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Neues Album von Marianne Faithfull
"Alle 70 Jahre kommen die Nazis zurück"

Der Vater ein Spion, die Mutter eine Widerstandskämpferin: In ihrer Pariser Wohnung erzählte Marianne Faithfull dem Deutschlandfunk, warum sie heutzutage so oft an die Kriegsgeschichten ihrer Eltern zurückdenkt und die Popkultur der Sechzigerjahre als Überwindung des Nachkriegstraumas betrachtet.

Marianne Faithfull im Corsogespräch mit Robert Rotifer |
    Marianne Faithfull
    Marianne Faithull 2015 bei einem Auftritt in Prag (imago/CTK Photo)
    Robert Rotifer: Da ist dieser Song über die Terror-Anschläge auf Paris.
    Marianne Faithfull: Oh yeah.
    Rotifer: Der geht in den Bauch.
    Faithful: Das habe ich gleich nachher geschrieben, ich war so schockiert.
    Rotifer: Waren Sie hier, als das passierte?
    Faithfull: Ja, und ich habe einen großartigen Freund, Hal Willner. Seine Theorie ist, dass alle 70 Jahre in irgendeiner Form die Nazis wiederkommen. Und hier sind sie schon wieder!
    Rotifer: In ihrem Text sagen Sie, diesmal gibt es kein mutiges England, Russland oder Amerika.
    Faithfull: Ja, es ist ein Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg.
    Rotifer: Und diesmal sieht es nicht so aus, als ob uns jemand vor Trump oder dem IS retten würde.
    "Heute ist nichts mehr klar"
    Faithfull: Es ist völlig unklar. Im Zweiten Weltkrieg war es wenigstens wohldefiniert. Es gab einen großen Feind, und die Leute mussten sich zusammentun, um ihn zu schlagen, aber jetzt mit IS und Trump und all dem ist gar nichts klar.
    Rotifer: Es gibt keine Guten?
    Faithfull: Ja, nur Böse.
    Rotifer: Aber der Hintergrund Ihres Songs "They Come At Night" ist ja, dass Ihr Vater und Ihre Wiener Mutter ja im Widerstand gegen die Nazis aktiv waren.
    Faithfull: Ja, so haben sie sich getroffen. Mein Vater war ein Spion für den MI5, und meine Mutter ... Es gab ja kaum Widerstand in Wien, aber in dieses kleine bisschen Widerstand waren meine Mutter und ihr Vater sehr involviert. Sie brachten sich in furchtbare Gefahr. Sie war erst 24. Und mein Vater spionierte für die Engländer.
    Rotifer: Ich frage mich: Sie waren ja selbst sehr furchtlos in den 60er-Jahren. Kam das daher, dass schon Ihre Eltern so furchtlos hatten sein müssen?
    "Ich schäme mich, meiner Mutter nicht geglaubt zu haben"
    Faithfull: Die waren wirklich furchtlos. Das ist das Schreckliche an mir selbst, das ich zutiefst bereue: Ich war nur ein englisches Mädchen in der Kleinstadt Reading. Und meine Mutter betrank sich manchmal sehr. Ich werfe ihr das nicht vor. Sie war unglaublich traumatisiert nach dem Krieg. Meine Großmutter war Jüdin und da passierten ein paar furchtbare Dinge. Es hätte natürlich noch viel schlimmer kommen können. Als dann alles vorbei war, wollte meine Mutter Österreich verlassen und nach England kommen. Sie hatte eine Illusion darüber, wie das sein würde und es trat überhaupt nicht so ein, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie betrank sich also öfters und erzählte mir dann Geschichten über ihr Leben im Krieg. Es beschämt mich heute sagen zu müssen, dass ich ihr nicht wirklich glaubte. Denn ich hatte überhaupt keinen Bezug dazu, was sie da erzählte.
    Rotifer: Woran erinnern Sie sich?
    Faithfull: Nun, da war die eine Geschichte, wie meine Mutter an zwei Gestapo-Beamten vorbeiging, die einen alten Juden mit Locken und allem zwangen, den Bürgersteig mit Säure zu waschen.
    Rotifer: With acid?
