Fabian Elsäßer: Es gab einmal eine Zeit, da war jedes neue Album von Madonna eine Sensation, wenn nicht gar der neue Standard weiblicher Popmusik. Wie sich die Dinge doch ändern. Das vierzehnte - "Madame X", das diese Woche erschienen ist - stand unter keinem guten Stern.
Im Mai erntete Madonna für einen missglückten Auftritt beim Eurovision Song Contest jede Menge Spott; Anfang Juni lieferte sie sich damm ein Scharmützel mit der New York Times wegen eines Porträts, das sie selbst sexistisch empfand; und auch die vorab veröffentlichten Songs stießen auf wenig Begeisterung. Jetzt also das ganze Werk, Jens Balzer hat es gehört. Mal abgesehen von allem Drumherum, wie ist "Madame X" denn nun – jetzt einmal rein von der Musik her betrachtet?
Jens Balzer: Gute Frage. Etwas rein von der Musik her zu betrachten, hat man ja bei Madonna noch nie gemacht, weil das immer schon eine Musikerin war, die sich eher als multimediales Gesamtkunstwerk inszeniert hat. Aber probieren wir es mal.
Ich finde, es ist gar nicht so schlecht, wie es vorab gemacht wurde. Es ist ein gutes und abwechslungsreiches Album.
Ich finde, es ist gar nicht so schlecht, wie es vorab gemacht wurde. Es ist ein gutes und abwechslungsreiches Album.
Liebäugeln mit aktuellen Latin Pop - Trends
Besonders in der ersten Hälfte gibt es ein paar wirklich interessante, manchmal auch befremdliche, aber jedenfalls mutige Stellen. Generell herrscht eine starke Orientierung an lateinamerikanischen Popstilen vor. Gleich das erste Stück "Medellin", das auch vorab ausgekoppelt wurde, ist ein lässig dahinschunkelnder Cha-cha-cha-Tanz, gesungen im Duett mit dem kolumbianischen Superstar Maluma.
"Medellin" ist natürlich die Hauptstadt des kolumbianischen Drogenhandels, und auch Maluma und Madonna möchten da ein Kartell aufmachen, aber ein "Kartell der Liebe".
"Medellin" ist natürlich die Hauptstadt des kolumbianischen Drogenhandels, und auch Maluma und Madonna möchten da ein Kartell aufmachen, aber ein "Kartell der Liebe".
Elsäßer: Früher hat Madonna die Trends gesetzt. Rennt Sie jetzt nur noch den Trends hinterher?
Balzer: Ja, da hat sie sicher den Trend und auch ein großes Publikum im Auge gehabt, das sich für Latin Pop gerade begeistert. Aber man muss dazu natürlich auch sagen, dass Latin-Einflüsse für Madonna schon immer eine Rolle gespielt haben. Denken wir an "La Isla Bonita", einen ihrer frühen Hits, aus dem Jahr 1986. Oder an "Spanish Eyes" von 88, von dem Album "Like A Prayer". Ganz toll, einer meiner Lieblingssongs von Madonna, aus dieser House Music-Phase: "Deeper and deeper" heißt der, vom Erotica-Album. Da gibt's dann über den House-Beats Kastagnettengeklapper und Flamenco-Gitarre. Das ist also nicht neu und trendig, sondern nimmt einen Faden wieder auf.
Erhaben und irre
Neu ist vielleicht, dass solche und andere musikalische Einflüsse noch eklektischer, hektischer und temporeicher von ihr vermischt werden als früher. Manche Songs wechseln drei bis vier Mal die Richtung, die Stile, die Temperaturen. Wenn sie sich an etwas angepasst hat, dann eher an diese Hyperaktivitäts-Ästhetik der aktuellen Spotify-Musik, wo ja immer möglichst viele verschiedene Dinge in sehr kurzer Zeit passieren müssen, einfach, weil die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums heute so kurz ist.
Elsäßer: Dafür vielleicht ein Beispiel?
Balzer: Das beste Beispiel ist der zweite Song auf dem Album, der heißt "Dark Ballet"
der fängt an wie eine konventionelle Autotune-Elektropop-Ballade. Madonna singt aus der Perspektive der Heiligen Johanna von Orleans darüber, dass sie gerne ein schönes Leben hätte, aber sie weiß, dass alles bald in Flammen aufgehen wird.
der fängt an wie eine konventionelle Autotune-Elektropop-Ballade. Madonna singt aus der Perspektive der Heiligen Johanna von Orleans darüber, dass sie gerne ein schönes Leben hätte, aber sie weiß, dass alles bald in Flammen aufgehen wird.
