Die Dramaturgie war perfekt: Im Oktober kündigte Frankreichs bekanntester Gegenwartsautor - ganz nebenbei in einem Interview - an: Im Januar erscheint ein neues Buch von mir.
Sofort war die literarische Welt in Erregung: Ein neuer Roman des Skandalautors! Der erste nach vier Jahren. Wie lautet der Titel? Worum geht’s? Sind wieder Provokationen - sexuelle, politische, religionsfeindliche - zu erwarten?
Lange wurde gerätselt. Erst im Dezember lüftete der Verlag Flammarion das Geheimnis: Ab dem 4. Januar soll das Buch zu kaufen sein. Auch der Titel wurde enthüllt: "Sérotonin"- so heißt das Glückshormon. Doch um reines "Glück" kann es beim literarischen Großmeister des Deprimismus natürlich nicht gehen. Eher um die vergebliche Suche danach.
Sexuell frustriert und abhängig von Antidepressiva
Bald wurde der Name des Protagonisten durchgestochen: Florent-Claude Labrouste, ein sexuell und überhaupt frustrierter Endvierziger, der sich nur durch Antidepressiva auf den Beinen hält und im SUV mit Schusswaffen durch die Gegend fährt.
Parallel zu den geschickt geweckten Mutmaßungen meldete sich der Schriftsteller in einer US-amerikanischen Zeitschrift zu Wort: In einem langen Interview lobte Michel Houellebecq - wenn auch auf höchst ironische Weise - den Präsidenten Donald Trump. Und sprach sich en passant für einen "Frexit" aus - also einen Austritt Frankreichs aus der EU.
Die Kunde von solchen Provokationen drang schnell auch nach Deutschland. Zumal Houellebecq bei der Gelegenheit seine - schon vor Jahren geäußerte - Vorliebe für Volksabstimmungen und die direkte Demokratie wiederholte. Passend zu den Forderungen der "Gelbwesten", die Frankreich in der Vorweihnachtszeit in Angst und Schrecken versetzten.
Houellebecq - der politisch unkorrekte Meister der schneidenden, bitterbösen Sätze - hat den Finger am Puls der Zeit. Wieder mal. So wie er in den 1998 erschienenen "Elementarteilchen" die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin ausmalte. Wie er in "Plattform" islamistische Attentate vorausahnte - das Buch war wenige Wochen vor 9/11 herausgekommen.
Medienhype und vorgezogene Rezensionen
Einer, der die gesellschaftlichen Entwicklungen der näheren Zukunft stets treffsicher vorwegnimmt. Auch in "Unterwerfung", wo er ein Szenario entwarf, in dem ein islamischer Politiker zum Präsidenten Frankreichs gewählt wird. Und erinnern wir uns: Eine Karikatur Houellebecqs als clownesker Prophet war auf der Titelseite von "Charlie Hebdo" abgedruckt - am Tag des Anschlags auf das Satiremagazin am 7. Januar 2015.
Dann wurde noch bekannt, dass "Sérotonin" sogar gleichzeitig zur Veröffentlichung in Frankreich in deutscher, italienischer und spanischer Übersetzung herauskommen soll. Nicht alltäglich bei einem literarischen Werk. Reichlich Stoff also für eine aufgeregte Debatte in französischen, aber auch deutschen Medien.
So lassen sich die Marketing-Kräfte geschickt bündeln. Und Aufmerksamkeit generieren für die Startauflage - allein des französischen Originals - von 320.000 Exemplaren. Enorm. Absolute Bestseller-Zahlen.
Es wäre allerdings kein Wunder, wenn der Verkaufsstart vorgezogen würde. Denn pünktlich nach Weihnachten endete ein Schweigegelübde, dem sich Journalisten, die den Romantext vorab bekamen, unterworfen hatten. Auch dies höchst ungewöhnlich. Normalerweise gilt eine solche Sperrfrist bis zu dem Tag, an dem das Buch in den Handel kommt.
Melancholische Reise und Hoffnung auf Glück
Bei Monsieur Houellebecq ist alles anders. Seit dem 27.12. wissen die Leser aller wichtigen Medien Frankreichs, worum es in "Sérotonin" geht:
Die verzweifelten Irrungen und Wirrungen eines Agraringenieurs durch ein ökonomisch und moralisch darniederliegendes Frankreich. Eine melancholische Reise durch Europa, mit Abstechern in Legebatterien und mittelprächtige Hotelzimmer, triste Masturbationen inklusive. Ein Abgesang auf die westliche Zivilisation, auf die Globalisierung, auf die EU - und mit ein bisschen Hoffnung auf Glück.