Meili ist vom Unglück verfolgt. Sie stammt aus einer einfachen Bauernfamilie, heiratet sehr jung und bekommt eine Tochter. Nannan ist das einzige Kind, das sie haben darf. Ihr Mann Kongzi, ein Lehrer, ist ein Nachfahre Konfuzius in der 76. Generation und sieht es als seine heilige Pflicht an, einen Sohn zu zeugen. Nur so kann er das konfuzianische Erbe fortsetzen. Meili wird wieder schwanger. Beamte der Bezirksfamilienplanungsbehörde fahren übers Land, dringen gewaltsam in Häuser ein, suchen Frauen, die schon ein Kind haben und sterilisieren sie. Die, die zum zweiten Mal schwanger geworden sind, zwingen sie mit äußerster Brutalität zu Abtreibungen. Die Neugeborenen werden getötet. Die ohnehin bettelarmen Familien müssen das auch noch bezahlen. Andernfalls werden ihre Schweine und Hühner, der Reis und das Saatgut konfisziert, ihre Häuser von Bulldozern niedergewalzt.
Der Roman beginnt mit entsetzlich gewalttätigen Szenen
"Als sie ihn mit 17 heiratete, war sie der Auffassung, die Ehe sei für immer und die Regierung würde die Menschen beschützen und versorgen, so wie die Ehemänner ihre Ehefrauen beschützten und versorgten. Aber kaum war sie verheiratet, zerplatzten ihre naiven Vorstellungen. Sie entdeckte, dass Frauen nicht über ihren Körper bestimmen konnten: Ihre Gebärmutter und die Geschlechtsorgane sind Kampfgebiete, um deren Beherrschung Ehemänner und der Staat miteinander ringen, Gebiete, die Ehemänner für ihre eigene sexuelle Befriedigung und zur Zeugung männlicher Nachkommen benutzen und die der Staat untersucht, überwacht, beschattet und ausschabt, um seine Macht zu festigen und Angst zu verbreiten. Das wiederholte Eindringen in die intimsten Regionen ihres Körpers hat bewirkt, dass sie jedes Gefühl für sich selbst verloren hat."
Der Roman beginnt mit entsetzlich gewalttätigen Szenen. Die Männer der Bezirksfamilienplanungsbehörde sind unsagbar grausam. Frauen tragen ihre blutenden, toten Babys in Plastiktaschen mit sich herum. Wenn sie nicht schnell genug sind, werden ihnen die Leichen wie auch die Föten weggenommen und an kantonesische Restaurants verkauft. Es wird eine Potenz steigernde Suppe daraus gekocht.
Die Menschen sind so verzweifelt, dass sie einander betrügen. Sie stellen aus Sägespänen eine Pampe her, die sie als Milchpulver verkaufen, injizieren Hormone in Wassermelonen, putzen verschimmelten Reis und verkaufen ihn dann. Sie machen fermentierte Sojasoße aus Frauenhaar.
Das China, das Ma Jian beschreibt ist nicht das strahlende China der Olympiade und der Leichtathletikweltmeisterschaften. Es ist das China der Millionen von Menschen, die an den Rand gedrängt worden sind, die nicht teilhaben am Wirtschaftsboom.
Obwohl Ma Jians Roman "die dunkle Straße"heißt, ist es mehr die Geschichte einer Flussfahrt als ein road novel. Ein linear geschriebener Roman, konventionell aufgebaut, ohne Vor- und Rückblenden, stark in seiner Unmittelbarkeit, seiner Wucht.
Die schwangere Meili flieht mit Mann und Tochter aus ihrem Dorf. Als Wanderarbeiter ziehen Meili und Kongzi von Stadt zu Stadt, immer entlang des Jangtse.
Das Paar wird begleitet vom Kindsgeist
"Der Bus fährt durch mehrere stille Dörfer. Pappeln, Weiden und Telegrafenmasten zerteilen den Blick draußen vorm Fenster. Außer zwei Gestalten in der Ferne und den Antennen, die auf den Dächern schwanken, bewegt sich nichts. Ein hellblaues Spruchband mit der Aufschrift NEUE TRENDS FÜR EHE UND FORTPFLANZUNG SETZEN SICH IN DER NATION DURCH; BLUMEN DER FREUDE SPRIESSEN IN JEDEM HAUSHALT zieht sich von dem einen Ende des Dorfes zum anderen. Die lange, leere Straße macht Meili nervös. Sie gibt dem Fahrer die Anweisung, bis zur nächsten Kreuzung zu fahren und dann anzuhalten, damit sie entkommen können, falls die Polizei auftaucht."
Das Paar wird begleitet vom Kindsgeist, der jedem noch ungeborenen Kind innewohnt und die kleine Familie beobachtet. Ma Jian hat so eine zweite Ebene eingeführt. Neben der düsteren, öden Realität ist da ein fast surreal anmutender Geist mit seinen Reflexionen. Warum soll das Kind den Mutterleib überhaupt verlassen. In was für einer Welt soll es denn leben?
Von dieser Brutalität, den Gräueltaten, der Abgestumpftheit der Menschen zu lesen, fällt nicht leicht. Und doch schildert sie Ma Jian nicht so minutiös nur um des Schockeffekts wegen. Dies ist genau die Welt, vor der die Wanderarbeiter fliehen.
