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Neuer serbischer Präsident mit eingeschränkter Führungsmacht

Die Serben haben bei der Stichwahl nicht für einen neuen außenpolitischen Kurs votiert, sagt Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen Lage hätten viele dem Ex-Präsidenten Tadic einen Denkzettel verpassen wollen.

Dusan Reljic im Gespräch mit Mario Dobovisek | 21.05.2012
    Mario Dobovisek: Überraschung gestern Abend in Serbien. Unerwartet hat der Oppositionsführer und Nationalist Tomislav Nikolic die Präsidentenwahl gewonnen. Nach sechs Jahren an der Spitze des serbischen Staates muss also der Europa zugewandte Amtsinhaber Boris Tadic seinen Posten aufgeben.

    Am Telefon begrüße ich den Politikwissenschaftler Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ich grüße Sie!

    Dusan Reljic: Guten Tag, Herr Dobovisek.

    Dobovisek: Tadic geht, Nikolic kommt mit einem europäischen Weg, wie er sagt. Wohin wird dieser Serbien führen?

    Reljic: Na ja, sehr viel Führungskraft wird Nikolic nicht entfalten können, denn die serbische Verfassung sieht für den Staatspräsidenten eher protokollarische Funktionen vor. Die eigentliche Macht liegt beim Regierungspräsidenten, beim Premier, und es wird sehr viel davon abhängen, wie die neue Regierungskoalition ausfallen wird. Letztendlich wird es davon abhängen, ob die Bemühungen, dass Serbien eines Tages der Europäischen Union beitritt, weitergeführt werden können.

    Dobovisek: Wie ernsthaft können denn Bemühungen um einen EU-Beitritt weitergeführt werden, wenn ein zumindest früherer Nationalist an der Spitze des Staates steht?

    Reljic: Wie gesagt: Dieser frühere Nationalist hat protokollarische Funktionen. Es wird davon abhängen, ob der Ministerpräsident klare Vorgaben seiner Regierung geben kann, und wenn es eine Regierung ist, die inhaltlich die notwendigen Reformen weiterführen kann. Übrigens der Grund, warum Nikolic an die Macht gekommen ist, war nicht, dass die Menschen jetzt eine neue außenpolitische Orientierung in Serbien wollen, sondern dass sie - vielleicht ist das Wort nicht einmal zu stark - verzweifelt sind angesichts der wirtschaftlichen Lage, in die nicht nur Serbien, sondern ganz Südosteuropa in den letzten Jahren geschlittert ist.

    Dobovisek: Dennoch: die Wahlbeteiligung war außergewöhnlich niedrig. Nur rund 45 Prozent der Wahlberechtigten haben gewählt. Daneben soll es inoffiziellen Informationen zufolge bis zu 100.000 ungültig gemachte Stimmzettel gegeben haben. Was haben die serbischen Wähler da ihrer politischen Klasse mit auf den Weg geben wollen?

    Reljic: Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 47 Prozent und etwa drei Prozent der Stimmen waren ungültig. Das hat etwas damit zu tun, dass das bürgerliche Lager und die linksliberalen Wähler besonders in Belgrad und in anderen urbanen Zentren besonders der demokratischen Partei und ihrem Präsidenten Tadic einen Denkzettel austeilen wollten. Ganz Einfach: Tadic hat in den letzten Jahren die Grenzen zwischen ihm selbst und dem Staat verwischt. Er war zwar Staatspräsident, aber er war zugleich auch Ministerpräsident, Außenminister, Bauminister, er war für alles zuständig und überall präsent. Deswegen ist er in den Augen der Bevölkerung auch für alles schuldig geworden, besonders für die wirtschaftliche Misere, und die Menschen sind ganz einfach nicht zu den Wahlurnen gegangen, sondern nur diejenigen, die traditionell konservativ wählen, die disziplinierter sind, die sind wählen gegangen, sodass Tadic, der bis vor drei Tagen bei den Wahlforschern mit etwa 10 bis 15 Prozent Vorsprung rechnen konnte, am Ende mit leeren Händen ausgegangen ist.

    Dobovisek: Wird es mit Nikolic wieder schärfere Grenzen zwischen den Ämtern geben?

    Reljic: Absolut! Unter der Voraussetzung, dass eine Regierung zu Stande kommt, die nicht von der Nikolic-Partei, also von der Fortschrittspartei angeführt wird, und wie ich den Zeitungsberichten heute früh und gestern Abend entnehmen konnte, scheint es so zu sein, dass die demokratische Partei und die sozialistische Partei von Ivica Dacic durchaus gewillt sind, diese Koalition weiterzuführen.

    Dobovisek: Wie wird Nikolic sich in der Kosovo-Frage verhalten? Die Anerkennung der früheren serbischen Provinz gilt ja als größte Hürde auf dem Weg in die EU. Und auch wenn Sie sagen, dass Nikolic nur protokollarische Funktion hat, sein Wort hat sicher Gewicht.

    Reljic: Sein Wort hat Gewicht und auch die Verfassung Serbiens hat Gewicht und die besagt, dass Kosovo unverändert ein Teil Serbiens ist. Kosovo ist auch nicht Mitglied in den Vereinten Nationen und kann es nicht werden, solange nicht ein Kompromiss zu Stande kommt, ein Kompromiss, an dem auch Belgrad beteiligt sein muss und bei dem sich auch Russland beteiligen möchte, denn um Mitglied der Vereinten Nationen zu werden, das heißt ein vollwertiger Staat zu werden, muss Kosovo das Amen auch von Russland und China im UN-Sicherheitsrat bekommen. Also man ist sehr weit entfernt von einer Regelung der Kosovo-Frage.

    Dobovisek: … und damit auch von einem EU-Beitritt?

    Reljic: Serbiens und Kosovos. Sodass viel Arbeit vor etlichen Faktoren daliegt. Nicht nur Belgrad, nicht nur Pristina, nicht nur Moskau, sondern besonders die Europäische Union und die Schlüsselstaaten in der Europäischen Union werden, glaube ich, sich noch sehr, sehr lange und noch sehr viel engagieren müssen, damit in Südosteuropa angesichts der Wirtschaftslage die Sachen nicht noch komplizierter werden, als sie ohnehin sind.

    Dobovisek: Wird es mit Tomislav Nikolic schwerer, einen Kompromiss zu finden?

    Reljic: Er wird letztlich nicht entscheidend sein bei der Kompromissfindung, aber er wird sicher jemand sein, der nicht so leicht auf seine traditionellen Ansichten, auf seinen Rechtspopulismus verzichten wird.

    Dobovisek: Glauben Sie ihm die Metamorphose, die er ja vorgibt durchgemacht zu haben vom Ultranationalisten hin zum populistischen EU-Befürworter?

    Reljic: Also ich habe Hemmungen, quasi an die Äußerungen von Menschen zu glauben. Man muss die Taten sehen und man muss sich natürlich erinnern, was sie früher gemacht haben. Wenn ich vor mir die Palette der jugoslawischen Politiker aus den letzten 25 Jahren sehe und wie viele Wendehälse es gegeben hat und wie viele Leute, die früher Kommunisten waren oder sogar Geheimdienstchef, auf einmal zu Demokraten aufgestiegen sind und dann wieder ein wenig Populismus betrieben haben, also da ist das Bild so durchwachsen, dass man, glaube ich, sehr auf die Taten achten muss und nicht auf die Erklärungen und Verlautbarungen.

    Dobovisek: Der Balkan-Experte Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ich danke Ihnen.

    Reljic: Ich danke Ihnen, Herr Dobovisek.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.