Familie dort günstig ein Haus bekommen konnten. Und bin davon ausgegangen, dass ich als jemand, der dort aufgewachsen ist und auch im Hause seiner Großeltern lebte, dass es gar kein Problem wäre, da so reinzukommen. Und das hat sich dann aber als Irrtum herausgestellt. Mir wurde da dann doch irgendwann signalisiert, dass ich da doch nicht so richtig hin gehöre als jemand, den die Menschen da als abgehobenen Intellektuellen empfunden haben."
Konkreter mag Henning Ahrens nicht werden. Sein Rückkehrer im Buch heißt Rock Oldekop, aus seiner Perspektive wird aus dem trüben Glantz erzählt. Der 45-Jährige steckt in einer ausgewachsenen Lebenskrise. Seine Freundin Heike hat den Buchillustrator mit einer ganzen Reihe von Männern, die sie aus dem Internet kannte, betrogen. Darüber hinweg ist er auch nach einer längeren Auszeit auf Kreta nicht, nur das wenige Geld ist aufgebraucht. In Glantz, wo er aufgewachsen ist, hofft er irgendwie, wieder Halt zu finden. Erst einmal stößt er allerdings auf August Landauer, der mit eigenen Plänen in den abgeschiedenen Ort gekommen ist. Der ehemalige Vorstandschef eines Wurstherstellers ist zum militanten Vegetarier geworden, der mit Sprengstoff gegen die Fleischfresser und Fleischproduzenten zu Felde zieht. Henning Ahrens schickt den Extremisten gezielt gegen die Phalanx der grobschlächtigen Bauern in den Kampf.
"In diesem Roman geht es in meinen Augen um die Provinz, aber vor allem um bestimmte Haltungen. Und zwar um diese starren, exklusiven, sehr ausgrenzenden Haltungen, wie sie in "Glantz und Gloria" von dem Landauer verkörpert werden, der so ein Öko-Eso-Fundamentalist ist, oder von den Bewohnern des Weilers, die in die rechte Ecke tendieren. Das war das Phänomen, was ich schildern wollte, dass jemand, der nicht den Normen entspricht, für die diese Menschen stehen, keinen Platz hat und angefeindet wird."
"Ich bin Schriftsteller. Das ist schonmal komisch für die Leute"
Trotzdem kommt Landauer weit weniger abschreckend als seine Gegner daher, er ist zwar ein Eiferer, aber einer, dessen Tiraden erträglicher sind. Rock, der eigentlich Karl-Otto heißt, sich aber noch als Kind selbst umgetauft hat, jedenfalls findet in der Mühle der Konvertiten Unterschlupf und startet von dort seine Erkundungen in der alten Heimat. Als er sechs Jahre alt war und zu Besuch bei einer Freundin, sind seine Eltern im eigenen Haus verbrannt. Nun will er herausfinden, was passiert ist, vor allem aber, sich selbst wieder erden. Die Suche nach seinen Wurzeln läuft indes gründlich schief. Der Neuankömmling ist so fremd in dem Ort wie Henning Ahrens es bei seiner Rückkehr in die alte niedersächsische Heimat war:
"Ich bin Schriftsteller. Das ist schonmal komisch für die Leute. Man arbeitet zu Hause. Zu Hause das ist der Freizeitbereich. Da bricht man morgens auf, abends kommt man zurück. Für die meisten Menschen sind die eigenen vier Wände ja verbunden mit Freizeit oder Feierabend. Ich habe immer zu Hause gearbeitet. Das ist natürlich auch immer komisch dann. Da denken die, was macht der denn da? Das ist ganz klischeehaft."
Im Buch werden alle Fremden im Dorf zur Projektionsfläche für den dumpfen Argwohn der Alteingesessenen, der sich rasch zu Hass auswächst. Die Wagenburgmentalität hilft den arg beschränkten Glantzern dabei vor allem ihr ramponiertes Selbst aufzupolieren. "Weiß ist Weiß, und Schwarz ist Schwarz. So ist es, und so wird es bleiben. Die Furche muss gerade sein", so singen sie. Und leider könnte das beinah einer dunkeldeutschen Realität entstammen.
