Anja Buchmann: Auf einer Farm in Wyoming stellte der Rapper Kanye West in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni unter Freunden und Geschäftspartnern sein neues und achtes Studioalbum vor; Titel die zweite Silbe seines Vornamens: "ye" . Das Ganze konnte man per livestream im Netz verfolgen, und da sah man einen ziemlich müden West, von den Strapazen der vergangenen Wochen gekennzeichnet . Und die hatten es in sich. West gestand, ein Fan von Donald Trump zu sein oder äußerte sich kontrovers über 400 Jahre Sklaverei in den USA. Um den Wirbel, der um das Album entstanden ist, möchte ich mit unserem Kritiker Raphael Smarzoch sprechen, der bei mir im Studio ist. Aber nicht nur darüber: Erstmal, Herr Smarzoch, wie ist das Album denn musikalisch geworden?
Raphael Smarzoch: Sollten wir es tatsächlich mit der endgültigen Fassung des Albums zu tun haben, bei Kanye ist das ja nicht immer so klar, dann ist "ye" sehr kurz geworden. Es hat eine Spielzeit von nur 23 Minuten, die sich über 7 Tracks verteilt.
Anja Buchmann: Also quasi eine EP?
Raphael Smarzoch: Ja, genau. Musikalisch gibt es leider keine großen Überraschungen. Kanye bewegt sich zwischen modernen Trap-Sounds und klassischen Soul-Arrangements, die mit Beats grundiert werden. Das kennt man bereits wirklich zu genüge von seinen früheren Alben. Inhaltlich geht es viel um Kanyes persönlichen Kummer. In einem Track spricht er beispielweise von Suizidgedanken oder erwähnt in anderen Stücken den Missbrauch von Medikamenten und Drogen. Es geht um Selbstzweifel, Seitensprünge, aber auch um das Krankheitsbild der bipolaren Störung.
Anja Buchmann: Auch als manisch-depressive Störung bekannt.
Raphael Smarzoch: Genau, charakteristisch für diese Erkrankung sind sprunghafte Gemütsschwankungen, unter denen auch Kanye offenbar leidet, sie aber als eine Art von Superkraft wahrnimmt, die ihn nicht einschränkt, sondern ausmacht und auch oftmals für seine sehr impulsiven Äußerungen verantwortlich ist.
Hip-Hop und Donald Trump
Anja Buchmann: Genau, im Vorfeld zum Release machte Kanye West durch einige Kontroversen von sich reden. Er bekundete seine Sympathien für Donald Trump und formulierte umstrittene Thesen über 400 Jahre Sklaverei in den USA. Alles nur gezielte Provokationen, um Aufmerksamkeit für sein Album zu erregen oder gibt es auf dem Album selbst weitere Anspielungen dieser Art?
Raphael Smarzoch: Es gibt diese Themen, allerdings in Maßen. Es geht zum einen um die #MeToo-Bewegung von der Kanyes enger Freund Russell Simons, Mitbegründer des Labes Def Jam Recordings, sexueller Übergriffe beschuldigt wurde. West sagt, Simons sei "#MeToo'd" worden, äußert sich aber weder positiv noch negativ über die Bewegung. Zum anderen erwähnt West auch die Pornodarstellerin Stormy Daniels, wodurch sich der Kreis wieder zu Trump schließt.
Dass Kanye West Sympathien für Donald Trump empfindet, verwundert mich überhaupt nicht. Schließlich sind beide talentierte Geschäftsmänner, die es zu großem Erfolg gebracht haben – das eint sie.
Hip-Hop und Donald Trump gehen zudem schon seit langem eine sehr enge Verbindung ein. Trump ist mit seiner nonchalanten Art und seinem dekadenten Lifestyle für viele Rapper ein Vorbild. Ol‘ Dirty Bastard rappte bereits 1995 "Soon to be paid like Donald Trump" – also, dass er bald bezahlt werde wie Donald Trump. Es gibt aber auch aktuelle Beispiele schwarzer Trump-Verehrung: Lil Wayne sagte 2011 – "Get money like Donald Trump" und Yung Joc erzählt, dass die Jungs aus der Hood ihn den schwarzen Trump nennen würden.
Im Vorfeld des Albums erschien zudem der Song "Ye vs. the people", der spannende Einblicke in Kanyes Denken liefert und es offenbar nicht auf das Album geschafft hat. Was wirklich sehr schade ist. In dem Track führt er zusammen mit dem Rapper TI eine Art Good Cop Bad Cop-Dialog. Darin heißt es unter anderem: "I know Obama was heaven-sent, but ever since Trump won, it proved that I could be president". Also, seit Trump die Wahl gewonnen hat, glaubt Kanye offenbar selbst, eine Chance auf die Präsidentschaft zu haben.
Identitätspolitik als mentales Gefängnis
Anja Buchmann: Greift er in dem Stück denn auch nochmal seine Äußerungen zur Sklaverei auf?
Raphael Smarzoch: Ja, in dem Stück gibt es eine Passage, die Kanyes kontroverse Äußerungen über Sklaverei in Amerika aufgreift. Kanye behauptet, das Problem Amerikas sei, dass alle Schwarzen Demokraten sein müssen. Sie befänden sich daher mental noch immer auf den Baumwollplantagen der Vergangenheit. Diese Gedanken zielen in das Herz der sogenannten Identitätspolitik, die Kanye als geistiges Gefängnis empfindet und von der er sich lösen möchte. An anderer Stelle fragt er, ob er von Crack oder dem Gebrauch von Schusswaffen rappen sollte, weil das Teil seiner Kultur sei. Er sieht sich nicht als schwarzer Rapper, sondern als Rapper, der jenseits identitätspolitischer Zuschreibungen wahrgenommen werden möchte. Und das macht diese Haltung so unglaublich spannend und provokant.
Anja Buchmann: Und diese Haltung hat es nicht auf das Album geschafft?
Kein Plädoyer für eine starke Streitkultur
Raphael Smarzoch: Leider nicht. Das Album hätte ein Plädoyer für eine starke Streitkultur werden können, wenn Kanye die politischen Kontroversen nicht so sehr entschärft oder auch verkitscht hätte: Seine umstrittenen Äußerungen nimmt er beispielsweise zum Anlass, um eine romantische Hommage an seine Ehefrau Kim Kardashian zu dichten. Obwohl ihr seine Statements äußerst unangenehm waren, sie schockiert haben, hat sie ihn trotzdem nicht verlassen, sagt er. Und das sieht er als den ultimativen Liebesbeweis an.
Kanye verspielt also sein diskursives Potential, seine provokante Qualität, jenseits von Schutzräumen und Denkverboten zu agieren, die Meinungen in richtig oder falsch einteilen und auf die Welt in schwarzweißer Koloratur blicken. Letztendlich fehlt dem Album die Leidenschaft wie sie auf "Ye vs. the People" zu spüren ist. Und somit hinterlässt es für mich einen sehr faden Eindruck.