Dann bricht der Balladenteil plötzlich ab, und irgendjemand interpretiert auf einem altertümlich wirkenden Synthesizer den "Tanz der Rohrflöten" aus Tschaikowskis "Nussknacker" in rasendem Tempo. Im Anschluss daran wird der erste Teil variiert, aber im Turbo-Trap-Stil mit verbeulten Schlumpfstimmen.
Anlässe für ungläubiges Gekicher
Es gibt einen Hörspiel-Teil, in dem Madonna erklärt, dass ihr Vertrauen in Gott es ihr leichter macht, auf dem Scheiterhaufen zu sterben, und ein Klavierballaden-Finale, in dem sie die Menschen dazu aufruft, sich gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu erheben.
Ich habe beim ersten Hören ungläubig gekichert, wegen der teilweise absurden Sounds und weil es so auseinander fällt. Aber je öfter man das hört, desto toller wird das Stück, gerade auch mit dem Video, das vor ein paar Tagen erschienen ist. Da sieht man den großen Transgender-Künstler Mykki Blanco als Verkörperung von Madonna und der Heiligen Johanna
auf dem Scheiterhaufen, während Madonna selbst als Vertreterin der Inquisiton zuguckt.
Das ist alles irre, aber irgendwie auch riskant und mutig und albern und gleichzeitig aber auch sehr erhaben.
auf dem Scheiterhaufen, während Madonna selbst als Vertreterin der Inquisiton zuguckt.
Das ist alles irre, aber irgendwie auch riskant und mutig und albern und gleichzeitig aber auch sehr erhaben.
Elsäßer: Abschließend gefragt: wie relevant ist dieses neue Madonna-Album? Auch gewertet an den vergangenen Versuchen, die ich als nicht so erinnerungswürdig im Kopf habe.
Balzer: Also wie relevant das ist, kann man vielleicht erst ermessen, wenn man weiß, wie viele Leute das auch wirklich hören und wahrnehmen. Ob sie damit nochmal durchdringt zu einem jüngeren Publikum, auf das sie ja abzielt, das gerade auch für die Latin-Pop-Sachen empfänglich ist, das wage ich fast zu bezweifeln.
Stoisch zwischen allen Stühlen
Ob sie zu ihren älteren Hörerinnen und Hörern damit durchdringt, indem sie jetzt sehr moderne, eklektische, zum Teil auch futuristische Sounds und Soundcollagen einbaut, das wage ich auch zu bezweifeln. Sie hat sich damit irgendwie zwischen alle Stühle gesetzt, das kann man schon sagen. Aber es gibt so ein Stück am Ende, es heißt "I rise", in dem sie sehr großen Wert darauf legt, ihre Standhaftigkeit und ihre Stoik gegen den Wandel der Zeitläufte und Gesinnungsmoden zu begründen.
Das ist vielleicht typisch für diese Musik. Sie macht da weiter, woran sie seit 35 Jahren gearbeitet hat und ist relativ unbelastet davon, ob das nun dem Zeitgeist entspricht oder nicht. Interessant finde ich, dass gerade die Passagen auf diesem Album, die man eher peinlich finden kann, wo man etwas betreten ist, manchmal kichert, dass das alles überlagert ist von großem Ernst und Sendungsbewusstsein. Und diese Ambivalenz ist immer typisch gewesen für Madonna. Sie war immer naiv und kalkulierend, sie war immer unintellektuell simpel, aber auch divenhaft überlegen....
Elsäßer: Und auch sehr inbrünstig. Zum Beispiel, wenn sie sich mit der Kaballa beschäftigt hat, dann immer gleich sehr beselt.
Balzer: Ja, es gibt zum Beispiel auch ein Stück, in dem sie sich quasi mit allen Minderheiten der Welt identifiziert, für die Schwulen eintritt, wenn sie diskriminiert werden, für Afrika, den Islam und wen nicht noch alles. Das findet man mittlerweile ein bisschen naiv. Es ist ja auch irgendwie aus der Mode gekommen im identitätspolitischen Diskurs, dass der eine für den anderen eintreten darf. Aber sie macht das einfach, und in dieser Naivität liegt wie Sie gesagt haben eine große Inbrunst und ein großer Ernst.
Ich habe das wirklich über große Teile mit Interesse und auch Wohlwollen gehört. Und gerade die Passagen, bei denen man eher zusammenzuckt und sich fragt, was soll das jetzt, die machen das eigentlich noch reicher und interessanter.