"Ich habe den Roman konzipiert 2013 und dann geschrieben. Als das dann losging mit Pegida und all den unguten Dingen, da hatte ich schon einen Großteil fertig und hatte damals das Gefühl, dass mich die Wirklichkeit plötzlich sehr weit rechts überholt, also das war schon etwas unheimlich. Insofern ist es schon so, dass dieses Buch, obwohl es gar nicht geplant war und ich mir und uns das alles lieber erspart hätte, durchaus die Gegenwart widerspiegelt."
Dass die Wirklichkeit den Roman überholt, geschweige denn schon überholt hat, steht indes kaum wirklich zu befürchten. Sehr trostreich ist das nicht. Die Bilder von Neonazis in Freital und anderswo sind schlimm genug. Aber Ahrens Provinzgeschichte ist dann doch bei Weitem zu überdreht. Wenn er den Aufzug der geifernden Meute schildert und dabei Realismus mit Fantasy mischt, Anleihen nimmt bei Splatterfilmen ebenso wie bei der Ästhetik von Computerspielen – dann ist das eine Mixtur zum Fürchten, aber es sind eben doch Szenen aus einer synthetischen Welt. Im Glantzer Universum treffen schrill verzerrte Figuren aufeinander, feingezeichnet wird hier absichtlich nichts. Henning Ahrens liefert ein schauriges Spektakel. Wie er das tut: Kalkuliert, mit überlegener Sorgfalt und sprachlicher Eleganz – das macht ihm so schnell keiner nach.
Wunschtraum, Angsttraum und halluzinierte Wirklichkeit
Das Programm des Romans wird dabei schon im Untertitel kenntlich – "Ein Trip". Rock Oldekop geht alles durcheinander: Wunschtraum, Angsttraum, Bruchstücke einer Realität und halluzinierte Wirklichkeit. "Ich nehme keine Drogen, und diese Story ist so falsch wie eine Lüge wahr ist", steht als Motto voran. Was einer glauben mag und welcher Spur er folgt, hängt von ihm selbst ab. Das ist ganz im Sinne des Autors.
"Ich hoffe, dass ich Romane schreibe, die dem Leser gewisse Freiheiten an die Hand geben. Ich versuche, da Räume zu öffnen, auch Interpretationsräume. Das ist nicht festgelegt. Solche Bücher will ich auch gar nicht schreiben. Ich versuche, Bücher zu schreiben, da bin ich immer noch stark von der Lyrik beeinflusst, Texte, die Zwischenräume für die Leser öffnen, in die die dann reinstoßen können und die die selbst erweitern können. Das ist mir wichtig, dass die Leser Freiheiten haben."
Für Rock Oldekop tut sich zuletzt die Chance auf, dem klaustrophobischen Treiben zu entkommen. Er habe eine Tür öffnen wollen, die in etwas Besseres führt, sagt der Autor. Tatsächlich ist "Glantz und Gloria" von Anfang an auch die Geschichte eines Liebessehnsüchtigen. Da wird jede halbwegs ansehnliche Frau, die Rocks Weg kreuzt, zur begehrenswerten Schönheit. Doch den obsessiven Romantiker winkt keineswegs rasche Erfüllung. Die ehrgeizige Ärztin Gloria zum Beispiel, die nach Glantz kommt, weil sie dort eine Praxis eröffnen will, ist bloß mit der eigenen Karriere beschäftigt und gänzlich unempfänglich für die überbordende Zuwendung ihres Verehrers.
Zuletzt aber sitzt Rock wieder auf dem Fahrrad, diesmal geht es hinaus aus dem engen Weiler, auf dem Lenker eine Frau, Helene. Sie war plötzlich da, die reinste Wunscherfüllung. "Ich bin der Beginn eines Romans, der auf einer wahren Begebenheit beruht", sagt sie. Vielleicht ist das nicht mehr als ein weiteres Traumbild. In jedem Fall aber hat der Horrortrip ein Ende.
Henning Ahrens: Glantz und Gloria. Ein Trip, S. Fischer Verlag, 176 Seiten, 18,99 Euro