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Neuer Roman von Jakob Nolte
Aberwitzige Alternativgeschichte des Terrorismus

Der 28-jährige Schriftsteller Jakob Nolte beginnt seinen zweiten Roman "Schreckliche Gewalten" mit einer Werwolf-Szene. Er beschreibt anhand vieler Plots und Nebenplots nicht nur die Gewalt des Terrorismus, sondern entfaltet auch ein Panorama der Horrorgeschichtsschreibung.

Von Paul Brodowsky |
    Ein Wolf fletscht die Zähne.
    Der Roman von Jakob Nolte beginnt mit einer Werwolf-Szene (imago stock&people)
    "Iselin und Edvard Honik wuchsen in einem Haus auf. Sie verlebten eine Jugend und eine Zeit als Erwachsene. Die Verhältnisse, aus denen sie stammten, waren okay. Eines Nachts, als die Sonne gerade 564 Millionen Tonnen Wasserstoff in 560 Millionen Tonnen Helium fusionierte und ein Teil der dadurch freigesetzten Wärme acht Minuten und 17 Sekunden später den Mond erreichte, und dieser Mond, der nicht wirklich ein Planet ist und nicht wirklich ein Stern, sondern ein Mond, voll erleuchtet am Himmel stand, erblickte ihn die Mutter von Iselin und Edvard Honik, war erfasst von seiner Sanftmut, verwandelte sich in ein wölfisches Wesen, biss ihrem Gatten den Nacken durch, zerfleischte Teile seines Oberkörpers und schlief wieder ein."
    Mit dieser Mischung aus wissenschaftlicher Akkuratesse, poetischer Überhöhung, formelhaften, eher banalen Fakten zu den Hauptfiguren und rätselhafter Brutalität beginnt der neue Roman von Jakob Nolte. Das Buch spielt im langen Nachsommer der Kritischen Theorie in den frühen 70er-Jahren. Iselin und Edward Honik sind Zwillinge und wachsen in Bergen in Norwegen auf.
    Sie verlieren von einem Tag auf den anderen de facto beide Eltern: Der Vater überlebt die animalische Einverleibung durch die Mutter nicht; ihre Mutter wird – wieder in ihrer alten Gestalt – in einem Krankenhaus interniert und untersucht, bevor sie sich in einem neuerlichen Anfall aus dem Krankenhaus befreit und fortan auf der Flucht lebt.
    Zuvor hat sie vom Kranken- und Gefangenenbett aus ihre Kinder darüber aufgeklärt, dass ihre Verwandlung in ein wölfisches Wesen auf ein dunkles Familienerbe zurückzuführen sei, das durch die Generationen weitergegeben werde. Ob eines der beiden Kinder davon betroffen sei, und wenn ja, wann diese Tierwerdung sie heimsuchen würde, sei jedoch nicht vorherzusagen.
    Die Zwillinge gehen unterschiedlich mit dieser Information um. Edvard tritt eine äußere wie innere Flucht an: Er reist in die Sowjetunion, zunächst nach Riga und dann in einer langen mäandernden Reise über die Ukraine, Weißrussland, den Kaukasus bis nach Afghanistan. Dabei versucht er seine Familiengeschichte auszublenden und alle überbordenden Emotionen zu meiden. Ganz im Gegensatz dazu bleibt Iselin im elterlichen Haus in Bergen wohnen. Sie nimmt zwei Mitbewohnerinnen auf und beginnt ein Studium der Archäologie. Ihr wird klar, wie wenig sie über die Vorgeschichte ihrer Eltern weiß:
    "Sie studierte ihre Leben wie einen Krankheitsverlauf. Sie wollte den Erreger, den sie in sich wähnte, genauestens untersuchen und verstehen, um ihn vernichten oder isolieren zu können. Oder um sich immer wieder kleinere Dosen dieses Erregers zu verabreichen, auf dass sie davon immun würde. Sie gab sich ihren Trieben hin, um sie dadurch besser kontrollieren zu können, um ihre Grenzen kennenzulernen. Sie aß, sie sprach, sie fraß und wütete. Sie ging auf die Pirsch. Sie suchte, sie fickte, sie schmeckte und sie vergaß. Sie begrub und bereute."
