Verschwinden ist schlimmer als sterben. Zumindest aus Sicht von denen, die zurückbleiben. Denn wer stirbt, den verabschieden wir für immer. Das wenigstens ist gewiss. Wer aber nicht stirbt, sondern einfach spurlos verschwindet, der ist für seine Freunde weder tot noch lebendig. Wer vermisst wird, schwebt in einem Zwischenraum. Niemand kann sagen, ob man sich wiedersieht. Niemand kann wissen, ob sich die Hoffnung lohnt. Die Unsicherheit ist quälender als der Verlust. Von dieser Unsicherheit, von Kontingenz und Chaos handelt Nina Bußmanns zweiter Roman "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen".
Eine junge Soziologin erhält die Nachricht, dass ihrer Freundin Nelly vermisst wird. Nelly, eine ehrgeizige Seismologin, befand sich gerade auf einem Forschungsaufenthalt in Nicaragua. An einem wolkenlosen Tag verschwindet ihre Propellermaschine während einer Spritztour ohne erkennbaren Grund vom Radar. Einige Trümmerteile des Flugzeugs können geborgen werden. Von der Leiche jedoch fehlt jede Spur.
Sofort reist die Ich-Erzählerin nach Nicaragua, um nach der Freundin zu suchen. Denn für sie es ist keine Option, einen banalen Unfalltod zu akzeptieren. Schließlich hatte sich Nelly schon vor ihrem Verschwinden aus dem Leben zurückgezogen. Ihre Rückkehr nach Deutschland hatte sie immer weiter hinausgezögert. Von Einheimischen hatte sie sich das Land zeigen lassen und mit pubertären Sinnfragen gehadert. Sogar ihre Forschung sogar hatte sie aufgeben wollen. Für die Freundin steht damit fest: Wer verschwindet, will gesucht werden. Der Flugzeugabstoß war bloß inszeniert.
Auf der Suche nach Hinweisen, die ihre Theorie bestätigen, durchforstet die Freundin alte Vermisstenfälle und Nellys Forschungsaufzeichnungen. Sie befragt Kollegen, Bekannte und sucht Orte auf, an denen Nelly gewesen ist. Dabei hätte man von einer Person, die gerade am renommierten Frankfurter Institut für Soziologie promoviert wurde, eigentlich einen systematischen Zugriff erwartet. Doch bei der Suche nach der Freundin versagen die wissenschaftlichen Methoden der Erzählerin. Die Suche nach Nelly wird zum planlosen Herumstochern.
Zitat: "Fetzen zusammensuchen. Ich hatte gehofft, mir einen Reim zu machen auf das Leben, das Nelly geführt hatte, die Person, die sie gewesen war. Alles, was ich tat, war, Stückelchen zusammenzutragen, Landschaften zu betrachten und eine Stadtarchitektur, die diese Unfähigkeit widerspiegelte, die Übersicht zu behalten, größere Zusammenhänge zu planen. Wie man eben baut, wenn man alles, was zur Hand ist, aber eben auch nur das, sofort einbastelt in immer neue Provisorien."
Jede Nebenfigur versieht die Autorin mit einem dunklen Geheimnis
Diese obsessive Suche nach der verschollenen Freundin zeigt sich schnell als Flucht vor einem eigenen problembehafteten Leben und vor einer eigenen gescheiterten akademischen Karriere. Nina Bußmann lässt ihren Roman ganz dem Innenleben ihrer Ich-Erzählerin entwachsen. Deren konfuse Suche spiegelt sich auch in der Romanstruktur wider. Achronologisch verketten sich Erfahrungen, Erinnerungen und Zitate. Dabei legt Nina Bußmann in jedes Detail ihres fragmentierten Romans einen verborgenen Kosmos. Sie deutet an statt auszuerzählen. Jede Nebenfigur versieht die Autorin mit einem dunklen Geheimnis, von denen sie manche nie lüftet.
Den Handlungsort Nicaragua umweht ein leiser Pesthauch europäischer Sehnsuchtssolidarität. Postkolonialistische Diskurse durchwirken die Figurenkonstellation. Von der Erzählerin erfahren wir im Laufe des Romans mehr über Nelly. Ihre linksintellektuelle Mutter, die selbst in Nicaragua Entwicklungshilfe geleistet hat, war Nelly immer höchst peinlich. Als kühle Seismologin glaubte sie an Wissenschaft und an sonst nichts. Indem sie Plattentektonik und Magnetfelder erforschte, erklärte sie sich die Erde.
