Um den heißen Brei herumreden – die vielleicht geläufigste Küchen-Metapher trifft auch auf Marie NDiayes Roman "Die Chefin" zu. Sie ist gleichsam Erzählprinzip. Der ehemalige Angestellte der titelgebenden Sterne-Köchin redet allerdings nicht um den heißen Brei herum, um den Leser zu langweilen. Im Gegenteil. Das Problem liegt darin, dass die von ihm angehimmelte, außergewöhnliche Frau ungemein verschlossen ist. Auch ihm hat sie ihre Geheimnisse in Stunden größerer Offenheit allenfalls ansatzweise preisgegeben. Trotzdem glaubt der Erzähler, mehr über "die Chefin" zu wissen als alle anderen: mehr als die Restaurant-Pilger, die ihre kulinarischen Extravaganzen bewunderten, mehr als die Neider, die sie wegen ihres Schweigens für dumm hielten.
"Sie täuschten sich gleich zweimal.
Sie war unheimlich intelligent, viel mehr als eigentlich nötig, um in diesem Beruf Erfolg zu haben.
Es gefiel ihr, dass man sich in ihr irrte.
Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr nahekam, sie ausforschte, drohte sie zu enttarnen."
Sie war unheimlich intelligent, viel mehr als eigentlich nötig, um in diesem Beruf Erfolg zu haben.
Es gefiel ihr, dass man sich in ihr irrte.
Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr nahekam, sie ausforschte, drohte sie zu enttarnen."
Geschickt verschachtelter Plot
Wie in ihren früheren Romanen besticht Marie NDiaye durch eine psychologisch versierte, den seelischen Widersprüchen nachspürende Prosa. Der Erzähler, selbst gelernter Koch, ist "der Chefin" seit dem Augenblick, als er ihr Restaurant zum ersten Mal betrat, verfallen, also emotional höchst befangen. In seinem Alterswohnsitz im spanischen Lloret de Mar gibt er jemandem Auskunft, der mehr über sie wissen will. Ist es ein Journalist? Oder ein professioneller Biograf? Das lässt NDiaye offen. Permanent schürt sie Ungewissheit. Das gelingt ihr durch einen geschickt verschachtelten Plot, der Beobachtungen aus dem vergangenen Restaurant-Alltag mit den heimlichen Recherchen und Fantasiegebilden des Erzählers verbindet. Mit anderen Worten: Der Reiz des Romans "Die Chefin" liegt im Eiertanz der Mutmaßungen, der Ahnungen, der Fragen.
Warum zum Beispiel wollte sie dem Erzähler auf einer Einkaufsfahrt nicht das Haus ihrer Kindheit zeigen, in dem sie doch angeblich so glücklich war? Warum verschleiert sie alles Persönliche? Dem Erzähler bleibt nur, die Lücken ihres Werdegangs mit seiner Fantasie zu füllen. Dabei entstehen starke Bilder: Sei es von dem schmerzhaften Moment, als sie mit 14 Jahren Abschied von ihren geliebten, im sozialen Abseits lebenden Eltern nehmen muss, um Dienstmädchen zu werden; sei es von der Euphorie, in der sie mit 16 als Angestellte eines verfressenen Provinzehepaars ihre Initiation als Köchin erlebt. Dem Erzähler selbst bleiben solche höheren Weihen versperrt.
"Ich habe es nie geschafft, die Leute zu vergessen, für die ich kochte, ich habe immer gefürchtet, es ihnen nicht recht zu machen, und versucht, meine Praxis auf das abzustimmen, was ich für ihren Geschmack und ihre Wünsche hielt, deshalb bin ich mittelmäßig geblieben, tugendhaft und zugleich ängstlich, deshalb habe ich nie über irgendetwas geherrscht, was mir freilich auch keine Seelenruhe beschert hat, die kümmerliche Sorge ist nie von mir gewichen, ich habe weder den Frieden erfahren noch dieses ruhige, kalte Frohlocken der schöpferischen Einsamkeit."
Magische Welt der Kochkunst
Wie weit reicht Kompetenz? Wo beginnt die Inspiration? Solche Fragen, die das Geheimnis der Kreativität umkreisen, interessieren Marie NDiaye besonders. Denn als Schriftstellerin sitzt sie im selben Boot. Zum einen beschreibt ihr Erzähler ausführlich die monomanische Arbeits- und Experimentierwut der Chefin. Zum anderen greift er immer wieder auf religiöses Vokabular zurück, spricht von "geweihten Händen", vom "Geist der Küche", der die Chefin erkenne, vom "Verhexen" der Esser, die ihrer Macht verfallen. Es ist die uralte Frage: Wie viel Prozent Arbeit ebnen den Werdegang der großen Künstler, wie viel Prozent Genie? Und wann und wie lässt sich dieses Genie abrufen? Ist es konservierbar?
Parallel zur magischen Welt der Kochkunst baut Marie NDiaye in ihrem Psychodrama "Die Chefin" eine Kulisse der bösen Vorahnungen auf. Warum verweigerte sie jede körperliche Nähe? Hatte sie ein "böses Herz"? Und weshalb wollte sie den Erzähler am Ende sogar vertreiben? Wurde ihr seine Liebe zu viel? Und warum sind alle sechs Geschwister vor ihr gestorben, zwei davon durch Suizid? Weshalb ist die Chefin von ihrer eigenen, angeblich so geliebten Tochter, sobald sie erwachsen war, mit Vorwürfen überschüttet worden?
"Im Grunde tat die Chefin, wenn sie nicht kochte, nichts anderes, als über ihre Küche nachzudenken – und sich in sich selbst zu versenken, um einen Zustand der Aufrichtigkeit zu erreichen, der sie zwang, streng zu prüfen, ob sie ihre eigenen Gesetze nicht verriet."
Familie - eine höchst diffuse Kampfzone voller geheimer Tragödien und Grotesken
Die Botschaft des Romans "Die Chefin" könnte sein: Beruflicher Erfolg hat privat immer einen hohen Preis – gerade für Frauen. Doch was ist aus der Sterne-Köchin, die mit ihrer kulinarischen Selbstverwirklichungswut die männerdominierte Gourmet-Szene aufmischt, letztlich geworden? Marie NDiaye streut immer neue, irritierende, die Spannung steigernde Indizien ein. Gelegentlich spielt sie, wie in früheren Romanen, auch mit fantastischen Elementen. So können Pinien plötzlich sprechen und den Erzähler in die Flucht schlagen. Anders als manche hauptamtlichen Biografen lässt Marie NDiaye aber keinen Zweifel daran, dass sich Menschen nicht vollständig ausleuchten lassen. In diesem Sinne steht sie ganz in der Tradition von Uwe Johnsons Meisterwerk "Mutmaßungen über Jakob" - allerdings ohne dessen starke politische Dimension. Für Marie NDiaye ist und bleibt die Familie "das Kondensat der Welt", wie sie einmal sagte: eine höchst diffuse Kampfzone voller geheimer Tragödien und Grotesken, der niemand entkommt – auch nicht "die Chefin".