Musik: Zimmermann, "Die Soldaten"
Ein Schrei durchzieht das Orchester, dann herrscht Tumult. Denn Bernd Alois Zimmermann wirbelt Cluster-Klänge und rhythmisch vertrackte Bläser- und Streicher-Einwürfe durcheinander. Ein Klang-Wirrwarr, das schon zu Beginn seiner Oper "Die Soldaten" deutlich macht: Hier wird keine Komödie gespielt. Leichte Komödienkost ist auch das 1775 fertiggestellte Theaterstück von Jakob Michael Reinhold Lenz nicht, auf dem die Oper fußt: Das Bürgermädchen Marie will unbedingt nach oben, bandelt dafür mit Offizieren und Grafen an – wird am Ende aber tief fallen: Vergewaltigt und zur Hure abgestempelt, fristet Marie als Bettlerin ihr Dasein – bis der Vater die gefallene Tochter wieder aufnimmt.
Luftgeister der deutschen Vergangenheit
Bernd Alois Zimmermann gönnt seiner Hauptfigur noch nicht mal dieses herb-fahle "Happy End". Er, der den 2. Weltkrieg als Soldat erlebt hat, macht aus Lenz’ Theater-Vorlage eine Anti-Kriegsoper. Der russische Regisseur Vasily Barkhatov lässt im Staatstheater Wiesbaden dann auch bald eine Bombe einschlagen - oder vielmehr: einen Zeppelin.
"Das ist ein echter, elf Meter langer Zeppelin, der mit Gas gefüllt ist – wie man ihn zu Kriegszeiten hatte. Und wir projizieren zwischen den Szenen Videos auf den Zeppelin. Wir haben Luftaufnahmen vom Hessischen Staatstheater gemacht, und die Videos dann bearbeitet: Wir können von Szene zu Szene beobachten, wie das Theater durch Bombenangriffe immer mehr zerstört wird."
So wie Maries Leben: Das findet in Wiesbaden in einer Theater- im Theater-Situation statt. Das "echte" Publikum sitzt auf der Bühne und in den oberen Rängen, die Sänger agieren dafür in den Logen und im Parkett des Zuschauerraums.
"Die Opernfiguren sitzen die ganze Zeit im Zuschauerraum und schauen sich irgendeine Opernpremiere an: Wir sehen Marie und ihre Familie, ihren Verlobten Stolzius und seine Mutter, die Offiziere in einer der Logen – und sogar die Königin in der Mittel-Loge. Und zum ersten Flirt zwischen Marie und dem Baron Desportes kommt es dann während der "Opern-Pause". Dann aber beginnt der Krieg - und das Theater wird zum Militär-Lager umfunktioniert."
Vom Opernbesuch ins Feldlazarett
Soldaten montieren Bretter auf die Samtsitze im Zuschauerraum - Bretter, die ihre Welt bedeuten: Eine sinnlos brutale Welt, in der sie ein Kostümfest feiern, sich zum Spaß gegenseitig vergewaltigen. Später werden Betten hereingetragen: In einem Feldlazarett wird Marie hier verführt - von Offizier Desportes, der den Verwundeten aber nur mimt:
"Das erregt gleich Maries Mitleid – von wegen: der arme, verwundete Offizier! -, und das nutzt er aus. Und diese Szene, in der sie ihre Unschuld verliert, findet im Lazarett-Bett statt – mitten unter den Soldaten in den anderen Betten. Ähnlich wie die Situation in einem Buch von Erich Maria Remarque, wo eine Soldaten-Frau ihren verwundeten Mann besucht, der sich nicht mehr bewegen kann – und damit sie zusammen sein können, schicken sie diejenigen, die noch laufen können, hinaus. Und die anderen sollen einfach nicht hinsehen. So war das eben im Krieg. Und das ist wichtig für unsere Produktion: Sobald Krieg herrscht, wird jede Moral, jede gesellschaftliche Konvention über Bord geworfen."
Musik: Zimmermann, "Die Soldaten"
Der zerplatzte Lebenstraum
Ähnlich wie bei Zimmermann, der in seiner Musik sämtliche Regeln der traditionellen Opernform über Bord wirft. Zimmermann schreibt keine klassische Handlungs-Oper mehr, sondern eine Situations-Oper der inneren Befindlichkeiten. Hier laufen Szenen auch mal simultan ab – worauf Vasily Barkhatov allerdings verzichtet, indem er sie im Zuschauerraum per Spotlight nacheinander "aufruft". Oder eigene Deutungen hinzufügt: So werden hier am Ende auch die Gräfin de la Roche und ihr Sohn vergewaltigt – bildhaft für Maries zerplatzten Traum von einem besseren Leben.
Musik: Zimmermann, "Die Soldaten"
Nicht nur für die Sänger sind Zimmermanns oft extrem hoch gesetzte Partien eine Herausforderung. Auch das Mammut-Orchester aus hundert Musikern muss sich hier durcharbeiten durch eine komplexe Klang-Collage aus 12-Ton-Technik und weiteren seriellen Strukturen, vereinzelten Zitaten von Bach, Jazzmusik oder einem "Dies Irae" - das alles teilweise in Schichten übereinander gelagert. Allein wäre das für den Wiesbadener Generalmusikdirektor Zsolt Hamar nicht zu bewältigen:
"Denn es gibt ein paar Stellen, wo drei, vier, fünf verschiedene Musiken in bis zu fünf verschiedenen Tempi gleichzeitig ablaufen. Und das funktioniert natürlich nicht mit nur einem Dirigenten. Wir spielen das Stück daher mit zwei Dirigenten: Mein Kollege Benjamin Schneider dirigiert im Orchester-Proberaum, wo ein Teil des Orchesters sitzt, weil unser Orchester-Graben im Theatersaal nicht groß genug für alle ist. Sonst aber werde ich alles allein dirigieren."
Der Widerspenstigen Zähmung
Per Videokamera und Monitor korrespondieren die Dirigenten miteinander. Und das gelingt hervorragend – zumal sie Rückhalt haben bei dem flexiblen, glänzend aufgelegten Hessischen Staatsorchester Wiesbaden. Auch die Sängerriege ist exzellent besetzt: hervorzuheben die grandiose Sänger-Schauspielerin Gloria Rehm als Marie zwischen Backfisch und Kokotte, die wunderbare Sharon Kampton als Gräfin de la Roche zwischen Snob und Muttertier – und Pavel Daniluk als galant-grausamer Doppelmoralist Desportes. So gelingt in Wiesbaden ein Opern-Abend, der an die Nieren geht.
Musik: Zimmermann, "Die Soldaten"