Bernd Lechler: Rollendes R, martialische Ästhetik, schwere Gitarrenriffs und Koketterie mit Totalitarimus: Das sind Bestandteile des Gesamtkunstwerks Rammstein. Seit 1995 erhitzt die Band die Gemüter, und ist dabei enorm populär - bei uns und im Ausland, vor allem in den USA. Rammstein spielen gekonnt mit Widersprüchen und Provokation, das hat auch vor ein paar Wochen wieder bestens funktioniert:
Da sah man die Band im Videoteaser zur neuen Single "Deutschland" in KZ-Kleidung am Galgen stehen, und sofort entbrannte eine Diskussion, auf die wir gleich nochmal kommen, denn: Morgen erscheint das neue, unbetitelte Album von Rammstein, das erste seit zehn Jahren. Unser Kritiker Raphael Smarzoch hat es schon gehört. Herr Smarzoch, erst mal natürlich: Wie klingt’s? Nach den Vorab-Singles würde ich tippen: Im Grunde so wie immer?
Raphael Smarzoch: Genau, es gibt keine Überraschungen, was das Songwriting angeht, so viel sei an dieser Stelle schon mal verraten. Rammstein arbeiten erneut mit harten und eingängigen Gitarrenriffs und verbinden sie mit elektronischen Versatzstücken.
Ich muss sagen, dass mir die Produktion aber sehr gut gefallen hat, die wirklich mächtig ist. Ich fühlte mich beim Hören an ein Imax-Kino-Erlebnis erinnert, wo man buchstäblich vom Sound erdrückt und mit vielen Sinneseindrücken bombardiert wird.
Sprachspiele und Doppelbödigkeit
Inhaltlich werden auch keine Experimente gewagt. Es gibt die üblichen Sprachspiele, doppelten Böden und Grauzonen, in denen sich die Band seit ihrer Gründung so kunstvoll und mit viel schwarzem Humor bewegt. Es geht um Sex, Deutschland, Religion, Sadismus, Verführung, Mord – also alles bewährte Zutaten, die man aus dem Rammstein-Universum kennt.
Lechler: Mit dem erwähnten KZ-Kostüm im Video haben die sechs sich ja schon wieder für viele unmöglich gemacht, auch mit diesem skandierten "Deutschland"-Refrain - obwohl der Song ja schon mehr Facetten hat. Erwartet uns auf dem Album noch mehr so politisches Empörungspotential?
Smarzoch: Nein, eigentlich nicht. Zumindest für mich nicht. In dem Track "Ausländer" - da könnte man zumindest aufgrund des Titels vermuten, dass dieses Stück ein politisches Pulverfass sein könnte – aber da bekennt sich der Protagonist sogar zum Kosmopolitismus, also zum Weltbürgertum – allerdings typisch Rammstein auf sarkastische Weise – durch den Spiegel des Sextourismus gebrochen. Hier haben wir die Doppelbödigkeit von der ich gerade sprach.
Also, es geht erneut um das Spiel mit Ambivalenzen. Es gibt immer wieder Brüche, Unklarheiten, Ungenaues. Man wähnt sich auf der sicheren Seite und plötzlich wird einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Das hat etwas sehr Unterhaltsames. Für mich sind Rammstein einfach sehr gute Entertainer, die es schaffen, bei den Medien so etwas wie einen Pawlowschen-Hund-Reflex auszulösen und sie damit vorzuführen. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass ganze Denkstücke über den kurzen Video-Teaser zur Singleauskopplung "Deutschland" zu hören und zu lesen waren, bevor das fertige Produkt überhaupt zu sehen war.
Brachialer Diskurspop
So eine Resonanz zu erzeugen, schaffen nur wenige Bands und Künstler, mal abgesehen von einigen deutschen Rappern. Man könnte sogar sagen, dass Rammstein Diskurspop spielen, der nicht nur in pop-feuilletonistischen Nischen diskutiert wird, sondern buchstäblich überall. In den Zeitungen, aber auch sehr stark in den sozialen Medien.
Lechler: Dort konnte man besonders viele kritische Stimmen lesen, die der Band erneut eine Nähe zum Nationalismus vorwarfen. Zu Recht, würden Sie sagen? Oder sind die gar nicht so politisch, wie viele meinen?
Smarzoch: Ich denke, das ist genau die Stärke der Band. Sie gibt nichts vor. Sie sagt ihren Hörerinnen und Hörern nicht, was richtig und was falsch ist. Und genau durch diese Verweigerung und Uneindeutigkeit hinterfragen sie die Dinge. Auf diese Weise schaffen Rammstein Raum für eine lebendige Streitkultur, die unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen lässt. Das ist etwas Positives.Was mich an Rammstein aber stört, ist diese Strategie der kalkulierten Provokation. Überhaupt die Idee der Provokation als diskursstiftendes Werkzeug.
Lechler: Aber mit Provokation hat in der Kunstgeschichte doch schon viel Interessantes begonnen?
Smarzoch: Ja, das stimmmt, aber dennoch stört es mich einfach, dass Debatten heutzutage oftmals nur durch bewusste Grenzüberschreitungen angestoßen werden. Das kann man auch außerhalb der Kunst beobachten, nur bei Rammstein, sondern auch in der Politik, die sich ähnlicher Strategien bedient. Man denke an die Kevin Kühnert Sozialismus-Enteignungsdebatte oder Boris Palmers Deutsche Bahn-Entrüstung, um mal zwei aktuelle Beispiele zu nennen.
Gefangen in der eigenen Marke
Ich frage mich immer, wie könnte eine Alternative dazu aussehen? Wie könnte eine künstlerische Sprache gestaltet werden, um bei Rammstein zu bleiben, die sich jenseits von Grenzüberschreitungen bewegt und trotzdem interessante Diskurse anstößt?
Ich glaube, um das zu bewerkstelligen, müssten Rammstein einen radikalen Bruch mit sich selbst wagen.
Ich glaube, um das zu bewerkstelligen, müssten Rammstein einen radikalen Bruch mit sich selbst wagen.
Lechler: Wenn das geht. Ich fand ja in diesem Zusammenhang die zweite Vorab-Single "Radio" interessant. Da erinnert sich Sänger Till Lindemann erstaunlich nostalgisch, wie er so als Junge in der DDR Westradio gehört hat und sich davon geträumt hat. So sensibel hat er noch nie getxtet, aber die Musik muss natürlich krachen. Das Video gruseln. das passte irgendwie nicht zusammen für mich. Aber ist das überhaupt erwünscht? Die schon auch in ihrer Marke gefangen?
Smarzoch: Ja, da würde ich Ihnen tatsächlich zustimmen. Rammstein sind eine Variation des Immergleichen. Man weiß, was man bekommt, nämlich so etwas wie eine virtuose Inszenierung von Uneindeutigkeiten und Widersprüchen quer durch die deutsche Geschichte und darüber hinaus.Das ist aber schon ziemlich viel und kaum etwas, das andere Bands aus Deutschland so konsequent umsetzen können.