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Neues Buch über Karajan
Kein Nazi, aber ein opportunistischer Mitläufer

Herbert von Karajan zählt zu den bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, doch ist seine Karriere von seiner Nähe zu den Nationalsozialisten überschattet. Der Autor Klaus Riehle hat eine Fülle bisher unbekannter Dokumente vorgelegt - die Karajan in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Von Dieter David Scholz |
    Herbert von Karajan im Jahr 1966 in Prag
    Herbert von Karajan im Jahr 1966 in Prag (imago/CTK Photo Austrian )
    Hat sich Herbert von Karajan mit den Nazis nur arrangiert oder spielte er eine aktive Rolle im Nazisystem? Bereits Fred Prieberg [*] hat in seinem 1982 erschienenen Buch "Musik im NS-Staat" erstmals die Frage aufgeworfen, die bis heute im Raum steht: Die meisten Karajan-Biografien äußern sich zum Verhalten Karajans im Dritten Reich unscharf wo nicht ausweichend. Klaus Riehle, Jahrgang 1963 und studierter Islamwissenschaftler, bezieht hingegen eindeutig Stellung und nimmt kein Blatt vor den Mund. In seinem neusten, mehr als 600-seitigen Buch, legt er eine so überwältigende wie verblüffende Fülle bisher unbekannter, aufschlussreicher Dokumente vor, die "Das Wunder Karajan", von dem man im Berlin der 30er-Jahre sprach, in neuem Licht erscheinen lassen. Bisher blieb nämlich seine tatsächliche politische Rolle bisher immer noch weitgehend undurchsichtig, da er nach dem Zweiten Weltkrieg alles tat, um Spuren zu verwischen und Erinnerungen vergessen zu machen. Der kritische Karajan-Biograf Oliver Rathkolb zitierte einst ein Interview Karajans, der angeblich gestand:
    "Die NSDAP-Mitgliedschaft sei für ihn wie die Mitgliedschaft beim Alpenverein gewesen, damit man billig in einer Hütte übernachten kann."
    Spionage-Tätigkeit von Karajan?
    Klaus Riehle hat jetzt allerdings Dokumente zutage gefördert, die ein etwas anderes Licht auf Herbert von Karajan werfen. Der brisanteste Dokumentenfund Riehles lässt eine Spionage-Tätigkeit des Stardirigenten vermuten.
    "In der ersten Sitzung des Allied Denazification Bureau erklärte der britische Vertreter überraschend, dass in einem erbeuteten Index Karajan als Sicherheitsdienstagent Aachen, datiert 1943, geführt worden sei."
    Hat Karajan, zumal auf seinen vielen Tourneen Kollegen ausspioniert? Eindeutige Beweise liefert Riehle zwar nicht, aber seine Indizienfülle ist erdrückend. Karajans Nähe zu hohen SS-Führern und seine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP sprechen für sich.
    Sehr detailliert dokumentiert Riehle Karajans Verhalten gegenüber seiner unehelichen Tochter Ute Heuser in dem von ihr angestrengten Vaterschaftsprozess. Ein undurchsichtiger Prozess, in dem es Karajan gelungen ist, sich bis zu seinem Tod einem Vaterschaftstest zu entziehen. Bei Nacht und Nebel wurde er in seinem Wohnort Anif beigesetzt, nur 33 Stunden nach seinem Tod. Riehle deutet an, dass man womöglich einer gerichtlich angeordneten Entnahme von Gewebsproben zuvorkommen wollte. Aber auch Karajans Behauptung, er sei nie bei der Wehrmacht gewesen, wird von Riehle hinterfragt. Er hat die Liste der Wehrmachtsgagen des Berliner Admiralspalastes 1943/44 gefunden, in der Karajan geführt wurde. Außerdem zitiert er er eine Reihe von Zeitzeugen die ihn in Wehrmachtsuniform gesehen haben wollen, darunter auch seine Ehefrau:
    "Denn dass Herbert von Karajan der Wehrmacht – auch wenn wohl nur für einen kürzeren Zeitraum – angehörte, bestätigen die Aussagen von Anita von Karajan."
    Bewundernswerte Fleißarbeit des Autors
    Riehle hat Bibliotheken durchforstet und sich durch Archive gewühlt. Sein Buch ist eine bewundernswerte Fleißarbeit. Die schiere Dokumentenflut des Werkes ist beeindruckend. Je mehr man in dem Buch liest, desto unappetitlicher wird allerdings die Einsicht in die mutmaßlichen Verstrickungen Herbert von Karajans in das Geflecht des Nazisystems.
    "Je weiter man sich in die Materie vertieft, desto mehr dringt man in dieses fast undurchschaubare Geflecht ein. Karajan ist sicher nicht der einzige Beelzebub, vielmehr muss man ihn als Teil des gesamten Geflechts betrachten."
    Riehle betont zwar, dass Karajan wohl kein überzeugter Nazi war. Aber, und das ist nicht weniger unmoralisch, Karajan sei ein aktiver und opportunistischer Mitläufer gewesen und habe jeden hochkarätigen Nazikontakt, der ihm in seinem Karriere- und Machtstreben dienlich war, schamlos genutzt. Er verdankte seine Karriere mehr als er später zugeben wollte, dem sogenannten tausendjährigen Reich, so belegt das Buch Riehles. Das Wunder, dass er nach 1945 alle Informationen über sich und seine Vergangenheit betreffend, kontrollierte und manipulierte. In einem doppelsinnigen, späten Interview hat er einmal bekannt:
    Karajan: "Mein Ideal ist, jetzt sage ich ein Paradox, omnipräsent zu sein, und man sieht mich eigentlich doch nicht."
    Die Angst vor der Aufdeckung seiner Vergangenheit beherrschte Herbert von Karajan bis zu seinem Tod. Ähnlich ging es der ebenfalls von NS-Verstrickungen nicht freien Sängerin Elisabeth Schwarzkopf, mit der Herbert von Karajan in legendären Produktionen zusammenarbeitete. Ironie des Lebens, was die "Grande Dame des Deutschen Gesangs" mir einmal in einem Interview zum Fall Karajan gestand:
    Schwarzkopf: "Ein Fall, der ganz falsch immer berichtet worden ist, und den ich eigentlich nicht berichtigen will, weil er so schrecklich ist, dass ich es gar nicht veröffentlichen kann. Also das nein: Ich möchte diesen Eindruck nicht so vernichten, wie er eigentlich von mir her, wenn ich in dem Fall die Wahrheit sagen würde, die Leute wenigstens zum sich Wundern bringen würde, und das will ich nicht, weil er ein so großer Musiker war."
    Lügengebäude wird zum Einsturz gebracht
    Klaus Riehle will Herbert von Karajan keineswegs vernichten. Aber er bringt das Lügengebäude jener widersprüchlichen, teils falschen, teils verweigerten Aussagen Karajans gegenüber späteren Nachfragen zum Einsturz.
    Auch wenn er sich zuweilen einer sehr saloppen Sprache bedient und Schlüsse zieht, die vielleicht nicht in jedem Fall zwingend sind, kommt an diesem Buch nicht vorbei, wer sich ernsthaft für Herbert von Karajan interessiert. Allein seine Quellensammlung ist konkurrenzlos. Nach der Lektüre dieses Buches hält man einmal mehr Elisabeth Schwarzkopfs Behauptung, Musik sei eine heilige Kunst, für fragwürdig.
    [* Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version war der Name des Buchautors falsch wiedergegeben.]