Anja Buchmann: "Scorpion", so heißt das neue Album des kanadischen Rappers Drake. Menschen, die unter dem Sternzeichen Skorpion geboren sind, wird nachgesagt, besonders leidenschaftlich zu sein. Das gilt auch für Drake, der auch diesmal wieder sehr gefühlsbetont über persönliche Probleme, zwischenmenschliche Dissonanzen, die Liebe und das Geld nachdenkt. Also, nichts Neues? Ja und Nein. "Scorpion" wartet mit einigen Überraschungen auf. Darüber möchte ich mit meinem Kollegen und Kritiker Raphael Smarzoch sprechen, den ich jetzt bei mir im Studio begrüße, schönen guten Tag.
Raphael Smarzoch: Hallo.
Anja Buchmann: Und die erste Frage, was ist das erste, was Ihnen beim Hören aufgefallen ist?
Raphael Smarzoch: Das Album ist sehr lang geworden. Es hat eine Spielzeit von insgesamt 90 Minuten, und es ist daher ein Doppelalbum, das vielleicht auch eine Ansage an Kanye Wests "Ye" darstellt, das ja mehr eine EP ist und durchaus auch als Symptom einer kreativen Durststrecke aufgefasst werden kann. Unter dieser leidet Drake allerdings überhaupt nicht.
Anja Buchmann: Offenbar! Ist es eigentlich Zufall, dass Drake sich für das Doppelalbum entschieden hat?
Das Doppelalbum als Opus Magnum
Raphael Smarzoch: Ich glaube, nicht. Ich glaube, dass Drake hier versucht hat, sein Opus Magnum zu erschaffen, wobei man hinzufügen sollte, dass seine vorhergehenden Alben auch nicht gerade kurz waren. Ihm geht es nicht nur darum, Streaming-Rekorde zu brechen, wie es beispielsweise mit den Singles "God’s Plan" und "Nice for What" passiert ist, sondern er möchte sich auch in die Hall of Fame des Hip-Hop einschreiben. Dazu wählt er eben die geschichtsträchtige Form des Doppelalbums. Man denke zum Beispiel an Klasiker wie Tupacs "All Eyez on Me", Wu-Tang Clans "Wu-Tang Forever" und Outkasts "Speakerboxxx/The Love Below". Mit "Scorpion" möchte sich Drake in diese Liga legendärer Veröffentlichungen vermutlich einreihen.
Anja Buchmann: Im Vorfeld hieß es, dass das Album sich in zwei Teile gliedert, die sich musikalisch stark voneinander unterscheiden. Ist das so?
Raphael Smarzoch: Ja, im ersten Teil des Albums begegnen uns vorwiegend moderne Trap-Arrangements.
Anja Buchmann: Also so schleppende Bassdrums, Klapperschlangen-Hi-Hats wird denen zugesprochen.
Raphael Smarzoch: Ganz genau. Und im zweiten Teil zeigt sich Drake von seiner sensiblen Seite mit melancholischen Hip-Hop-Tracks und herzzerreißenden R&B-Balladen.
Zwischen Emo, Bounce und Triolen-Rap
Anja Buchmann: Also, man bekommt alles, was man so von Drake kennt und schätzt. Gibt es ihrer Meinung nach besonders gelungene Tracks, die sie herausheben möchten?
Raphael Smarzoch: Besonders hervorzuheben ist der Track "Summer Games", der mich an Bands wie Blink-182 tatsächlich erinnert hat oder andere Emo-Punk-Interpreten und auch zeigt, dass Drakes Produzententeam eine gute Nase für aktuelle Entwicklungen im Hip-Hop hat. Das Stück "Finesse" ist zum Beispiel auch sehr gelungen: Selten klang Drake so düster und narkotisch. Auf "Nice for What" flirtet er mit sogenannter "Bounce Music" aus New Orleans. Das ist eine Spielart des Hip Hop, die mit sehr expliziten Texten, repetitiven, abgehackten Samples und harten Beats arbeitet.
Anja Buchmann: Und auch in der Drag-Szene angesiedelt ist.
Raphael Smarzoch: Ganz genau. Mit dem Track "Mob Ties" huldigt er dem omnipräsenten Triolen-Rap der Marke Migos – das darf natürlich auch nicht fehlen. Schön ist auch, Oogie Manes sumpfige Beats auf "I'm Upset" zu hören.
Ein Duett mit Michael Jackson
Anja Buchmann: Sonst noch was, was ihnen aufgefallen ist?
Raphael Smarzoch: Ja, ebenfalls interessant ist der Song "Don't Matter to me". Allerdings weniger aufgrund der Musik. Drake holt hier den King of Pop, Michael Jackson höchstpersönlich, aus dem Jenseits und singt mit ihm ein Duett, das auf einem Sample eines bislang unveröffentlichten Stückes basiert. Drake leistet hier auch popmusikalische Archäologiearbeit für Michael-Jackson-Fans.
Anja Buchmann: Im Vorfeld des Albums sorgte ein Streit zwischen Rapper und Kanye-West-Protegé Pusha T und Drake für Aufsehen. In dem Song "The Story of Adidon" streute Pusha T Gerüchte über Drakes Sohn. Wird diese Fehde dann auch auf dem Album adressiert?
Raphael Smarzoch: Ja, Drake rappt über ein Kind in den Stücken "Emotionless" und "March 14". Offenbar handelt es sich tatsächlich um seinen Sohn. "Scorpion" ist deswegen auch ein Album, in dem es um Vaterschaft geht. Das ist tatsächlich neues Territorium für Drake. Und es macht ihn auch verletzlich und angreifbar. Letztendlich versucht er mit "Scorpion" den Image-Schaden, der ihm durch die Anschuldigen Pusha Ts zugefügt wurde, wieder zu reparieren, indem er bekennt, ein guter Vater sein zu wollen, der es hasst aufgrund seiner vielen Verpflichtungen, seinen Sohn nur so selten zu sehen.
Positive Langeweile als Sympton des digitalen Alltags
Anja Buchmann: Ansonsten bleibt alles beim Alten?
Raphael Smarzoch: Drake sagt nicht viel, was er bereits nicht zuvor schon gesagt hat, außer beispielsweise in dem Track "Final Fantasy", in dem er einige seiner sexuellen Vorlieben preisgibt. Ansonsten geht es wieder um Frauen, persönlichen Kummer und die Tücken sozialer Medien, sei es Selbstdarstellung oder negative Kommentare, die ihm tatsächlich zu schaffen machen, wie er ebenfalls in dem Song "Emotionless" zugibt. Drake ist also noch immer der Sadboy, der erneut ein Album vorgelegt hat, das sicherlich sehr erfolgreich sein wird und auch wirklich Spaß macht.
Viel faszinierender ist für mich aber, dass es ihm gelungen ist, mit "Scorpion" ein sehr zeitgeistiges Gefühl einzufangen. Drake gilt als besonders internetaffiner Musiker. Sein Video zu dem Song "Hotline Bling" wurde so konzipiert, dass es als Mem weiterverarbeitet werden kann. Das ist auch mit Inhalten von "Scorpion" passiert. Und er selbst ist letztendlich auch ein lebendes Mem. "Scorpion" geht aber noch einen Schritt weiter. Dem Album zuzuhören, gleicht so ein wenig der Erfahrung, die man beim Surfen durchs Internet macht. Man merkt gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht und was man da überhaupt alles gelesen und gesehen hat. Drake gelingt es also, eine Art von positiver Langweile zu erzeugen, die zu einem wesentlichen Teil unseres digitalen Lebens geworden ist. Vielleicht macht ihn das so erfolgreich.