Zudem hat Ma Jian zwei Gegenfiguren zu den grausamen und mitleidlosen Ärzten und Parteikadern geschaffen. Neben dem Kindgeist ist es Meili. Sie gibt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft niemals auf. Nicht, als man sie zwingt, den so erwünschten Sohn zu gebären und sie zusehen muss, wie das Kind, das sie "Glücksjunge"getauft hat, sofort darauf erdrosselt wird. Das Glück im heutigen China ist ein erdrosselter Sohn. Und auch nicht, als ihr Mann die später geborene Tochter gegen Meilis Willen an einen Mann aus Hunnan abgibt. Sie weiß, was das bedeutet: Bettlerbanden werden dem Mädchen alle Knochen brechen, sie verstümmeln und zum Betteln auf die Straße werfen.
Vor Wut läuft Meili vom Ufer des Jangtse in die nächste Stadt. Aber Bauern dürfen nicht so mir nichts dir nichts in die Stadt gehen, sie wird verhaftet und in ein Umerziehungslager geschafft, dann in ein Bordell. Sie wird vom Bordellbesitzer vergewaltigt. Sie wehrt sich, schlägt ihn nieder und zündet ihn an. Der Kindsgeist hat alles miterlebt:
Meili will nie mehr schwanger werden
"Mutter geht aus dem Zimmer und sieht vom Flur aus, wie das Bett zu einem Feuerball wird, die Flammen den Teppich entlangzüngeln und an der Tapete hinaufklettern. Schwarzer Rauch wallt in den Flur hinaus. Hustend und keuchend kommt Mutter zur Besinnung, sie lässt sich auf die Knie fallen und kriecht zu der Stahltür. Jemand macht sie von außen auf, wirft einen Blick hinein und läuft voller Angst weg. Mutter reißt die Tür auf, rennt die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Flammen lodern aus dem Fenster im dritten Stock und lecken am Schild des Nachtklubs, HIMMEL AUF ERDEN."
Sie kehrt zurück zu ihrem Mann.
Meili will nie mehr schwanger werden. Nicht das Gefäß für die Träume ihres Mannes sein, der unbedingt einen Sohn will. Ihm nicht jede Nacht zu Willen sein. Nicht auf ihren Uterus reduziert werden. Sie träumt davon, Ledersandalen zu tragen und sich die Nägel rot zu lackieren, sie möchte einen eigenen Laden haben.
Meili hat von einer Stadt in der Provinz Guandong gehört, der Himmelsstadt. Dort soll das Wasser so verseucht sein, die Luft so Dioxin vergiftet, dass niemand mehr fruchtbar ist. Hochgiftiger Abfall aus Computern und Elektroartikeln hat den Jangtse rot wie Oolong Tee werden lassen. Hier ist das Rückgrat der chinesischen Ökonomie, hier sind Dutzende von Fabriken angesiedelt worden. Himmelsstadt ist Boomtown, ist der realen Industriemülldeponiestadt Guyi nachempfunden. Die Wanderarbeiter pulen Drähte aus ausländischen Fernsehapparaten. Sie zahlen mit Krankheiten dafür. Und über kurz oder lang mit dem Leben. Ihre Kinder gelten als illegal und gehen auf illegale Schulen.
Meili wird wider Willen wieder schwanger. Dennoch gelingt es ihr, dem Elend zu entkommen. Unter den vielen gleichgültigen Menschen findet sie einige, die ihr vertrauen. Sie wird immer selbstbewusster, arbeitet viel, sie hat den eigenen Laden, ein bescheidenes Einkommen.
Fast unmerklich wird Ma Jian im Verlaufe des Romans vom Realisten zum magischen Realisten. Meili spricht mit der Statue "Mutter goldene Blume", die ihr auf ihr Klagen antwortet, das Leben sei ein Meer des Leids. Da klingelt Meilis Mobiltelefon. Ihr Kind wird im Mutterbauch bleiben. Jahrelang. Nur hier ist es geboren. Bisweilen versucht Meili, nach dem ungeborenen Kind in ihrem Leibe zu greifen. "Die dunkle Straße", so wird im Chinesischen auch der Geburtskanal genannt.
Ein ganz großer Wurf
"Ihre Hand fährt weiter durch diesen fleischigen Gang, der von Männern besessen und beherrscht wird, und sie nähert sich dem Ort, wo die Kommunistische Partei residiert. Ihr wird bewusst, dass sie es neun Jahre zuvor niemals gewagt hätte, an dieses staatseigene Tor zu klopfen. Jetzt hat sie den Mut, aber sie weiß nicht, ob sie sich traut einzutreten. Staatseigentum zu betreten ist ein Verbrechen. Sie hält inne und versucht, ihre Gedanken zu ordnen."
Ma Jian beschreibt Meilis Träume und Albträume. Packend stellt er das erbarmungslose China von heute dar. Dabei bleibt er immer Schriftsteller, ist nie journalistisch. Seine Sprache ist reich, seine Szenerien sind opulente Bilder. Auch in ihrer Grausamkeit.
"Die dunkle Straße"ist aus dem Englischen übersetzt worden. Auch wenn Susanne Höbels Text sich sehr gut liest, sollte es doch mittlerweile genug gute Übersetzer geben, die den Roman auch aus der Originalsprache hätten übersetzen können.
Ma Jians jüngster Roman "Die dunkle Straße" ist ein ganz großer Wurf. Es ist nicht nur ein überbordender, spannender Roman, sondern ein politisches Statement. Denn, so Ma Jian, die wichtigste Aufgabe der Literatur sei, es, die Wahrheit zu erzählen.
Ma Jian: Die dunkle Straße. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Rowohlt, Reinbek. 491 Seiten, 24,95 €.