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Neues aus der Anstalt

"Tanzgott" Waslaw Nijinsky wurde 1920 in die Psychatrie eingewiesen. Diagnose: schwere Schizophrenie. Basierend auf seinen Aufzeichnungen beschreibt Detlev Glanerts Oper "Nijinskys Tagebuch", wie ein hochbegabtes Individuum die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn überschreitet. Nun hatte das Stück in Bregenz Premiere.

Von Wolf-Dieter Peter |
    So klang es - abseits der Seebühne - im Bregenzer Kornmarkttheater. Und dann gab es auch einen echt österreichischen Auftritt als Ausblick ins Jahr 2014. Da raunzte das österreichische Multi-Talent HK Gruber dirigierend und singschauspielernd das "Angst"-Couplet von Hanns Eisler ins Publikum des Festspielhauses – und wieder einmal passte Sozialkritik - diesmal von 1948! - schmerzlich genau ins Jahr 2012. So breit gefächert ist das Programm der Bregenzer Festspiele. Denn Intendant David Pountney belässt es nicht bei der üblichen Praxis, durch eine Uraufführung schnell mal die Fachkritik an den Bodensee zu locken, ehe sie weiter zieht, nach Bayreuth oder Salzburg oder oder… .

    Der Bregenzer Komponist dieses Jahres, Detlev Glanert, wird nach der "Solaris"-Uraufführung auch als Symphoniker und Kammermusiker vorgestellt. Im Kornmarkttheater war seine Kammeroper "Nijinskys Tagebuch" zu erleben. Aus den Aufzeichnungen des ab 1920 unheilbar geisteskranken "Tanz-Gottes" Waslaw Nijinsky hat Carolyn Sittig eine anderthalbstündige "Text-Suada" gefiltert. Komponist Glanert hat diesen "Textsturzbach" dann auf zwei auch sprechende Tänzer, zwei Schauspieler und zwei Sänger verteilt, überlagert und auch chorisch komponiert: Persönlichkeitsspaltung, Wahnvorstellungen, sexuelle Phantasien und utopische Projektionen - Hirn- und Psycho-Wust.

    Die vierzehn solistisch geführten Instrumentalisten des Symphonieorchesters Vorarlberg unter Ingo Ingensand führten alle komplexen bis komplizierten Spielarten zeitgenössischen Komponierens vor. Nur drehte sich nach 20 Minuten das Werk inhaltlich im Kreise. Gesamteindruck: Nijinskys schreckliches Scheitern ergäbe eher Bühnenstoff für eine expressiv verdichtete "Dramatische Szene", nicht für ein abendfüllendes Werk. Da konnte auch die körperbetonte Regie von Rosamund Gilmore nichts retten. Ganz anders das "Trost – und Appetit"-Konzert von HK Gruber. Da er seine Bregenzer Auftragskomposition "G’schichten aus dem Wiener Wald" erst für 2014 fertigstellen kann, tröstete er das Publikum mit einem seiner fulminanten "Show-Konzerte". Die Wiener Symphoniker trafen unter seiner Leitung den bissigen Eisler-Tonfall zum Film "Kuhle Wampe" und die "Angst"-Kantate. Die kess, sexy und keck im modernisierten "Zwanziger Jahre"-Look auftretende Gun-Brit Barkmin machte anschließend mit vier exzellenten "Familienmitgliedern" Brecht-Weills "Sieben Todsünden" zum ersten bejubelten Höhepunkt. Dann baute seine HK Gruber seine Spielzeug-Musikinstrumente auf – und bot mit den höchst animiert mitgehenden Symphonikern eine "Musik- und Bühnen-Show" der unvergesslichen Art:

    HK Grubers "Frankenstein" steigert die oft surreal, ja "hinterfotzig" verfremdeten Kinderreime H.C.Artmanns ins musikdramatisch Abstruse, Monströse – und entlarvt nebenbei alle Trivialmythen. Der fast 70-jährige HK Gruber ist dabei als Schräg-Sänger, Anti-Rezitator und Konzert-Clown des höheren Schwachsinns nicht zu übertreffen – es wurde ein Symphoniekonzert mit fünfmal Zwischen-Applaus-Gelächter-Entsetzen-Kopfschütteln-Staunen – und zwei Zugaben aufgrund allumfassenden Jubels: Bregenz bleibt das Festival der besonderen Art!