Sogar ein Kind soll adoptiert werden
Doch kurz vor ihrem Verschwinden schreibt Nelly an ihre Mutter, dass sie sich von der theoretischen Forschung abwenden wolle, um sich in Nicaragua politisch zu engagieren. Sogar ein Kind soll adoptiert werden. Was auch immer Nellys rationalistisches Weltbild in Nicaragua erodiert hat, bricht auch über den Rest der Welt herein. Wenn ausgerechnet eine Seismologin mit einem Ingenieur im Flugzeug abstürzt und auf mysteriöse Weise spurlos verschwindet, sind bereits Wissenschaft und Technik in der Krise.
An "Homo faber" erinnert der Roman. Nur treibt Bußmann die Kontingenz noch einen Schritt weiter. Während Max Frisch das Versagen der Technik in einer nüchternen Sprache nachvollziehbar schildert, scheitert bei Bußmann auch die Narration. Die Ich-Erzählerin beherrscht in ihrer Funktion eigentlich Raum, Zeit und Logik des Erzählten. Doch anders als in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts kommt bei Bußmann nicht einfach der fremde Erzähler in die Welt und kehrt nach Schilderung der Ereignisse wieder in die vertraute Heimat zurück. Hilflos gibt Bußmanns Erzählerin in dem fremden Land jede Hoffnung auf, das Verschwinden ihrer Freundin jemals rational erklären oder nachvollziehbar erzählen zu können.
Zitat: "Ich wäre die letzte, die sich eignet, unfähig, selbst den einfachsten Krimihandlungen zu folgen, viel zu leicht verlor ich mich in nebensächlichen Details, ich interessierte mich für dunkle Taten, aber nicht für die Aufklärung ihrer Motive, ich glaubte nicht einmal an Motive, die zwingend und eindeutig zu einer ganze bestimmten Handlung führten."
Um sich greifender innerakademischer Antiakademismus
Doch nicht nur die Logik steckt in Bußmanns Roman in der Krise. Auch die Institution des Wissens, die Universität ist zerrüttet. Genauso wie Nelly wendet sich auch die Erzählerin von der Wissenschaft ab. Nach ihrer Promotion arbeitet die Soziologin bei der Schülerhilfe. Ihre Dissertation zur Einnahme leistungssteigernder Medikamente lässt sich dabei auf ein reales Vorbild, eine tatsächlich in Frankfurt entstandene und erst vor wenigen Wochen im Campus Verlag publizierte Doktorarbeit zurückführen.
Überhaupt beweist Bußmann, dass sie sich recht gut auskennt im deutschen Universitätswesen und speziell an der Frankfurt Goethe-Universität. Wenn die Autorin geistesgegenwärtig beobachtet, wie sich eine ganze Universität von einem studentisch geprägten Campus in ein prunkvolles Gebäude mit bewachter Rasenfläche zurückzieht, enttarnt sie einen akut um sich greifenden innerakademischen Antiakademismus. Und indem Bußmann ihre Erzählerin auf dem verlassenen, bereits von Studenten und Obdachlosen annektierten Campus Bockenheim zurücklässt, in einem ausgeräumten Büro mit nichts als einem Plakat des berühmten Frankfurter Exzellenzclusters "Normative Ordnungen", dann findet sie das wohl herrlichste Symbolbild dafür, was von der Frankfurter Schule heute übriggeblieben ist.
Nina Bußmann schreibt mit "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen" nicht jenen neuen deutschsprachigen Campus-Roman, den der Feuilleton-Redakteur Jan Wiele vor wenigen Wochen in der FAZ noch so schmerzlich vermisst hat. Sie schreibt auch keinen Kriminalroman über ein verschollenes Flugzeug und kein Psychogramm einer ambivalenten Frauenfreundschaft. Nina Bußmann schreibt etwas viel Anstrengenderes, aber auch etwas viel Größeres. Sie schreibt einen Roman darüber, wie die Kontingenz in ein geordnetes Weltbild und in das sukzessive Erzählen hereinbricht. Das kann man mühselig finden. Aber wenn man die Unsicherheit aushält und seiner Neugierde freilässt, dann kann das Ganze auch ein intellektueller Spaß sein.
Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen
Suhrkamp Verlag, Berlin
329 Seiten, 22 Euro
Suhrkamp Verlag, Berlin
329 Seiten, 22 Euro