    Gründung einer feministischen Terrororganisation
    Gemeinsam mit ihren Mitbewohnerinnen begründet sie eine feministische Terrororganisation mit dem Namen "Mädchen im System", die Kaufhäuser in Brand steckt und zunehmend eskalative politische Aktionen durchführt. Schließlich nehmen die drei eine Reihe Prostituierte in Geiselhaft und fordern in Fernsehbotschaften, dass die Männer Norwegens aufhören sollen, sich Sex zu kaufen, andernfalls würden sie täglich eine ihrer Gefangenen töten.
    Um ihre Entschlossenheit zu untermauern, inszenieren sie eine Scheinhinrichtung vor laufender Kamera, brechen die Aktion aber nach acht Tagen ab und kehren in ihr normales Leben zurück. Später zerstreitet sich Iselin mit ihren Mitbewohnerinnen. An ihre Stelle treten Sofia Hirsch und Hans Steir. Wie sich herausstellt, haben sich beide, ohne von einander zu wissen, jeweils in geheimer Mission in Iselins Leben eingeschlichen.
    Sofia ist überzeugt davon, dass anstelle ihres Herzens seit ihrem zwölften Lebensjahr ein hochintelligenter, rauschsüchtiger Parasit lebt, den sie der Einfachheit halber Arrachne nennt. Mittels Hormonausschüttungen, die in dem Sprachzentrum ihres Gehirns zu Sätzen und Weisungen werden, hat Arrachne ihr Wirtstier Sofia komplett in ihrer Gewalt. Aufgrund dieses Schicksals - von dem an einer Stelle angedeutet wird, es handle sich um eine Form von Schizophrenie -, über das sie mit niemandem sprechen kann, fühlt sich die Medizinstudentin Sofia zu Iselins und Edvards Mutter hingezogen. Sie wird Iselins Geliebte, weil sie überzeugt ist, dass sie über die Tochter irgendwann an die Mutter herankommen und diese umbringen kann.
    Hans Steir wiederum wurde von der Mutter ausgesandt, um ihre Tochter zu beschützen. Alle drei sind fasziniert von international agierenden Terroristen der frühen 70er-Jahre, etwa von Kozo Okamoto, einem Mitglied der japanischen Roten Armeefraktion. Um ihr WG-Leben weiterzufinanzieren, führen sie die erste Flugzeugentführung Norwegens durch, die in einer Katastrophe zu enden droht.
    Zeitgleich gründet Edvard mit seinen neuen Freunden Simon Valentino und Kubald Kurayjan die Bande Switchblade Belarus und tötet für eine Fleischmahlzeit die Heilige Kuh der evangelisch-lutherischen Buddhisten Rigas. Auf ihrer Reise nach Süden geraten sie in politische Versammlungen und entgehen nur knapp einem Vergiftungsversuch. Edvard und Simon entdecken ihre wechselseitige Anziehung und darüber ihre Homosexualität und landen schließlich in den "Weinbergen der Utopie", einer ikonoklastisch-nachrichtenfeindlichen Kommune in der Nähe von Odessa, bevor sich Edvard alleine aufmacht, um das Schwarze Meer zu überqueren.
    Reflexive Betrachtungen zu pop- und hochkulturellen Kunstwerken
    Erzählt ist der Roman in 166 Abschnitten, die oft nur eine halbe Seite lang, manchmal aber auch deutlich umfangreicher sind und in sich als kleine, verdichtete Prosaminiaturen funkeln. Mal fühlt man sich durch den assoziativ-kalauernden Ton entfernt an Günther Eich erinnert. Reflexive Betrachtungen zu pop- und hochkulturellen Kunstwerken – etwa zu der Spielweise eines Nebendarstellers aus der Paten-Trilogie oder Edvard Munchs Gemälde "Das kranke Kind" wechseln sich ab mit brillanten Szenen samt hochkomischen Dialogpassagen. Man merkt an diesen Stellen deutlich, dass Jakob Nolte bislang vornehmlich Theaterstücke geschrieben hat.
    Andere Passagen erläutern als aberwitzige Lexikoneinträge einzelne wenig bekannte realhistorische Ereignisse, Fremdwörter oder Namen aus dem Abschnitt zuvor.