    Faithfull: Es war natürlich fürchterlich unangebracht, dass meine Mutter mir als Kind diese Geschichten erzählte, aber sie war allein. Sie und mein Vater hatten sich getrennt, und sie war vollkommen allein mit mir. Ich war der einzige Mensch, mit dem sie sprechen konnte. Es tut mir so leid, dass ich ihr nicht glaubte.
    Marianne Faithfull 2014 bei einem Konzert in Amsterdam
    Marianne Faithfull 2014 bei einem Konzert in Amsterdam (picture alliance / dpa/Damman)
    Rotifer: Denken Sie, dass Ihre Generation in den 60er-Jahren rückblickend deshalb so radikal und unerschrocken war, weil Sie direkt nach dem Krieg geboren waren?
    Faithfull: Hm, 1946.
    Rotifer: Da war etwas Unüberbrückbares zwischen Ihrer Generation und der ihrer Eltern.
    Faithfull: Es war eine große Barriere, nicht wahr?
    Rotifer: Und dann wurden sie zum Star ...
    "Die 60er werden glamourisiert"
    Faithfull: Zum Star? Ach, kommen Sie! Ich wurde auf Tourneen quer durch England gezerrt, mit Freddie & The Dreamers. Das nenne ich keinen Starruhm.
    Das Corsogespräch mit Marianne Faithfull - hören Sie hier in englischer Originalversion
    Rotifer: Glamourisieren wir denn die 60er-Jahre zu sehr?
    Faithfull: Ja! Die Realität waren furchtbare kleine Kinos. Wir spielten diese Shows vor dem Vorhang. Man kann das nicht einmal Garderoben nennen, das waren mehr Toiletten, aber wir taten halt so, als ob. Es fühlte sich jedenfalls nicht so an, als wäre ich ein Star. Was mir Gott sei Dank klar wurde - sonst wäre ich verrückt geworden - ist, dass es auf diesen ganzen Scheiß nicht ankommt. Sondern darauf, dass man gute Musik macht. Und das tue ich.
    Rotifer: Auf Ihrer neuen Platte gehen sie wieder zurück zu "As Tears Go By". Der Song hat eine andere Bedeutung angenommen.
    Faithfull: Oh ja, ist das nicht eigenartig, wie er das macht? Als ich das Lied zum ersten Mal aufnahm, mochte ich es nicht besonders. Und beim zweiten Mal war ich so traurig. Und jetzt, endlich, hab ich's. Ich verstehe es und ich liebe es.
    Rotifer: Er wurde ja von Mick Jagger und Keith Richards, damals noch zwei zynischen jungen Männern geschrieben.
    Faithfull: Ja, zwei Jungen, die noch nicht einmal Männer waren und aus der Perspektive einer älteren Frau schrieben. Es war ein außergewöhnlicher Song, und ich hatte großes Glück, dass sie ihn mir gaben.
    Marianne Faithfull mit Mick Jagger am 14.08.1967 auf dem Flughafen London-Heathrow.
    Marianne Faithfull mit ihrem damaligen Freund Mick Jagger am 14.08.1967 auf dem Flughafen London-Heathrow. (Press_Association)
    Rotifer: Aber es wirft doch auch die Frage auf, ob sich hinter den Aufschneidergesten der 60er eine tiefe Traurigkeit und Isolation verbarg. Vielleicht war das ja etwas, das in der Düsternis, die mit den Drogen einherging, ein Auslassventil fand.
    Faithfull: Ja, nachdem wir gerade erst die Düsternis durchgemacht hatten, die mit dem Krieg und Mr. Hitler gekommen war. Die war genauso schrecklich wie die Drogen. Zwei verschiedene Arten von Düsternis, aber beide furchtbar. Es ist sehr leicht, jetzt zu sagen: Die Drogen waren viel ärger. Nein.
    Rotifer: Aber es gab wohl einen Grund, warum die Leute sich narkotisierten, oder? Um die Schärfe des Schmerzes zu lindern vielleicht?
    Faithfull: Gibt es je einen Grund?
    Rotifer: I don't know.
    Faithfull: Ich glaube nicht, dass es wirklich einen Grund gab. Die Leute haben sich das vielleicht so zurechtgelegt. Aber wir nahmen Drogen, weil wir wollten. Und es ist nicht wirklich lustig.
    Rotifer: Thank you very, very much.
    Faithfull: Thanks Robert, thank you!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.