    "Ein Metier ist das temporäre Entstehen eines Ortes, der eine Arbeit begrenzt. Am ehesten lässt sich der Begriff des Metiers mit dem Begriff des BHs erklären. Ein BH ist ein temporärer Ort, der die Brüste eines Menschen definiert. Und wie beim BH ist auch bei dem Metier weniger der Inhalt, also die Brüste oder die Arbeit, sondern die Vorstellung, die der Betrachtende davon hat, von Bedeutung. Das Problem, das ja auch Edvard mit Brüsten hatte, ist die Idee von Brüsten, die durch BHs vermittelt wird, nicht Brüste selbst. Für Brüste gilt wie für alle anderen Körperteile: Einen Normalfall gibt es nicht. Aber der BH provoziert das Bild eines Normalfalls, er verzerrt die Wirklichkeit. Der BH und das Metier sind Massenmedien und daher abzulehnen."
    Schillerndes Sammelsurium an schrägen Neben- und Binnenplots
    Solche Einschübe und der Hang, ein schillerndes Sammelsurium an schrägen Neben- und Binnenplots einzuschalten, erinnern an Netzlektüren, bei denen man sich von Hyperlinks, Querverweisen und Nebeninteressen treiben lässt.
    Diese Tendenz zum poetischen Kramladen hält einen jedoch in dem Roman keineswegs davon ab, der durchaus stringenten und mit Mitteln des Suspenses erzählten Hauptgeschichte des Schicksals der Zwillinge zu folgen. Zudem werden die vielen Nebenabschnitte leitmotivisch von Momenten jäher Gewalt und viszeraler Körperlichkeit grundiert. So etwa, wenn Sofia Hirsch ihren Freund und ihre beste Freundin zu gemeinsamen Sex verführt, der im Buch durchaus hart an der Grenze zur Pornografie erzählt wird. Nur, um die beiden am nächsten Morgen von Eifersucht zerfressen mit einem Küchenmesser zu zerstückeln, angetrieben von dem adrenalinsüchtigen Herzparasiten Arrachne.
    Dieses orgiastische Prinzip taucht im Roman an zahlreichen Stellen und in verschiedenen Varianten auf – und reflektiert dabei eine Grundfrage des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts: Inwieweit brauchen politisch radikale Visionen für ihre Durchsetzung Gewalt?
    Die Sowjetrepubliken, die Edvard auf seinem Weg nach Afghanistan durchreist, sind genau jene Zonen, die Timothy Snyder einmal als "Bloodlands" bezeichnet hat. Jene Gebiete also, auf denen der Stalinismus und dann vor allem die deutsche Wehrmacht Millionen von Menschen ermordet haben - im fanatischen Glauben an ihre jeweiligen politischen Ideologien. Auch hier gingen politische Gewalt, systematisches Töten und orgiastische Mordlust eine schreckliche Verbindung ein.
    Historische Abgründigkeit des Grundthemas
    An zwei dieser historischen Schauplätze, in Pinsk und Ponary machen Simon und Edvard wie zufällig halt. In Ponary begegnen sie einer politischen Aufwieglerin namens Benedikte:
    "Ihr Zimmer stand voll mit frischen Blumensträußen, die sie im Wald bei Ponary pflückte. Einmal saß sie da und beobachtete, wie sich das Blatt einer wilden Kamille von seiner Blüte löste und auf ihre Kommode stürzte. Kurz bevor es das Holz erreichte, gefror es in der Luft. Ponary, fragte sich Benedikte, ist das ein Wort wie Treblinka, Babyn Jar oder Palmnicken? Oder ist es einfach nur ein Wort? Bis zum heutigen Tage hängt das Blatt still über der Kommode."
    An keiner anderen Stelle des Buches wird so klar auf die historische Abgründigkeit des Grundthemas verwiesen. Und es fällt nicht schwer, diese nebenhin notierten Schmerzpunkte zu übersehen.
    Was sich streckenweise liest wie eine aberwitzige Alternativgeschichte des Terrorismus weitet sich jedoch bei genauerer Lektüre zu einem Panorama der Horrorgeschichtsschreibung. Die immer wieder kalauernden, hochkomischen Ausfälle gerinnen so zu einer Oberfläche, um die politische Verzweiflung, die tief nihilistische Grundierung dieser Perspektive zu überspannen.
    Es sind diese beiläufigen Momente von poetischer Melancholie angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die dem Buch seine ungeheure Kraft verleihen und den Roman zu einem der aufregendsten Texte eines jüngeren Autors der letzen Jahre machen.
    Jakob Nolte: "Schreckliche Gewalten"
    Matthes & Seitz, 340 Seiten, Preis: 22,00 Euro